Friedel Wahren / Erik Simon (Hg.) – Tolkiens Erbe – Elfen, Trolle, Weltenschöpfer

Fantasymenü: Licht und Schatten nah beieinander

Im Jahr 2001, als diese Fantasy-Anthologie entstand, erschien Tolkien in Sachen Fantasy als das Maß aller Dinge. Kein Wunder: Die Verfilmung durch Peter Jackson brach alle Kassenrekorde und löste einen erneuten Fantasy-Boom aus. (Der letzte lag schon 20 Jahre zurück.) Jeder Verlag, der etwas auf sich hielt, hängte sich an den mit Volldampf fahrenden Fantasy-Zug. Die vorliegende Sammlung unterscheidet sich von den meisten ihrer Art durch ihre Sachkenntnis und die Respektlosigkeit der neueren Autoren gegenüber den Vorvätern des Genres. Zudem bietet sie Gelegenheit, zwei Wegbereiter Tolkiens kennen zu lernen: E. R. Eddison und Lord Dunsany.

Die Herausgeber

Friedel Wahren arbeitete mehrere Jahre als Fantasylektorin im |Heyne|-Verlag, wechselte dann zum Münchner |Piper|-Verlag und bekam dort die von |Heyne| angekaufte Fantasyreihe übertragen.

Erik Simon, geboren 1950 in Dresden, las schon mit zehn Jahren Phantastik, als Physikstudent schrieb er die ersten Erzählungen. Nach seiner Mitgliedschaft in einem SF-Klub zu Stanislaw Lem wurde er Verlagslektor. Er hat mehrere Storybände veröffentlicht und arbeitete häufig für den |Heyne|-Verlag als Lektor, Übersetzer und Herausgeber.

Die Erzählungen

1) Lord Dunsany: Die Zwingburg so keiner bezwingt denn Sacnoth das Schwert (1908)

Die braven Dorfbewohner von Allathurion, das am großen Wald liegt, werden neuerdings des Nachts von üblen Träumen geplagt, Träumen, die von den „aschenen Weiten der Hölle“ erzählen. Entweder schlafen sie schlecht oder gar nicht. Doch wer sendet ihnen diese Träume Satans? Ihr Zaubermeister findet nach langem Suchen die Antwort: Es ist der Hexenmeister Gaznak. Doch Gaznak sei unbesiegbar, außer durch eine einzige Waffe: das Schwert Sacnoth. Allerdings stecke dieses im Rücken des metallenen Drachen Tharagaverrug, der unverwundbar sei.

Mit einem Trick gelingt es dem Freiwilligen Leothric, dem Sohn des Dorfvorstehers, das Schwert zu beschaffen und in den Griff der speziell geschärften Klinge eines der Augen des Drachen einzusetzen. Dieses magische Auge warnt ihn vor unterschiedlichen Gefahren.

Auf diese Weise bewaffnet, begibt sich Leothric zur Zwingburg Gaznaks, die sich bis zu den Sternen erhebt. Einzig sein Schwert Sacnoth, wie es die Prophezeiung besagt, ist in der Lage, alle Hindernisse zu beseitigen und den Weg bis zu Gaznak freizuschlagen. Und was für Gezücht da den Weg verlegt: verschlagene Drachen, Riesenspinnen, Vampire, Wölfe und wunderschöne Weiber mit Augen aus Feuer. Doch niemand widersteht Sacnoth, dem Schwert, und dem eisernen Willen seines Trägers. Niemand außer Gaznak selbst, dessen eigenes Schwert in puncto Stärke Sacnoth in nichts nachsteht …

