In diesen Frühlingswochen wird die Bürgerschaft der US-Großstadt Isola durch eine Mordserie erschüttert: Ein Scharfschütze erschießt mit seinem Präzisionsgewehr offenbar wahllos Menschen. Die Beamten Steve Carella und Meyer Meyer vom 87. Polizeirevier, denen der Fall übertragen wird, können trotz intensiver Ermittlungen keine Gemeinsamkeiten zwischen den Opfern erkennen.
Der Druck auf die Polizisten steigt mit der Zahl der Leichen. Panik greift um sich, denn der Täter mordet unerbittlich weiter und bleibt dabei unsichtbar. Erst der Zufall zeigt den Zusammenhang: Alle Opfer wirkten vor vielen Jahren in einer College-Theateraufführung mit. Dass diese bizarre Tatsache der Schlüssel zum Geschehen ist, wird den Beamen bewusst, als weitere Darsteller sterben, bevor sie ausfindig gemacht werden können.
Die Besetzungsliste des damals gespielten Stücks gibt die Zahl der möglichen Opfer vor: Zehn Namen umfasst sie, und es ist gut möglich, dass der Mörder zu diesen Männern und Frauen gehört. Carella und sein inzwischen stark erweitertes Team können und wollen nicht abwarten, wer die Todesserie überlebt und sich als Täter ‚outet‘, sondern die verbliebenen Ex-Darsteller retten und den Schützen schnappen – eine enorme Herausforderung, denn die potenziellen Opfer wirken fast vorsätzlich unverdächtig; ein Motiv und damit eine Erklärung für die Morde will sich nicht erkennen lassen …
Der „Sniper“ – eine zwielichtige Figur
Seit es Schusswaffen gibt, haben Scharfschützen („sniper“) an kriegerischen Auseinandersetzungen teilgenommen: zielstarke Männer, die ihre Waffe so gut beherrschen, dass sie auf große Entfernung möglichst viele Feinde töten, den Gegner so schwächen und für kampfkraftzersetzende Panik sorgen. Sie werden gefürchtet und gehasst, selbst den eigenen Kameraden sind sie unheimlich, denn sie kämpfen nicht, sondern töten ausdrücklich aus dem Hinterhalt.
Es ist eine erschreckende Vorstellung, dass entsprechend ausgebildete Schützen ihre ‚Arbeit‘ im Zivilleben wieder aufnehmen. Sie wären dort sogar noch gefährlicher, denn anders als im Krieg rechnen ihre Opfer nicht damit, aus dem Nichts aufs Korn genommen zu werden. Zum effizienten Morden kommt die Fähigkeit des Snipers, sich vorzüglich zu tarnen und nach dem Schuss unauffällig zu verschwinden. Das ist Teil seiner Ausbildung, die ihn zum Albtraum jedes Polizisten macht, der quasi einen Schatten jagen muss.
Doch auch der selbst ernannte Sniper ist eine Schreckensgestalt. Mit einer modernen Waffe, einem Hightech-Zielfernrohr und durchschlagender Munition kann sich jede/r in einen Scharfschützen verwandeln. Die Attraktivität des Snipers als Figur im Kriminalroman und/oder Thriller liegt neben seiner scheinbar übernatürlichen Unsichtbarkeit in seinem Charakter: Wer aus der Ferne Serienmord begeht, muss gefährlich (und) irrsinnig sein.
Fahndung als Wettlauf mit dem Tod
Die Suche nach der mordenden Nadel im Heuhaufen ist verständlicherweise ein dankbarer Plot. Üblicherweise wird er actionreich umgesetzt; die Entfernung wird zum Element der Handlung – der Polizist muss sie möglichst rasch zurücklegen, um den Ursprung des Bösen, den Sniper, zu erreichen. Das geht selten zu Fuß, sondern per Auto, Motorrad oder Helikopter aber auf jeden Fall mit Höchstgeschwindigkeit.
Die Realität sieht anders aus. Der kontrollierte Scharfschütze ist ein furchtbarer Gegner, denn letztlich muss man darauf hoffen, dass er Fehler begeht und Spuren hinterlässt, die ihn verraten. Bis das geschieht, werden Menschen ihr Leben verlieren, denn schlampen kann der Sniper nur, wenn er ‚arbeitet‘. Das ist ein Faktor, der als dramaturgisches Mittel gern eingesetzt wird – der brave Held wird von ungeduldigen Politikern, der blutgeilen Presse und der ängstlichen Öffentlichkeit bedrängt -, ohne indes in seiner eigentlichen Bedeutung gewürdigt zu werden.
Ed McBain stellt die Probleme einer Fahndung ohne Täterprofil in den Vordergrund. Die Morde werden, obwohl reich an der Zahl, nach heutigen Maßstäben dezent geschildert, manchmal sogar nur erwähnt. Viel wichtiger als das Schwelgen in blutigen Details sind für McBain die Schrecken, die den Taten folgen: Angst und Schrecken, Hilflosigkeit und Ratlosigkeit, Entsetzen und Zorn der Familien und Freunde der Opfer. Jedem widmet McBain eine knappe aber aussagekräftige Biografie. Aus Zielen, die der Sniper anvisiert, werden wieder Menschen.
Der Weg des Gesetzes: steil & steinig
McBains Polizisten des 87. Reviers waren niemals Helden ohne Fehl und Tadel, sondern Profis, die einen harten Job leisten, der sie manchmal überfordert. Trotzdem machen sie weiter – hartnäckig und in dem Wissen, dass ihr Spezialwissen und die Zeit für sie arbeiten. Auch in diesem Fall (dem 17. der Serie) bringen endlose Befragungen und Untersuchungen den Durchbruch. Der Originaltitel „Ten Plus One“ deutet die Auflösung bereits an.
