Poe, Edgar Allan / Hala, Melchior / Sieper, Marc / Hank, Dickky / Weigelt, Thomas – Sturz in den Mahlstrom (POE #5)

„Sturz in den Mahlstrom“ ist der fünfte Teil der Edgar-Allan-Poe-Reihe von |LübbeAudio|, die unter Mitwirkung von Ulrich Pleitgen und Iris Berben, eingebettet in eine Rahmenhandlung, Erzählungen des amerikanischen Gruselspezialisten zu Gehör bringt.

Ulrich Pleitgen hat auch die ersten vier Hörbücher der Serie vorgelesen:
– [Die Grube und das Pendel 744
– [Die schwarze Katze 755
– [Der Untergang des Hauses Usher 761
– [Die Maske des Roten Todes 773

Die vier neuen Folgen der POE-Reihe sind:
#5: Sturz in den Mahlstrom
#6: Der Goldkäfer
#7: Die Morde in der Rue Morgue
#8: Lebendig begraben

|Der Autor|

Edgar Allan Poe (gestorben 1849) gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, Horrorstory, Science-Fiction, Shortstory. Er gab verschiedene Zeitschriften heraus, veröffentlichte aber nur wenige eigene Werke in Buchform, sondern sah seine Geschichten und Gedichte lieber in Zeitschriften gedruckt. Er starb im Alkoholdelirium. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas.

|Der Sprecher|

Ulrich Pleitgen, geboren 1946 in Hannover, erhielt seine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in seiner Heimatstadt. Pleitgen wurde nach seinen Bühnenjahren auch mit Film- und Fernsehrollen bekannt. Er hat schon mehrere Hörbücher vorgelesen und versteht es, mit seinem Sprechstil Hochspannung zu erzeugen und wichtige Informationen genau herauszuarbeiten, ohne jedoch übertrieben zu wirken. In der POE-Reihe interpretiert er den Fremden, der sich „Edgar Allan Poe“ nennt.

|Die Sprecherin|

Iris Berben gehört zu den bekanntesten und profiliertesten Schauspielerinnen hierzulande. Ihr Repertoire umfasst Krimis („Rosa Roth“) ebenso wie Komödien und klassische Werke. Für ihre Leistungen wurde sie u. a. mit dem Bambi und der Goldenen Kamera ausgezeichnet. In der POE-Serie interpretiert sie die weibliche Hauptrolle Leonie Goron.

_Vorgeschichte_

Ein Mensch ohne Namen. Und ohne jeden Hinweis auf seine Identität. Das ist der Fremde, der nach einem schweren Unfall bewusstlos in die Nervenheilanstalt des Dr. Templeton eingeliefert und nach zehn Wochen entlassen wurde. Diagnose: unheilbarer Gedächtnisverlust. Er begibt sich auf eine Reise zu sich selbst. Es wird eine Reise in sein Unterbewusstsein, aus dem schaurige Dinge aus der Vergangenheit aufsteigen. Woher kommen sie? Was ist passiert? Was hat er getan?

Schon vier Stationen hat der Fremde durchwandert, stets begleitet von Albträumen. Nach dem Aufenthalt in einem Gasthaus begibt sich der Fremde ohne Gedächtnis auf eine Seereise.

_Handlung_

Mit dem Segelschiff „Independence“ begibt sich der Fremde, der sich den Namen Edgar Allan Poe zugelegt hat, auf eine Seereise nach New Orleans. Von dort will er weiter in den Fernen Osten. Der Segler und sein Kapitän Hardy scheinen in Ordnung zu sein, doch kurz vor dem Auslaufen sieht Poe, wie ein Fremder einem der Matrosen etwas übergibt.

Das Schiff ist noch nicht lange auf See, als ein schwerer Belegblock auf Poe herabstürzt und ihn nur um Haaresbreite verfehlt. Das Seil daran ist jedoch nicht durchschnitten, und so macht sich Poe keine Sorgen deswegen. Ein Sturm ist im Anzug, sagt Käptn Hardy mit knorriger Stimme (Jürgen Wolters). Und eines der Opfer dieser stürmischen Gegend wird wenig später gesichtet.

Poe rudert zwecks Erkundung des Schiffswracks mit der Mannschaft hinüber. Das Erste, was man entdeckt, ist ein Sarg an Deck. „Das bringt Unglück“, dürfte ja wohl klar sein. Obwohl der Bootsmann sich zum Verlassen des sinkenden Wracks anschickt, sucht Poe noch achtern in den Kajüten – und wird fündig: Eine weibliche Gestalt in langem weißem Gewand erscheint wie ein Gespenst und fragt ihn: „Wo bin ich?“

Das Boot ist weg, das Schiff sinkt. Poe und die Lady springen ins Meer und finden sich später neben dem ominösen Sarg treiben. Nachdem die „Independence“ sie aufgefischt hat, stellt sie sich als Leonie Goron (mit französischer Aussprache) vor. Sie fragt ihn, ob er an Zufälle glaube. In der folgenden Nacht schiebt Poe ebenfalls Wache, weil der Sturm erwartet wird. Nach seiner Ablösung verschwindet der andere Matrose spurlos. Vielleicht sollte er sich spätestens jetzt Sorgen machen.

Der Sturm bricht unvermittelt los, und Poe und Leonie müssen unter Deck. Hier hat Poe wieder mal einen seiner typischen Albträume. (Es ist die Handlung von Poes titelgebender Story.)

An der norwegischen Küste wird der Fisch zwischen den küstennahen Inseln knapp, so dass zweien der der letzten unabhängigen Fischer, den Brüdern Per und Tore, nur noch die Wahl zwischen Teufel und Beelzebub bleibt: Sie verkaufen entweder ihr Boot und verdingen sich als Matrosen beim reichsten Fischer Lars Hansen – oder sie blicken dem Tod ins Auge und versuchen ihr Glück bei den Äußeren Inseln. Doch dort lauert in der Meerenge ein Verderben bringender Mahlstrom auf Fischer, die nicht rechtzeitig zurückfahren. Ganze Dreimaster habe er schon verschlungen, erzählt das Seemannsgarn in der Hafenkneipe.

Doch Per wettet, er sei ein besserer Fischer als Lars Hansen. Dessen höhnisches Gelächter bringt ihn auf die Palme. Er setzt sein Boot ein, doch Lars muss ihm die Erlaubnis geben, um die Hand seiner Schwester Susanne anhalten zu dürfen, wenn Per gewinnt. (Ist doch immer eine Frau im Spiel, nicht?) Listig gibt Susanne ihm eine Taschenuhr mit, so dass er den Tidenwechsel besser einschätzen kann.

Doch der Chronometer erweist sich als ebenso trügerisch wie das Meer über dem Mahlstrom. Zu spät bemerken Per und Tore, wie es sich verändert und schließlich zu einem riesigen Trichter öffnet. Ihr schlimmster Albtraum scheint in Erfüllung zu gehen, da erkennt Per den Weg zur Rettung. Tore hält ihn für völlig durchgeknallt. Kein Wunder: Wer würde im Angesicht des sicheren Todes schon sein Schiff verlassen?

_Mein Eindruck_

Während die Binnenhandlung, die im Albtraum erzählt wird, ziemlich genau Poes genialer Horror-Story „Descent into the Maelstrom“ folgt, verarbeitet die Rahmenhandlung in freier und kreativer Weise Motive aus Poes Story „The oblong Box“ („Die längliche Kiste“). Darin befindet sich ebenfalls ein Sarg an Bord eines Segelschiffes, das unseren Erzähler von A nach B bringen soll. Jeder Matrose, der einen Schuss Pulver wert ist, weiß natürlich, dass ein Sarg an Bord Unglück magnetisch anzieht. Und denen von der „Independence“ geht es genauso. Recht haben sie, wie die folgenden Geschehnisse belegen. Offenbar zweimal entgeht Mr. Poe einem Anschlag auf sein Leben. Wer steckt dahinter? Die zweite Frage lautet natürlich: Warum besteht Leonie Goron so hartnäckig darauf, den Sarg an Bord zu nehmen, statt ihn der See zu übergeben?

Die zentrale Erzählung, „Der Sturz in den Mahlstrom“, gehört zu den wirkungsvollsten Meisterwerken der Horrorliteratur. Ähnlich wie „Grube und Pendel“ gerät die Hauptfigur durch Furcht und Schrecken in einen seelischen Zustand, der ihm eine „gleichgültige Neugier“ erlaubt. In diesem Zustand quasi außer sich, bemerkt er wie ein vernünftig denkender Mensch ein Phänomen, das er normalerweise nie wahrgenommen hätte: Massereiche Gegenstände erreichen den zerstörerischen Grund des riesigen Strudels schneller als kleine, leichtere. Dieser Beobachtung lässt er sogar die richtige Handlungsweise folgen, so wahnwitzig und selbstmörderisch sie auch erscheinen mag. Kein Wunder, dass ihn sein Bruder für verrückt hält, widerspricht dies doch dem so genannten „gesunden Menschenverstand“. Und wir dürfen annehmen, dass Per nun die Hand der süßen Susanne sicher ist.

|Die Sprecher / Die Inszenierung|

Pleitgen spielt die Hauptfigur, ist also in jeder Szene präsent. Er moduliert seine Stimme ausgezeichnet, um das richtige Maß an Entsetzen, Erstaunen oder Neugier darzustellen. Als das Schiff ausläuft, das ihn zu neuen Ufern bringen soll, klingt er richtig frohgemut – genau wie die Musik, die sich machtvoll zu einem vorwärts drängenden Thema aufschwingt.

Während der Binnenhandlung spricht er auch Per, der den Mahlstrom erforscht. Ihn begleitet als Tore, Pers Bruder, Manfred Lehmann, der verdächtig wie die deutsche Stimme von Nick Nolte klingt. Auch der bekannte Schauspieler Benno Fürmann wird im Booklet als Sprecher eines gewissen „Israel Hands“ aufgeführt. Diese Figur konnte ich aber nicht entdecken. Kommt vielleicht noch.

Iris Berben bietet Pleitgens melancholischem Poe einen lebhaften Widerpart mit ihrer Leonie Goron. Und wie Poe sogar selbst merkt, zeichnet sich Leonie durch ungewöhnlichen Scharfsinn aus. Der wird wohl noch benötigt … Auch in der Rolle als Susanne Hansen, in der ich sie fast nicht wiedererkannt hätte, verleiht Berben der Szene den gewissen Pfiff: Sie ist das listige Frauenzimmer, hinter dem Per her ist, das aber offenbar auch eigene Pläne verfolgt.

|Sound und Musik|

Mindestens ebenso wichtig wie die Sprecher sind bei den POE-Produktionen auch die Geräusche und die Musik. Hut ab vor so viel Professionalität! Die Arbeit des Tonmeisters beim Mischen aller Geräusche ist so effektvoll, dass man sich – wie in einem teuren Spielfilm – mitten im Geschehen wähnt: wenn der Stürm wütet, wenn die Möwen kreischen, wenn Poe und Leonie halbtot im Meer treiben, im Regen, das Knarren der Takelage und vieles mehr. Der Hörer kommt sich vor wie der blinde Passagier auf einer abenteuerreichen Seereise, wie einst [Arthur Gordon Pym. 781

Die Musik bildet die perfekte Ergänzung: Klassische Streicher eines Quartetts und des Filmorchesters Berlin, die Potsdamer Kantorei, Vokalisen der Sängerin Gaby Bultmann – sie alle wirken zusammen, um eine wirklich gelungene Filmmusik zu den Szenen zu schaffen. Ganz besonders eindrucksvoll gelingt dies auf dem Höhepunkt der Mahlstrom-Sequenz, als die Musik die Katastrophe geradezu beängstigend spürbar macht.

|Der Song|

In der neuen Serie hat |Lübbe| den Abschlusssong, den zunächst Heinz Rudolf Kunze beisteuerte, ausgetauscht durch den englischsprachigen Song „I’ve foreseen this day“ der bekannten Popgruppe |Orange Blue| (Länge: ca. 4:30). Da die Lyrics nicht beigefügt sind, muss man sehr genau hinhören, um etwas zu verstehen. Aber es scheint um „Perlenaugen“ zu gehen. O yeah, baby.

_Unterm Strich_

Mit diesem Hörbuch beginnt eine neue Staffel von POE-Hörspielen bei |Lübbe|. Waren die ersten vier Hörspiele schon ob ihrer hervorragenden Produktionsqualität mit dem |Deutschen Phantastik Preis| 2004 ausgezeichnet worden, so legt |Lübbe| diesmal noch einen drauf. War die erste Staffel vom Charakter eines Kammerspiels gekennzeichnet, so weitet sich nun die Bühne zu Breitwandfilm-Cinemascope-Dimensionen. Sound, „Film“-Musik, Sprecher, Schnitt, Erzählstruktur – alle tragen zu einem hörbaren Kinoerlebnis bei.

Der Ausflug in Phantasieregionen dauert nur rund eine Stunde, aber das ist völlig in Ordnung – die Erzählstruktur trägt nur zwei bis drei Höhepunkte und ist am Ende offen. Will heißen: Hier muss offenbar noch einiges nachfolgen. Bin schon sehr gespannt.

|Umfang: 68 Minuten auf 1 CD|