Wie schon an der Überschrift abzulesen ist, liest sich die ganze Story wie ein mittelalterlicher biblisch-heroischer Legendentext. Die sehr symbolische und doch anschauliche Erzählung ist im getragenen und rhythmischen Tonfall des 16. oder 17. Jahrhunderts, insbesondere der James-Bibel gehalten. Diesem Stil ist – auch in der Übersetzung – der Rhythmus der Sätze angepasst, so dass es von Zusammenziehungen wie „Dämm’rung“ oder „finster war’s“ nur so wimmelt. so dass man die volle kosmische Bedeutung dieses Zweikampfes zwischen Gut und Böse erfasst. Kein Wunder, dass sich H.P. Lovecraft davon inspirieren ließ. Es sind einige bahnbrechende Vorstellungen darin versteckt, so etwa jene, dass Gaznak, der Träumer der Hölle, auf einem Kometen aus den Tiefen des Alls gekommen sei. Er könnte somit einer der Großen Alten sein, die bei HPL für so viel Ungemach sorgen.

2) E. R. Eddison: Zora Rach nam Psarrion (1922, aus „Der Wurm Ouroboros“,28. Kapitel)

Krieg herrscht in den vier Landen um das grüne Zimiamvia. Um die Oberhand gegen den König des Hexenlandes zu gewinnen, schickt Königin Sophinisba von Dämonenland ihren Lord Juss auf eine gefahrvolle Mission. Er soll seinen Bruder Lord Goldry Bluszco von den Spitze des Berges der Toten holen, auf dass er erlöst werden könne und sich ihrem Heer anschließe.

Mit einem Flugross gelangt Lord Juss weit nach Westen auf den vereisten Hang des Zora Rach. Der Aufstieg ist entsprechend beschwerlich, doch schlimmer noch sind die vielen Versuchungen, die sich Juss in den Weg legen. Sie sind Verkörperungen von Grauen, Mitleid, Ehre und sogar körperlicher Lust (eine schöne nackte Frau natürlich). Da es ihm nicht gelingt, den erstarrten, tot geglaubten Goldry zu erwecken, schleppt sich Juss bis hinunter zu den Enden des Gletschers und weiter bis zur Königin. Diese heilt den aufgetauten Goldry mit einem Kuss.

Obwohl die Erzählung in Mittelerde spielt, so hat sie doch nicht mit Tolkiens gleichnamiger Welt gemeinsam. „Mittelerde“ ist eine Bezeichnung aus der nordischen Mythologie. Und Eddisons Menschenwelt hat nichts mit den Vorgaben einer bestimmten Religion zu tun. Wie die allegorischen Versuchungen Lord Juss’ zeigen, greift der Autor vielmehr auf mittelalterliche Versepen zurück, die allgemein die Tugenden eines christlichen Ritters lobpreisen. Der kurze Text verrät, wie stilisiert und heroisiert die Figuren Eddisons fühlen, reden und agieren. Mein Geschmack ist das nicht gerade.

3) Stephen R. Donaldson: Tochter der Könige (1984, ca. 130 Seiten)

Es geht um eine Staatsaffäre, und entsprechend majestätisch sind die Sprache und der Erzählstil. Der Regent über die drei Königreiche ist tot, es lebe die neue Regentin! Leider gibt es, bevor es dazu kommen kann, ein kleines Problem. Die junge Königin in spe Chrysalis (= Schmetterlingspuppe) muss bei ihrer Thronbesteigung, nein, |durch| die Thronbesteigung beweisen, dass sie Macht über die Magie der Realien besitzt.

Jedes Oberhaupt der drei Königreiche bezweifelt natürlich, dass die junge Dame dazu in der Lage ist, die Magie des Throns zu beherrschen. Insgeheim hoffen sie selbst, auf eben diesen Thron zu gelangen und intrigieren fleißig, u. a. mit einem von ihnen finanzierten Rebellenpack, das die Unfähigkeit des Regenten belegen soll. Doch Chrysalis hat von ihrem Ziehvater, dem Lordmagier Ryzel, nicht umsonst ein paar Kniffe und Ratschläge gezeigt bekommen, wie sie sich durchsetzen kann.

Allerdings hatte ihr Vater sie vor seinem Tod auch davor gewarnt, einem mächtigen Mann wie Ryzel zu vertrauen. Denn Macht korrumpiert schließlich jeden.–

Ich fand diese Novelle unglaublich zäh zu lesen. Die Gedanken und Argumente sind derart verwickelt, dass es keinerlei Spaß, sondern vielmehr eine Menge Mühe macht, dem Gang der Erzählung zu folgen. Rückblenden schreckten mich ebenso ab wie der gestelzte Ton, in dem der Autor erzählt – allenfalls aus dem Blickwinkel der erzählenden Prinzessin zu akzeptieren. Der Übersetzer setzt diesen geschraubten Stil sehr genau um, so dass man sich sofort im 14. Jahrhundert wähnt. Doch so mancher Fantasyfreund der jüngsten Generation dürfte sich daran die Zähne ausbeißen.

Mein Empfehlung daher: Diese Novelle unbedingt erst am Schluss lesen, wenn überhaupt.

4) Jack Vance: Liane der Wanderer (1950, aus „Die sterbende Erde“)

Liane ist ein gar kecker Bursche und sehr von sich überzeugt. Er wandert durch den Wald, bringt einen Gewürzhändler um, findet in dessen Grab einen Zauberring und vernimmt von einem Libellenpiloten, dass in den Thamberauen eine goldene Hexe lebe. Flugs marschiert er dorthin, um ihr seine Liebe anzubieten, denn sie sieht wirklich zum Anbeißen aus. Doch dieses Weib ist eigensinnig und belohnt seine zarten Annäherungsversuche mit spitzem Stahl! Bevor sie ihm ihre Gunst gewähre, müsse er ihr dienen, fordert Lith. Was für ein ungewöhnliches Frauenzimmer, wundert sich Liane, willigt aber trotzdem in den Handel ein.

Der Dienst besteht darin, dass er ihr die fehlende Hälfte eines Gobelins zurückbringt, den ihr Chun der Unvermeidliche gestohlen habe, wie sie sagt. Der Wandteppich zeigt eine schöne Landschaft – vielleicht Liths Heimat. Aber nun macht sich Liane frohgemut auf zu Chun dem Unvermeidlichen. Was hat er schon zu fürchten? Hat er doch einen Zauberring, der ihn unsichtbar machen kann! – Leider kommt für ihn alles viel schlimmer als erwartet. Denn Chun heißt nicht umsonst „der Unvermeidliche“ …

Die Story ist Teil des Episodenromans „Die sterbende Erde“, in dem sich die Erde in einem fantastisch anmutenden Endstadium ihrer Existenz befindet – kein Wunder, denn fünf Jahre zuvor ging die Welt schon zweimal durch die Atombombe unter. Endzeitvisionen lagen voll im Trend. „Nirgends rührte sich etwas. Der Sonnenschein verlieh den Ruinen eine unheimlich anmutende Pracht. Auf allen Seiten erstreckte sich eine Landschaft aus geborstenem Stein, eine Wüste aus tausenden von eingestürzten Gebäuden.“ (S. 202). In dieser Vision von Hiroshima könnte man sich Chun als Symbol der Radioaktivität sehr gut vorstellen.

Doch Vance hat ein romantisches, abenteuerlustiges Temperament. Genauso sind seine Figuren, so wie Liane. Doch Liane hat einen gravierenden Fehler: seine Selbsttäuschung durch übersteigertes Selbstbewusstsein. Er denkt, der jungen Hexe hätte nichts Besseres passieren können als eine Begegnung mit ihm, dem grünberockten Helden mit der roten Feder am Hut und den roten Schuhen. Er erinnert an Errol Flynn in seinem Robin-Hood-Film: randvoll mit kecker Kühnheit. Umso weniger ist Liane gewillt, die Gefahr durch Chun den Unvermeidlichen ernst zu nehmen. Bis es zu spät ist. Doch die goldene Hexe wird einen weiteren Dummen finden, denn sie hat einen guten Grund dafür … Die Story ist randvoll mit tragischer Ironie und endet mit einer schockierenden Pointe.

5) Andrzey Sapkowski: Die Grenze des Möglichen (1992; aus „Das Schwert der Vorsehung“, 100 Seiten)

Geralt der Hexer macht die angenehme Bekanntschaft des Ritters Borch Drei Dohlen und dessen beiden Amazonen Tea und Vea. Das Gespräch kommt auf das Thema Drachen, denn Geralt behauptet, es gebe weder weiße noch goldene Drachen, sondern höchstens die normalen roten, blauen und grünen. Dies seien die Grenzen des Möglichen.

An der Grenze zu Barfeld erfahren sie vom Troubadour Rittersporn, dass es hier in der Gegend eine Drachenjagd gebe und sich allerlei Volk einfinde, um dem Drachen seinen Schatz abzunehmen. Der König Niedamir habe die Grenze geschlossen, um selbst den Kopf des Drachen als Brautgabe zu erringen, denn er wolle die Tochter seines Nachbarn zur Frau nehmen, auf dass er dessen Reich erbe. Mit etwas alkoholischer „Überredung“ können sie den Grenzposten passieren.

Das Lager in der Nähe des Drachenhorts ist in der Tat schon ziemlich voll: mit Geralt sind es bereits drei Zauberer (zwei männliche, ein weiblicher), und dazu kommen noch diverse Ritter, der König selbst und eine Handvoll Zwerge, die ihm helfen sollen. Natürlich werden Drache und Hort bereits vorher verteilt, was für einigen Unmut sorgt. Wie sich herausstellt, ist die Zauberin Yennefer eine frühere Geliebte Geralts, doch leider klappt es mit der Wiedervereinigung (noch) nicht so ganz.

Nach einer kleinen Steinlawine, die die meisten überleben, stehen die Drachenjäger leibhaftig ihrer Beute gegenüber. Und dieser Drache ist wunderschön, von der Schnauze bis zur Schwanzspitze völlig golden. Und er kann sprechen …

Die „Grenzen des Möglichen“ verschieben sich fortwährend in dieser Erzählung, so dass für jede Menge Überraschungen gesorgt ist – bis zur letzten Seite. Daher ist es ein wahres Vergnügen, die Novelle des polnischen Schriftstellers zu lesen, der sich als wahrer Könner entpuppt. Erik Simon, der Übersetzer und Herausgeber, hat hiermit einen guten Anreiz geliefert, Sapkowskis gesamten Zyklus um Geralt den Hexer zu lesen. Der Zyklus ist als Sammelband seinerzeit bei |Heyne| erschienen, allerdings nach Band zwei nicht mehr übersetzt worden, obwohl es sieben Bände gibt.

6) Michael Moorcock: Könige in Dunkelheit (1962; aus „Im Banne des Schwarzen Schwertes“)

Elric, der verbannte Albino-Zaubererkönig, und sein Freund, der kleine Mondmatt, befinden sich auf der Flucht vor aufgebrachten Bettlern, setzen über einen Fluss und müssen notgedrungen in den verfluchten Wald von Troos vordringen, um ihre Verfolger abzuhängen. Der Wald soll von Angehörigen des Volkes der Verdammten aus Org bevölkert sein, doch alles, was sie vorfinden, ist eine schöne 17-jährige Prinzessin, die sich verirrt hat. Zarozinias Begleiter wurden von den Leuten aus Org überfallen und nur sie überlebte durch Flucht.

Elric ahnt, dass es mit ihr eine besondere Bewandtnis hat und verliebt sich in das Mädchen. Sie hat überhaupt keine Angst vor seinem Schicksal noch vor seiner seelenfressenden Runenklinge Sturmbringer. Doch ermattet vom Liebesspiel vergisst er zu wachen, und so gelingt es den Kriegern aus Org, die kleine Gruppe zu überfallen. Sie können die Angreifer zurückschlagen, doch bei der Flucht müssen sie ihre Schätze zurücklassen.

Deshalb dringen sie in die Zitadelle des Königs von Org ein, unter dem Vorwand, Sendboten der Götter zu sein. Ein Angriff erweist, dass die beiden Männer tatsächlich unverwundbar sind (Elric hat einen Zaubertrank hergestellt). Doch Gutheran, sein blinder Bruder Veerkad und sein Sohn Hurd wollen einen fiesen Plan in die Tat umsetzen, um einen uralten Fluch, der auf dem Volk der Verdammten liegt, abzuwenden. Und der Plan sieht die Opferung Elrics vor …

Dies ist typische Sword-&-Sorcery-Kost, also Schwertkampf & Hexerei, die hier wie bei Robert E. Howards |Conan|-Erzählungen mit einfachsten Mitteln eingesetzt werden. Die Opfer kommen stets unter absonderlichsten Umständen ums Leben, und einer der Könige stirbt sogar an Folgen eines „Krampfes“, bei dem es sich wohl um eine Herzattacke handelt. Die Helden sind stets stark, die Maiden gar lieblich. Doch Elric ist eine bedeutende Abweichung vom Schema F: Er ist zur Selbstvernichtung verdammt, symbiotisch mit seinem Runenschwert verbunden und ein Günstling des Donnergottes Arioch. Die sechsbändige Ur-Saga um Elric wurde daher vom Autor zu einem großen Zyklus ausgebaut.

7) Tanith Lee: Die Tochter des Magiers (1987; aus „Nächtliche Zauber“, ca. 100 Seiten)

Es war einmal vor langer Zeit auf der Flachen Erde, dass die schöne Shemsin die Aufmerksamkeit des Zauberers Rashak mit dem Dunklen Gehirn erregte. Statt sie in einen Tempel bringen zu lassen, verlangte er, dass ihr Vater sie ihm zur Frau gebe. Dies wurde gewährt, und Shemsin reiste in den unheimliche Burgpalast des Zauberers, der mitten in einem Phosphorsumpf lag. Als Shemsin das Antlitz des Magiers zum ersten Mal gewahrt, fällt sie ob solcher Schönheit schier in Ohnmacht. Sie ahnt nicht, dass es sich nur um ein Trugbild handelt, das er für sie aufgesetzt hat. Deshalb ist sie ihm gerne zu Willen und empfängt schon beim ersten Beischlaf sein Kind.

Doch Rashak verfolgt dunkle Pläne mit diesem Kind. Da es seine Seele erst kurz vor der Geburt erhalten wird, will er ihm die Seele von Azhriaz, der Göttin der Nacht, einpflanzen. Doch mehrere Götter der Flachen Erde, darunter ein Abgesandter des Todesgottes, warnen ihn, dass in seinem Plan ein Fehler stecke. Er lässt sich nicht davon abhalten. Doch als Shemsin einen Monat vor ihrer Niederkunft steht, taucht eine geheimnisvolle Hebamme auf, die verschleiert ist. Diese will Shemsin die wahre Identität ihres Gebieters enthüllen. Der entsetzliche Anblick der Wahrheit verwandelt ihre Leibesfrucht: Shemsin gebiert einen Krüppel.

Da Rashak seine Geliebte (die nur eine unter vielen ist) ohnmächtig am Fuße seiner Treppe gefunden hat, weiß er, dass etwas Unrechtes geschehen ist. Er lässt Shemsin und ihre Hebamme einmauern und gibt das missgebildete Kind einer Kreatur aus den finsteren Tiefen des Palastes zur Aufzucht. Während es dem Herrn der Illusionen gelingt, Shemsin und ihre Gefährtin zu entführen, wächst in den unteren Ebenen seines Palastes die kleine Ezail heran. Schließlich bricht sie zu eigenen Abenteuern auf …

Schade, dass Rashak nicht seine verdiente Strafe erhält, aber so geht es nun mal auf der Flachen Erde der Autorin zu. Sie interessiert viel mehr, wie die Mächtigen mit den Sterblichen umspringen und was sich daraus an sinnlichen und ungewöhnlichen Geschichten entspinnen lässt. Ungewöhnlich ist auch, dass der Herr des Wahnsinns, Chuz, nur am Rande vorkommt, dann aber im Finale eine tragende Rolle spielt. Auf diese Weise lässt sich der Verlauf einer Story von Tanith Lee nie vorhersagen. Sicher ist nur, dass der Leser neben Horror und Abenteuer auch eine Menge Humor und Sinnlichkeit erwarten darf.

8) Barrington J. Bayley: Das Schiff des Unheils (1965)

Die Elfen haben die Seeschlacht gegen die Trolle verloren, und Kapitän Elen-Gelith ist mit seiner Galeere geflohen. Kein Wunder, dass er stinksauer ist und gleich das nächstbeste Menschenschiff versenken lässt. Doch es gibt einen Überlebenden, Kelgynn und den lässt Elen-Gelith gleich an den Ruderriemen ketten und malochen – neben den anderen Trollen.

Doch der junge Mann merkt schnell, dass an Bord nicht alles zum Besten bestellt ist. Die Trollruderer bekommen nur verfaultes Fleisch zu essen, von dem ihm schlecht wird, und sonst gibt’s nur Elfenbrot, eine Art Manna immerhin. Allmählich bekommt er Oberwasser und bietet dem Käptn an, Fische zu angeln. Diese jedoch sehen sehr seltsam, beinahe intelligent aus, und man lässt sie in die See zurückwerfen. Diese gebärdet sich zudem sehr sonderbar und formt aus eigenem Antrieb traumhafte Gebilde. Allmählich wird dem Menschen klar, was mit Elfen und Trollen nicht stimmt, und sagt dem Kapitän, dass die Zukunft nur den Menschen gehören werde …

Ähnlich wie Poul Andersons Roman „Das zerbrochene Schwert“ erscheinen die Elfen als selbstsüchtige, kriegerische Rasse, die in beständigem Kampf mit den Trollen liegt und auf die Menschen als „Tiere“ verächtlich herabsieht. Aber den Elfen ist seit langem nichts Konstruktives mehr eingefallen, und alles was ihnen geblieben ist, ist die Rache. Kelgynn hat eine ökologisch anmutende Botschaft für den Kapitän (und das schon anno 1965!): Da die Elfen und Trolle der Mutter Erde nichts mehr zurückgeben, gibt diese auch ihnen nichts mehr. Die Nahrungsquellen beider Rassen versiegen. Nur die Menschen werden übrig bleiben und ihr Erbe antreten. Na, dann sollten die Leser sich an die eigene Nase fassen und es heute nicht wie die Elfen machen!

9) Ursula K. Le Guin: Drachenmädchen (1998), ca. 80 Seiten

Eine geniale und bis zur allerletzten Seite spannende Erweiterung des bisherigen Geschehens im [Erdsee-Archipel, 146 die nahtlos an „Tehanu“, den vierten Erdsee-Roman, anschließt. –

Die junge Bauerstochter Illian, deren Mutter unbekannt ist, will Rok, die Insel der Weisen und Magier, besuchen, um herauszufinden, wer oder was sie ist. Doch Damenbesuch ist im Kloster der Magier inzwischen wieder streng verboten (das war früher ganz anders!). Der Erzmagier Thorion will Illian verjagen, doch eine ältere und mächtigere Magie, als er sie besitzt, tötet ihn: Illian ist ein Drache!

Diese wundervoll erzählte Geschichte war bereits in R. Silverbergs Anthologie „Der siebte Schrein / Legenden“ zu lesen und findet sich auch in „Das Vermächtnis von Erdsee“ unter dem Titel „Schwebender Drache“ wieder.

10) Beard & Kenney: Die Brücke über den Gallweinfluss (1969; aus dem 4. Kap. von „Der Herr der Augenringe“)

Frito, Spam und ihre Gefährten sind auf dem Weg, den Stapfer sie vom Auenland nach Brüchigtal führt. Doch vor der Brücke über den Gallweinfluss haben die neun Nozdruls, die auf ihren Säuen reiten, sie eingeholt. Spam zieht beim Losen den Kürzeren und soll die Nozdruls ablenken, doch er hält Petzen für den klügeren Teil der Tapferkeit und zeigt den Schwarzen Reitern, wohin Frito mit dem Ring verschwunden ist. Frito schafft es gerade noch über die Brücke, als ein Zollbeamter die Verfolger aufhält. Zoll oder es kracht! —

Diese Parodie aus dem Jahr 1969 schafft es immer noch, den Leser durch ihre zahllosen Respektlosigkeiten zu verblüffen. Doch das Verfahren, mit dem die beiden Autoren das Vorbild „Der Herr der Ringe“ durch den Kakao ziehen, ist durchaus durchdacht. Sie haben Tolkiens Stileigenheiten genau angesehen und äffen sie nach, natürlich auf ihre parodistische Weise. Recht vergnüglicher Quatsch.

11) Esther M. Friesner: Grausputz (1996)

Der Grausige Herrscher hat die Elfenprinzessin Minuriel gefangen und will sie unbedingt zu seinem Eigentum machen. Also muss er sie heiraten. Aber sie will nicht, was bedeutet, dass sie mit geeigneter Erpressung „überredet“ werden muss. Das gelingt ohne weiteres. Doch sie ist mindestens so schlau wie seine grausige Majestät. Bevor sie ihr Ja-Wort gibt, steht es ihr wie jeder Elfenmaid frei, eine „Gabe“ zu verlangen. Die kann er ihr nicht verweigern. Sie verlangt eine neue Inneneinrichtung des Schlösses Düsterwacht. Zu diesem Behuf zaubert sie einen blonden, blauäugigen und erotisch säuselnden Innendekorateur herbei, der den schönen Namen Selvagio Napp trägt und sofort das Kommando übernimmt. Seine grausige Majestät ahnt noch nicht, dass er binnen weniger Monate sein Schloss nicht mehr wiedererkennen wird.

Hinter der Parodie auf Sauron versteckt sich eine weitere Parodie: auf New Yorker jüdische Prinzessinnen. Wehe, man lässt ihnen freie Hand, dann krempeln sie einem das ganze Leben um. Und bei der Heirat kriegt man auch noch einen Hausdrachen obendrein. Die Story ist sehr anschaulich, vergnüglich und mit absonderlichen Figuren und Einfällen gespickt.

12) Terry Pratchett: Der Zauber des Wyrmbergs (1983; aus „Die Farben der Magie“)

„Die Farben der Magie“ (The Colour of Magic, 1983) ist Pratchetts erster Scheibenwelt-Roman. Widerwillig begleitet hier der junge Unterzauberer Rincewind den ahnungslosen Zweiblum, den ersten Touristen auf der Scheibenwelt, und dessen ebenso vielbeiniges wie psychopathisches Gepäckstück Truhe. Ein kriegerischer Barbar namens Hrun schließt sich ihnen an.

Diesmal geraten die Abenteurer in den magischen Bannkreis des Wyrmbergs. Dieser steht in seiner Magiezone auf dem Kopf, ist innen hohl und beherbergt wie in einem Taubenschlag 88 Drachen und deren Reiter. Kommandiert werden sie derzeit von einer amazonenhaften Reiterin namens Liessa. Nach einem Überfall, bei dem seine Gefährten von Drachen entführt werden, findet Rincewind in einem Ast das magische Schwert Kring, das Hrun verloren hat. Es hat einen eigenen Willen und eine wahrhaft arthurische Geschichte. Er besiegt damit einen Drachenreiter und lässt sich von ihm zum Wyrmberg fliegen, um seine Gefährten zu befreien. Damit gerät er vom Regen in die Traufe.

Die Parodie in „Farben der Magie“ dient Pratchett dazu, die Fantasy durch den Kakao zu ziehen, vom Genre der Schwerter-und-Zauberei von Fritz Leiber und Michael Moorcock (Elric), über H. P. Lovecraft bis hin zu den Drachenepen von Anne Caffrey. Einmal stürzt Rincewind mit Zweiblum sogar in unsere Dimension, mitten in ein Passagierflugzeug. Da er den Entführer entwaffnet, ist ihm der Dank der Besatzung und Fluggäste sicher – er selbst hat keine Ahnung, was er hier soll und kehrt zurück in die Scheibenwelt. Pratchett ist selten wieder so ausgelassen und grenzüberschreitend gewesen. Man merkt, dass er zuvor noch Science-Fiction geschrieben hatte („Strata“).

Mein Eindruck

Eine recht kostengünstige Anthologie für den |Heyne|- bzw. |Piper|-Verlag: Bis auf eine deutsche Erstveröffentlichung und zwei Storys des |Insel|- (Dunsany) bzw. |Goldmann|-Verlags besaß der |Heyne|-Verlag bereits alle Rechte an diesen Übersetzungen.

Einige der ausgewählten Texte zählen zu den bekannteren Romanen der Fantasy, so etwa der Pratchett, der Jack Vance, die HdR-Parodie („Bored of the Rings“) und natürlich der Klassiker „Der Wurm Ouroboros“. Hingegen kannte selbst ich als langjähriger Leser manche Texte noch nicht: Tanith Lees „Die Tochter des Magiers“ oder Bayleys „Das Schiff des Unheils“. Zu den Standards gehören natürlich Le Guins Erdsee-Story und Moorcocks Elric-Story.

So mancher Leser mag sich nun fragen, was denn aus Merlin, Artus und ihren Rittern geworden ist. Sie kommen hier gar nicht vor. Die Herausgeber gehen auf diese Frage nicht ein. Dafür kann es mehrere Gründe geben: Artus/Merlin ist zu viel Historie und zu wenig Fantasy. Oder |Heyne| hatte keinen einzigen Artus-Roman verlegt. Oder einen wie weiland H. Warner Munns Klassiker „Merlins Ring“, aber die Rechte daran inzwischen verloren. Manchmal läuft es eben dumm.

Ich persönlich hätte an dieser Stelle noch einen Auszug aus einem der fünf „Mathemagie“-Romane um Harold Shea eingebracht, die in den 1950ern von L. Sprague de Camp und Fletcher Pratt so hintergründig-humorvoll verfasst wurden. Allerdings haben sie herzlich wenig mit Tolkien zu tun.

Unterm Strich

Insgesamt bietet die Anthologie eine gute Gelegenheit, sich mit der Vielfalt der Fantasy bekannt zu machen. Anders als vielleicht noch vor 15 Jahren finden heutzutage auch witzige und parodistische Texte Eingang in solche Sammlungen. Das finde ich sehr zu begrüßen. Ansonsten ist eher Lizenzverwertung angesagt, v.a. in den Romanauszügen. Illustrationen sucht der Fantasy-Fan vergeblich.

Die Übersetzungen sind durchweg gelungen. Zu beachten: Zu „Der Wurm Ouroboros“ hat Helmut Pesch eine alternative, kommentierte Übersetzung angefertigt.

Als Einziges bedaure ich an dem Buch, dass es keine Innenillustrationen gibt. Aber das hätte natürlich den Preis erhöht.

Taschenbuch: 656 Seiten
Aus dem US-Englischen von diversen Übersetzern.
ISBN-13 9783492269094

www.piper.de

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