Bis es soweit ist, zeigen die Beamten Nerven. Wo kein Täter ist, den man verantwortlich machen kann, schlägt man stellvertretend auf die Polizei ein, die ‚versagt‘ hat. Viele Buchseiten füllt McBain mit den schmerzerfüllten, oft irrationalen Reaktionen der Betroffenen; eine bedrückende Lektüre, da der Verfasser weder wertet noch sich in Sentimentalitäten wälzt sondern sachlich beschreibt.
Selbst Steve Carella, sonst die Ruhe selbst, bekommt einen Wutanfall, als ein Kollege den entscheidenden Hinweis versehentlich unbeachtet lässt. Anderenorts kommt es zu schlimmen Exzessen: Verdächtige werden fälschlich beschuldigt, unter Brechung des Rechts verhört und geschlagen: Der „dritte Grad“ war Anfang der 1960er Jahre zwar schon verboten aber noch etablierter Teil der Polizei-‚Arbeit‘ (und ist es womöglich noch).
Undank ist menschlich
Dass Angst die Menschen im Kampf gegen ihren Verursacher eint, ist ein Mythos, den McBain drastisch aber gern schwarzhumorig entlarvt. Isola ist eine Millionenstadt, der Sniper schießt bei Tageslicht. Trotzdem sieht und hört ihn niemand. Bei intensiver Nachfrage erfahren die (längst illusionsfreien) Polizisten in der Regel, dass ihn niemand sehen und hören wollte. In der großen Stadt lebt man neben- statt miteinander. Niemand möchte „hineingezogen“ werden. Echtes Aufsehen erregt die Mordserie erst, nachdem ein prominenter Zeitgenosse niedergestreckt wurde. Für einen toten Obsthändler oder gar eine Prostituierte – ebenfalls unter den Opfern – läuft auch der Polizeiapparat mit Normalgeschwindigkeit weiter.
Der Kreis derer, die auf Sühne hoffen und auf die Festnahme des Täters warten, ist kleiner als erwartet; er umschließt nicht einmal die kleine Runde der Betroffenen. Ein mögliches Opfer ist Schauspielerin und genießt die Prominenz, die ihr der Sniper beschert. Die rollige Tochter eines ermordeten Familienvaters bedrängt Steve Carella mit eindeutigen Avancen. Manchmal geht McBain ein wenig zu didaktisch vor, doch man begreift, was er verdeutlichen möchte: Die Welt ist nicht schwarzweiß, sondern grau. Erstaunlich, wie unterhaltsam auch nüchterne Wahrheiten wirken, wenn sie ein guter Autor in Worte fasst.
„Neun im Fadenkreuz“ – der Film
McBains Roman wurde 1971 Drehbuchvorlage für den französischen Film „Sans mobile apparent”. Regisseur und Co-Autor Philippe Labro verlegte die Handlung an die französische Riviera in die Stadt Nizza und ließ Jean-Louis Trintignant als „Stéphane Carella“ auf Mörderjagd gehen. Der routiniert und gekonnt in Szene gesetzte Film (mit der Musik von Ennio Morricone) gehört zu den (B-Movie-) Klassikern des (französischen) Kriminalfilms und hat nichts von seiner Spannung verloren.
Autor
Ed McBain wurde als Salvatore Albert Lombino am 15. Oktober 1926 geboren. Dies war in den USA in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kein Name, der einem ehrgeizigen Nachwuchsschriftsteller hilfreich gewesen wäre. Also ‚amerikanisierte‘ sich Lombino 1952 zu Evan Hunter und schrieb Literatur mit Botschaft und Anspruch, darüber hinaus Kinderbücher und Drehbücher.
Da sich der Erfolg in Grenzen hielt, wählte Vollprofi Hunter ein neues Pseudonym und verfasste als „Ed McBain“ den ersten der von Anfang an als Serie konzipierten Kriminalromane um das 87. Polizeirevier. Schnelles Geld sollten sie bringen und ohne großen Aufwand zu recherchieren sein. Deshalb ist Isola mehr oder weniger das Spiegelbild von New York, wo Lombino im italienischen Ghetto East Harlems groß wurde. Aber Hunter bzw. McBain kochte nicht alte Erfolgsrezepte auf Er schuf ein neues Konzept, ließ realistisch gezeichnete Polizisten im Team auf ‚echten‘ Straßen ihren Job erledigen. Das „police procedural“ hat er nicht erfunden aber entscheidend geprägt.
1956 erschien „Cop Hater“ (dt. „Polizisten leben gefährlich“). Schnell kam der Erfolg, es folgten bis 2005 54 weitere Folgen dieser Serie, der McBain niemals überdrüssig wurde, obwohl er weiter als Evan Hunter publizierte und als McBain die 13-teilige Serie um den Anwalt Matthew Hope verfasste. Mehr als 100 Romane umfasste das Gesamtwerk schließlich – solides Handwerk, oft genug Überdurchschnittliches, geradlinig und gern fast dokumentarisch in Szene gesetzt, immer lesenswert –, als der Verfasser am 6. Juli 2005 einem Krebsleiden erlag.
Taschenbuch: 123 Seiten
Originaltitel: Ten Plus One (New York : Simon and Schuster 1963)
Übersetzung: Gerda von Uslar
http://www.ullsteinbuchverlage.de
Der Autor vergibt: