Andreas Eschbach – NSA. Nationales Sicherheits-Amt

Die Liebe der Programmstrickerin

Weimar 1942: Die Programmiererin Helene Bodenkamp arbeitet im NSA, dem Nationalen Sicherheits-Amt, und entwickelt dort Komputer-Programme, mit deren Hilfe alle Bürger des Deutschen Reichs überwacht werden. Erst als sie sich in einen Deserteur verliebt und ihn in Sicherheit bringt, regen sich Zweifel in ihr. Ihre Hilfsversuche bringen sie in Konflikt mit der Staatsdoktrin, sondern sie wird auch in die Machtspiele ihres Vorgesetzten Eugen Lettke verwickelt. Dieser nutzt die perfekte Überwachungstechnik für seinen ganz privaten Rachefeldzug und überschreitet dabei zunehmend jede Grenze… (abgewandelte Verlagsinfo)


Der Autor

Andreas Eschbach, Jahrgang 1959, studierte in Stuttgart Luft- und Raumfahrttechnik, bevor er als Software-Entwickler und Berater arbeitete. Schon als Junge schrieb er seine eigenen Perry-Rhodan-Stories, bevor er mit „Die Haarteppichknüpfer“ 1984 seine erste Zeitschriftenveröffentlichung landen konnte.

Danach dauerte es noch elf Jahre bis zur Romanfassung von „Die Haarteppichknüpfer“, danach folgten der Actionthriller „Solarstation“ und der Megaseller „Das Jesus Video“, der mit dem renommierten Kurd-Laßwitz-Preis für den besten deutschsprachigen Science Fiction-Roman des Jahres 1998 ausgezeichnet und fürs Fernsehen verfilmt wurde.

Seitdem sind die Romane „Eine Billion Dollar“, „Perfect Copy“, „Exponentialdrift“, „Die seltene Gabe“, „Das Marsprojekt 1-5“ sowie „Der Letzte seiner Art“ erschienen, einige davon zudem als Hörbuch. Auch das Sachbuch „Das Buch der Zukunft“ gehört zu seinen Publikationen. Eschbach hat mehrere Anthologien herausgegeben und eine Reihe von literarischen Auszeichnungen erhalten. Seit 2003 lebt er mit seiner Frau, die ebenfalls schreibt, als freier Schriftsteller in der Bretagne.

Handlung

Weimar, 5. Oktober 1942, der Reichsführer SS, Heinrich Himmler, inspiziert das Nationale Sicherheits-Amt (NSA) des Großdeutschen Reiches. Das Management steht stramm, denn man hat Gerüchte gehört, dass Himmler und seine SS-Männer keine Gnade – und erst recht keinen Spaß – kennen. Immer noch wird im Osten Krieg geführt, macht Himmler klar, daher wäre es fatal, wenn es eine Stelle wie das NSA gäbe, das nicht hundertprozentig für den Sieg arbeiten würde. Sein Verdacht: Dieses Überbleibsel aus der Weimarer Republik könne nicht ganz linientreu sein.

Ermittelt

Doch eine Demonstration der Fähigkeiten der Komputer und des weitgespannten Netzwerks in den eroberten Gebieten überzeugt ihn, dass das NSA erhaltenswert sei: In Amsterdam wird durch Feinarbeit und Vermessung das Versteck einer gewissen Anne Frank und ihrer Verschwörer ausfindig gemacht. Ein Anruf genügt und die Jüdin wird verhaftet und deportiert. Himmler ist zufrieden, belobigt den Mitarbeiter Eugen Lettke zu „seinem“ Programm und den Leiter des Amtes Adamek. Niemand ahnt, dass er sich schon bald das bislang eigenständige NSA unter den Nagel reißen und es dem Reichssicherheitshauptamt eingliedern wird…

Verliebt

Nach der Abreise des Reichsführers mit seinem schwarzbestiefelten SS-Tross wagt die Programmiererin Helene kaum zu atmen. Der Mann, den sie liebt, ist in höchster Gefahr! Es handelt sich um Arthur Freyh, einen Soldaten, der von der russischen Front vor Moskau desertiert ist. Er hat den Urlaubsschein eines toten Kameraden gefälscht und dazu benutzt, rund 2000 km in die Heimat zu fahren. Und weil ihm nur Helene aus einer früheren Begegnung eingefallen ist, hat er ihr „aufgelauert“. Zum Glück waren ihre Eltern gerade nicht da. Sofort hat Helene Arthur bei ihrer besten Freundin Maria auf deren Bauernhof verstecken können. Deren Mann Otto ist als Bauer vom Kriegseinsatz freigestellt – noch. Er hat sogar, da ständig Juden auf der Flucht sind, ein raffiniertes Versteck gebaut, das beheiz- und begehbar ist. Essen gibt’s natürlich vom Bauernhof. Seitdem hat sich Helene in Arthur, ein klugen Physiker mit aufrührerischen Gedanken verliebt und sie sehnt sich danach, ihm noch etwas näher zu kommen.

Helene ist Programmstrickerin und mit dem Projekt „Flugsand“ befasst. Geleitet von Eugen Lettke, zielt es darauf ab, subversive Antikriegspropaganda in den USA selbst zu verbreiten. Das heißt, dass Helene bestens Englisch versteht und einen gewissen Überblick über das politische Geschehen hat, was ja in einem totalitären Staat anno 1942 alles andere als selbstverständlich ist. Die Nazis mögen es, wenn ihre Untertanen wie Marionetten gehorchen und die Klappe halten.

Erpresst

Doch als sie Kondome bei Lettke in der Schreibtischschublade entdeckt, kann sie der Versuchung nicht widerstehen und lässt sie mitgehen. Das wird eine glückliche Nacht mit Arthur! Sie ahnt nicht, dass ein misstrauischer Kerl wie Eugen Lettke das Fehlen gleich gemerkt hat. Er ahnt, dass zwei „Frommser“ nicht reichen werden und stellt eine Falle auf, die in die Helene prompt hineintappt: Eine versteckte Videokamera hat sie erfasst. Doch statt sie zu eigenen Zwecken zu nötigen, erpresst er Helene dazu, ihm das Programmieren beizubringen. Schließlich gibt es Charles Babbages Analytical Engine seit 1851 und im Deutschen Reich seit etwa 1902 – wieso sollte die Komputerprogrammierung ein weibliches Privileg bleiben?

Damit Lettke nicht den guten Ruf seiner Männlichkeit“ verliert, muss Helenes Unterricht in der Strukturierten Abfragesprache (SAS) unter dem Siegel der Verschwiegenheit erfolgen. Ergänzend liest er auch das Lehrbuch von Dr. Erika Kroll, die in Berlin an einer neuen Programmierweise arbeitet, wie Helene weiß: an der Neuralen Netzwerkprogrammierung, also an „Künstlicher Intelligenz“. Sie wundert sich lediglich über die häufigen besuche eines Dr. Danzer, der von Dr. Kroll nach Weimar an NSA geschickt worden ist. Was macht ein Psychologe hier in der Provinz?

Frauenjagd

Helene ahnt nichts von Lettkes privatem Interesse an der professionellen Komputernutzung. Er führt nämlich seit seinem dreizehnten LJ Lebensjahr einen Rachefeldzug gegen vier Mädchen, die ihn damals gedemütigt hatten – oder es zumindest ernsthaft vorhatten. Bei einer Partie Strip Poker wurde mit gezinkten Karten gespielt, so dass Eugen auf jeden Fall verlieren musste. Dass sein eigener Freund dahinterstecken könnte, kam ihm nicht in den Sinn – bis heute. Zwei der Frauen hat er aufgespürt und dafür gesorgt, dass sie ihm zu Willen waren. Die Dritte hat sich zu seinem Erstaunen als Gattin des Großindustriellen Schmettenberg entpuppt, der sich an den versteigerten Firmen vertriebener Juden bereichert. Lettkes Falle schnappte zu und sie saß in der Falle. Leider verheilt sich seine eigene Libido nicht wie gewünscht…

Nummer vier

Während ihre Eltern – ihr Vater ist ein renommierter Rasseforscher und Chirurg – dafür sorgen, dass Helene die Aufmerksamkeiten eines hässlichen preußischen Parteibonzen namens Ludolf von Angersleben annimmt, spannt Lettke sie für seine Jagd auf Frau Nr. 4 ein. Diese hat sich, wie Helene aus Elektropost im Weltnetz ermittelt, in die USA abgesetzt, einen Physiker geheiratet und ist nach Berkeley bei San Francisco umgezogen. Zu Helenes Verblüffung macht diese Frau Andeutungen, dass die deutschsprachigen Physiker, die sie für ahnungslos halten, an einem Projekt für Kernspaltung arbeiten. Und nicht nur das: Sie glauben, dass die Deutschen selbst bereits an einer Atom-Bombe“ arbeiten würden, einem Aggregat, das eine ganze Stadt auf einen Schlag vernichten könnte. Spinnen die?

Hackerin

Als sie Eugen Lettke ihre Erkenntnisse mitteilt, überlegt dieser eine Weile: Das hat ja so gar nichts mit seiner persönlichen Vendetta zu tun. Aber wenn man den Führer selbst für diese Sache interessieren könnte, würde ihm, dem Sohn eines Kriegshelden aus dem Weltkrieg 1, sicherlich ein Orden winken, oder? Während er seine Fühler nach Berlin ausstreckt, beauftragt er Helene damit, die Geheimdokumente dieser Ami-Physiker, allesamt Juden, zu beschaffen. Aus dem Projekt „Flugsand“ weiß Helene ja, wie man einen ABM-Komputer hackt und sich das verschlüsselte Einmalpasswort besorgt. Man muss nur die eigenen Komputer zwei Tage lang werkeln lassen. Der Erfolg schweißt Lettke und Helene zusammen.

Doch als Himmlers Befehl ausgeführt und das NSA von der SS übernommen wird, drohen nicht nur Helenes illegale Programme zum Schutz von gewissen Deserteuren und Juden, sondern auch Lettkes Missbrauch von NSA-Eigentum aufzufliegen…

Mein Eindruck

Mich hat der umfangreiche Roman von Anfang ausgezeichnet unterhalten. Da ich selbst mit der IT-Branche zu tun habe – wie auch immer mehr Zeitgenossen (und natürlich der Autor selbst) -, fand ich die Figur einer Programmiererin von Anfang an sehr interessant. Allerdings gibt es in dieser Alternativwelt keine männlichen Programmierer, und als Lettke anfängt, sich mit Code zu befassen, fragt er sich, ob ihm denn schon Brüste wachsen. Man sieht also, dass das Thema „Programmieren“ nicht allzu ernstgenommen wird. Zunächst jedenfalls. Mit der wachsenden Kompetenz wächst ihr Verantwortungsbewusstsein, und sie sieht sich im Dilemma zwischen Liebe und Beruf.

Plötzlich Jüdin

Denn mit zunehmender Kompetenz in Programmierung, die ihren Vorgesetzten nicht verborgen bleibt, und ihrem Schnüffeln im „Weltnetz“ beginnt sich Helene Bodenkamp, Tochter eines Chirurgen und Rasseideologen, zunehmend zu politisieren. Natürlich nicht offen und auch nicht im „Deutschen Forum“, das ja überwacht und manipuliert wird. Aber es gibt zwei schwerwiegende Zwischenfälle im Leben der sympathischen jungen Frau, die sie zum Programmieren und zu menschlichem Engagement bewegen.

Zunächst verschwindet ihre beste Freundin Ruth Meyer aus der Schule, denn die sei ja eine „Jüdin“, eine Eigenschaft, von der Ruth selbst bis dato nichts wusste. Denn Ruth ist protestantischen Glaubens. Macht nichts, sagt die Schulbehörde: Sie ist Jüdin der Rasse nach. Ruths Familie zögert nicht, nach dieser Diskriminierung (ca. 1933-35) nach Holland auszuwandern. Dort wird sie dann wie Anne Frank (s.o.) ausfindig gemacht und in ein KL deportiert, wo sich ihre Spur verliert – eine illegale Recherche, die Helene sehr viel fast zum Verhängnis wird. Fürs NSA zu arbeiten ist sowohl Privileg als auch ein Risiko.

Unschuldig ins KL

Der andere Zwischenfall besteht darin, dass ihr Onkel Siegmund in KL (sic!) Dachau gesperrt wird, um dort „umerzogen“ zu werden. Sein Vergehen: Der mit gesundem Menschenverstand ausgestattete Vielreisende hat sich im Deutschen Forum irgendwie despektierlich über die NS-Partei und den „Führer“ geäußert. Er wird nie angeklagt. Als er zurückkehrt, ist Onkel Siegmund ein gebrochener Mann, der nie wieder eine Zeile veröffentlicht. Kurz vor seinem Tod sagt er zu Helene: „Wir sind alle Gefangene. Auch du.“ Das bewegt sie dazu, Programmiererin zu werden. Denn das dürfen nur Frauen.

Mach’s wie Follett

Der weitere Verlauf des Helene-Handlungsstrang ähnelt zunehmend einem Garn, das Ken Follett geschrieben haben könnte, etwa in Folletts Thriller „Mitternachtsfalken“, einer Widerstands-Story im 2. Weltkrieg. Doch das Thema Überwachung per Komputer durchdringt das Buch bis in die letzte Verästelung, und das findet man bei Follett nicht. So etwas wie Freiheit ist in einem totalitären Staat eine trügerische Selbsttäuschung. Zunehmend ähnelt das Szenario der Gegenwart, komplett mit maschinellem Lernen, Gesichtserkennung (erfordert KI), Wanzen, Videoüberwachung und Internetschnüffelei.

Gefährder vs. Arier

Der totalitäre Staat, so lernen wir mit zunehmender Beklemmung, kennt nur linientreue Untertanen und zwar solche, die den Definitionen „linientreu“ und „rassisch einwandfrei“ hundertprozentig entsprechen (Helenes Vater ist diesbezüglich ein selbsternannter Experte). Das wiederum führt zu grotesken Auswüchsen, die der Autor konsequent ausspielt, selbst wenn das für die Figuren schlimm und für den Leser belastend sein mag. Heute würde man zunächst fragen, was ein „Gefährder“ oder gar „Terrorist“ ist. Eugen Lettke, seines Zeichens Frauenerpresser und -vergewaltiger, braucht sich nicht zu sorgen: Er ist ein Arier der Güteklasse AAA, nur seiner Gene und seines „arischen“ Aussehens wegen. Nur diesem willkürlichen Umstand verdankt er am Schluss sein Leben.

Alle Daten in Silos

Was wirklich mit einem solchen Überwachungsinstrument wie der NSA, ihren Komputern und ihren Programmen anzurichten ist, demonstriert – unfreiwillig und insgeheim – Eugen Lettke. Der Mann hat mit den großen Elektro-Kisten, die im Keller, bewacht von Technikern, arbeiten, nichts am Hut. Er will nur ihren Nutzwert. Von der Hardware hat er ebenso wenig Ahnung wie Helene. Aber beide sind froh, dass beispielsweise alle Ärzte und alle Verkehrsgesellschaften und Banken ihre Daten in sogenannten „Datensilos“ (= Serverfarmen in der Cloud) speichern müssen, auf die nur Befugte wie das NSA Zugriff haben. Eine Codezeile in SAS – und schon hat man intimste Daten eines Menschen auf dem Bildschirm. Zum Beispiel über die Impotenz eines NSA-Kollegen. Der braucht bestimmt keines der geklauten Kondome, aber wer dann?

Vendetta

Wie oben erwähnt, missbraucht Lettke das NSA für seine private Vendetta. Wer nichts über Nötigung und Vergewaltigung lesen möchte, sollte diese Szenen meiden. Ich bewundere die Konsequenz, mit der der Autor diese Szenen steigert, bis hin zu Frau Schmettenberg (Nr. 3), an der Lettke letzten Endes scheitert. Die Gattin eines Großindustriellen, der mit der NS-Partei per Du ist, ist ein großes Wild, und es zu erlegen, will sorgfältig vorbereitet sein. Wie Lettke es dennoch schafft, darf hier nicht verraten werden.

Das Nuklearprogramm

Die Verfolgung von Nr. 4 führt Lettke und Helene, wie erwähnt, direkt zum Manhattan-Projekt. Dessen Entdeckung wiederum führt zu den deutschen Atomforschern. Die Darstellung von Hahn, Heisenberg usw. entspricht der verbürgten Geschichte: Sie sind alle harmlos. Das ändert sich drastisch, als Lettke mit seinen Erkenntnissen zum Führer geht und dieser die Forscher wegen „Verrats“ zur Schnecke macht – eine durchaus plausible Szene. Hitler war ja für seine Wutausbrüche bekannt. Danach lautet die spannende Frage nur noch: Wer wird zuerst die Atombombe einsetzen, die Nazis oder die Alliierten? Wie dieses Wettrennen ausgeht, darf ebenfalls nicht verraten werden. Aber der Moment ist sehr ironisch gestaltet.

Schwächen

An einigen Stellen war ich so auf Folletts Methode gepolt, dass ich mich wunderte, warum Eschbach seinen Figuren einen anderen Weg vorgab. Es wäre beispielsweise Lettke ein Leichtes, Helene zu seiner Sexsklavin zu machen. Andererseits würde sie schnell herausfinden, wozu er das NSA-System privat missbraucht. Und außerdem könnte man sich fragen, wozu ein Autor das große Potenzial Helenes frühzeitig vergeuden sollte. Denn Helene ist das altruistische Gegenbild zu Lettkes egoistischer Vendetta.

Auch das Schicksal der beiden Turteltäubchen Helene und Arthur hatte ich mir etwas anders vorgestellt. Die beiden Liebenden enden extrem tragisch. Wir drücken Helene bei einem Fluchtversuch zum rettenden Schiff natürlich die Daumen, aber es soll nicht sein. Ihr Problem: Sie ist auf Angerslebens Landgut von Komputern abgeschnitten und muss auf fehlbare menschliche Helfer zurückgreifen. Die Flucht zum Schiff ist ein Wettlauf zwischen menschlicher und Maschinen-Intelligenz. Die Maschine, die das menschliche Gehirn (KI) nachahmt, gewinnt. Dieser ironische Ausgang des Abenteuers sollte dem Leser sehr zu denken geben.

Unterm Strich

Die Handlung hat mich nicht nur bestens unterhalten, sondern auch zunehmend mit ihrer spannenden Entwicklung gefesselt. Der Wechsel zwischen Helenes Geschichte und Lettkes Vendetta sorgt für Abwechslung, und die beiden Figuren bilden die helle und die dunkle Seite der Computernutzung dar. Immer wieder stößt der Leser auf menschenfreundliche Anwendung dieser Technologie – und auf deren Gegenteil.

Dabei ist Lettke keineswegs ein ruchloses Ungeheuer: Wir entwickeln sogar Verständnis für seine Vendetta, wenn auch nicht für seine Methoden. Helene ist andererseits kein Engel: Sie verabscheut den hässlichen Ludolf von Angersleben – obwohl er später zweimal ihr Leben rettet. Und sie verrät das Manhattan-Projekt erst an Lettke, somit an die NS-Partei, was dann schließlich zum Atomprojekt der Nazis wird. Die beiden Hauptfiguren sind detailliert herausgearbeitet.

Dass Helene selbst hintergangen wird, kann sie kaum fassen – von der eigenen Mutter. Welche Verantwortung ihr Vater, der Rassenideologe, auf sich lädt, lässt sich nur ermessen. Aber es zeigt, dass selbst die klügsten Köpfe – wie auch der des Psychologen Dr. Danzer – im Dienst der menschenfeindlichsten Maschinerie stehen können, ohne sich einer Schuld bewusst zu sein. Danzer arbeitet später mit einem gewissen Dr. Mengele zusammen. Die rücksichtslos gewordene Helene findet auch heraus, für was sich ihr Gatte Ludolf instrumentalisieren lässt: für Himmlers Lebensborn-Organisation, die europaweit geeignete Mütter mit „arischem“ Samen befruchtet; AAA-Samen wie dem eines gewissen Eugen Lettke…

Innenansichten

Neben all diesen Handlungssträngen und dramatischen Entdeckungen ist mir immer wieder aufgefallen, wie tiefe Einblicke die Erzählung in den „normalen“ Alltag des deutschen Durchschnittbürgers gewährt, inklusive der Juden. Dieser Alltag verändert sich genauso wie die Bevölkerung und ihr Bewusstsein selbst. Zuerst verschwindet die jüdische Intelligentsia und das Besitzbürgertum (dessen Besitz ja wie im Fall Schmettenberg „arisiert“ wird), dann verschwinden Kommunisten, Sozialdemokraten, Homosexuelle, Andersdenkende – von den Roma und Sinti ganz zu schweigen. Auch „lebensunwertes Leben“, also Behinderte, wird einmal erwähnt, wenn ich recht entsinne.

Ab 1940 beginnt der Bombenkrieg. Weimar ist weitab von den zentralen Zielgebieten der britischen Bomber. Anfangs gibt es nur eine Art Zufallstreffer, doch schon dieser macht deutlich, dass der Himmel weit offen ist und keineswegs einen Schutz darstellt. Die Männer, die bislang den Schutz der Frauen besorgten, sind entweder alle an der Front oder in den Partei- und Heimatfront-Apparat eingebunden. Es herrscht Verdunklungspflicht, was selbst die harmlosesten Fahrradtour zu einem Bauernhof wie dem von Marie und Otto Aschenbrenner zu einer riskanten Unternehmung ausarten lässt.

Das Essen entspricht, außer auf dem Bauernhof, dem Niveau einer Feldküche, also unterstes Niveau. Und Kondome kann man sich gleich ganz abschminken – sowas gibt’s nur in Frankreich. Anhand dieser Marginalien kann sich der Leser ungefähr vorstellen, wie extrem riskant und nahezu tollkühn Helenes Verhalten in ihrer Verliebtheit zu bewerten ist. Sie hat sich, von buchstäblicher und metaphorischer Finsternis umgeben, in der Liebe zu Arthur ihren eigenen kleinen Himmel geschaffen – und ist zunehmend bereit, dieses Reservat mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.

Neusprech

Meine Leseexemplar enthält weder eine Personenliste noch eine Zeittafel. Da es sich aber zu 50 Prozent um historische Personen wie Himmler oder Hitler handelt sowie um historische Begebenheiten, anderen Abfolge der Autor nichts änderte, braucht man einfach nur in der Wikipedia nachzuschlagen, um Wissenslücken zu schließen.

Nur Informatikkenner dürften allerdings die vielen Insiderwitze in der Behandlung des Themas Informatik erkennen. ABM = IBM, SAS = nicht SAS, sondern SQL, und viele mehr. Dass aus dem Internet das „Weltnetz“ wird und aus der ominösen „Cloud“ die etwas konkreteren „Datensilos“ (analog zu „Getreidesilos“) werden, gehört zu den vielen Wortschöpfungen des Autors, so auch „Votel“ für „Volkstelefon“ alias Mobiltelefon (das ebenfalls abgehört wird).

Dass Programmierhandbücher von „Programmstrickerinnen“ in naher Zukunft mit rosa Schmetterlingen und Einhörnern geschmückt werden, halte ich zwar für relativ unwahrscheinlich, wünschenswert wäre aber auf jeden Fall eine weibliche Begeisterung für „Schleifen, Vererbung, Eltern-Kind-Beziehungen“ und so weiter.

Das Taschenbuch soll ab 28.2.2020 erhältlich sein.

Leseproben 1-3 auf Eschbachs offizieller Webseite: http://www.andreaseschbach.com/werke/romane/nsa/lp_nsa/lp_nsa.html

2) Interview auf luebbe.de: https://www.luebbe.de/bastei-luebbe/autoren/andreas-eschbach/id_2665876#7464678

Hardcover: 796 Seiten
ISBN-13: 9783785724811

www.luebbe.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)