Edgar Allan Poe – Eleonora (POE #12)

X-Mystery: Die Wahrheit ist dort draußen

„Eleonora“ ist der zwölfte Teil der Edgar-Allan-Poe-Reihe von LübbeAudio, die unter Mitwirkung von Ulrich Pleitgen und Iris Berben, eingebettet in eine Rahmenhandlung, Erzählungen des amerikanischen Gruselspezialisten zu Gehör bringt.

Ulrich Pleitgen hat auch an den ersten Hörbüchern der Serie mitgewirkt:

#1: Die schwarze Katze
#2: Die Grube und das Pendel
#3: Der Untergang des Hauses Usher
#4: Die Maske des Roten Todes
#5: Sturz in den Mahlstrom
#6: Der Goldkäfer
#7: Die Morde in der Rue Morgue
#8: Lebendig begraben

Die vier neuen Folgen der POE-Reihe sind:

#9: Hopp-Frosch
#10: Das ovale Portrait
#11: Der entwendete Brief
#12: Eleonora

Die nächsten vier Folgen sind:

14. Die längliche Kiste
15. Du hast es getan
16. Das Fass Amontillado
17. Das verräterische Herz

Der Autor

Edgar Allan Poe (1809-49) wurde mit zwei Jahren zur Vollwaise und wuchs bei einem reichen Kaufmann namens John Allan in Richmond, der Hauptstadt von Virginia auf. Von 1815 bis 1820 erhielt Edgar eine Schulausbildung in England. Er trennte sich von seinem Ziehvater, um Dichter zu werden, veröffentlichte von 1827 bis 1831 insgesamt drei Gedichtbände, die finanzielle Misserfolge waren. Von der Offiziersakademie in West Point wurde er ca. 1828 verwiesen. Danach konnte er sich als Herausgeber mehrerer Herren- und Gesellschaftsmagazine, in denen er eine Plattform für seine Erzählungen und Essays fand, seinen Lebensunterhalt sichern.

1845/46 war das Doppeljahr seines größten literarischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfolgs, dem leider bald ein ungewöhnlich starker Absturz folgte, nachdem seine Frau Virginia (1822-1847) an der Schwindsucht gestorben war. Er verfiel dem Alkohol, eventuell sogar Drogen, und wurde – nach einem allzu kurzen Liebeszwischenspiel – am 2. Oktober 1849 bewusstlos in Baltimore aufgefunden und starb am 7. Oktober im Washington College Hospital.

Poe gilt als der Erfinder verschiedener literarischer Genres und Formen: Detektivgeschichte, psychologische Horrorstory, Science-Fiction, Short Story. Neben H. P. Lovecraft gilt er als der wichtigste Autor der Gruselliteratur Nordamerikas. Er beeinflusste zahlreiche Autoren, mit seinen Gedichten und seiner Literaturtheorie insbesondere die französischen Symbolisten. Seine Literaturtheorie nahm den New Criticism vorweg.

Er stellt meines Erachtens eine Brücke zwischen dem 18. Jahrhundert und den englischen Romantikern (sowie E.T.A. Hoffmann) und einer neuen Rolle von Prosa und Lyrik dar, wobei besonders seine Theorie der Short Story („unity of effect“) immensen Einfluss auf Autoren in Amerika, Großbritannien und Frankreich hatte. Ohne Poe sind Autoren wie Hawthorne, Twain, H.P. Lovecraft, H.G. Wells und Jules Verne, ja sogar Stephen King und Co. schwer vorstellbar. Insofern hat er den Kurs der Literaturentwicklung des Abendlands maßgeblich verändert.

Die Sprecher

Ulrich Pleitgen, geboren 1946 in Hannover, erhielt seine Schauspielerausbildung an der Staatlichen Hochschule für Musik und Theater in seiner Heimatstadt. Pleitgen wurde nach seinen Bühnenjahren auch mit Film- und Fernsehrollen bekannt. Er hat schon mehrere Hörbücher vorgelesen und versteht es, mit seinem Sprechstil Hochspannung zu erzeugen und wichtige Informationen genau herauszuarbeiten, ohne jedoch übertrieben zu wirken. In der POE-Reihe interpretiert er den Edgar Allan Poe und andere Figuren

Iris Berben gehört zu den bekanntesten und profiliertesten Schauspielerinnen hierzulande. Ihr Repertoire umfasst Krimis („Rosa Roth“) ebenso wie Komödien und klassische Werke. Für ihre Leistungen wurde sie u. a. mit dem Bambi und mit der Goldenen Kamera ausgezeichnet. In der POE-Serie interpretiert sie die weibliche Hauptrolle Leonie Goron und andere Figuren.

Außerdem wirken Till Hagen als Dr. Templeton sowie eine Reihe anderer Sprecher mit. Till Hagen wurde 1949 in Berlin geboren und erhielt seine Schauspielausbildung an der Max-Reinhardt-Schule. Zeitgleich drehte er seinen ersten Kinofilm, „7 Tage Frist“. Es folgten Engagements an den Stadttheatern Dortmund und Bielefeld. Später studierte er Deutsch und Theaterpädagogik. Als Sprecher beim Deutsche-Welle-Fernsehen und im Hörfunk wurde er genauso bekannt wie als Synchronstimme u. a. von Kevin Spacey.

Das Titelbild

Das monochrome Titelbild, das Simon Marsden (www.simonmarsden.co.uk) geschossen und mit einer speziellen Technik entwickelt hat, zeigt bei „Eleonora“ ein männliches Statuengesicht, das halb im Schatten liegt und von Efeu oder Ähnlichem halb verdeckt wird. Dieses Licht- und Schattenspiel – fachlich „chiaroscuro“ genannt – führt zu einem unheimlichem Effekt. Denn oberhalb der „normal“ angebrachten Augen des Statuengesichts sind zwei Lichtreflexe zu sehen, die wie ein zweites Augenpaar wirken. Es sieht aus, als würde uns ein zweites Wesen aus dem Schatten heraus beobachten.

Das Motiv der Rückseite ist immer noch das gleiche wie in der ersten Serie: das von leuchtendem Nebel umwaberte ausgebrannte Gemäuer einer alten Abtei, deren leere Fenster den Betrachter ominös anstarren.

Das Booklet

Jede CD enthält ein achtseitiges schwarz gehaltenes Booklet. Neben dem Eingangszitat auf Deutsch und Englisch wird hier auch der gesamte Stab und die Sprecherbesetzung der Rollen aufgeführt.
Es gibt einen kleinen Abriss der Vorgeschichte sowie Informationen zur Gothicband L’ÂME IMMROTELLE. Die Rückseite der CD fasst die Handlung zusammen und listet die wichtigsten Mitwirkenden auf.

Vorgeschichte

Ein Mensch ohne Namen. Und ohne jeden Hinweis auf seine Identität. Das ist der Fremde, der nach einem schweren Unfall bewusstlos in die Nervenheilanstalt des Dr. Templeton eingeliefert und mittlerweile wieder entlassen wurde. Diagnose: unheilbarer Gedächtnisverlust. Er begibt sich auf eine Reise zu sich selbst. Es wird eine Reise in sein Unterbewusstsein, aus dem schaurige Dinge aus der Vergangenheit aufsteigen. Woher kommen sie? Was ist passiert? Was hat er getan?

Schon acht Stationen hat der Fremde durchwandert, stets begleitet von Albträumen. Nach einem Aufenthalt in einem Gasthaus begibt sich der Fremde ohne Gedächtnis auf eine Seereise, die ihn zunächst nach New Orleans führt. Aus einem Schiffswrack rettet er eine schöne Landsmännin, Leonie Goron. Sie weist ihn darauf hin, dass man ihm möglicherweise nach dem Leben trachtet. Nur zu wahr, denn auf der letzten Station vor dem Ziel New Orleans muss sie ihm das Leben retten. Selbst in der großen Stadt bleibt Poe von Albträumen – über „Die Morde in der Rue Morgue“ – nicht verschont.

Der Vorspann rekapituliert sehr knapp die ganze Vorgeschichte bis hin zum Inhalt von „Der entwendete Brief“, der elften Folge der Serie. Das erleichtert den Einstieg in die Serie ein wenig, aber nur minimal.

Handlung

(Geräusche von Wind und Wellen und Möwenschreie.) Auf Sullivan’s Insel glauben sich Leonie Goron und der Mann, der sich Poe nennt (aber vermutlich Jimmy Farrell ist) vor der Verfolgung durch Dr. Templeton sicher. Ihr Freund Appo hat ihnen Proviant dagelassen, und die Dokumente, die sie aus Templetons Haus entwendet haben, erweisen sich als überaus aufschlussreich.

Das Pärchen macht es sich an seinem Zufluchtsort in einer kuscheligen Höhle so gemütlich wie nur möglich, woraufhin eines zum anderen führt: Küsse, Liebe, Ewigkeit. Wie man sich inzwischen leicht denken kann, hat Poe mal wieder einen Traum.

Der Traum

In einem schönen Tal hört er die Stimme von Eleonora, die das Gesicht von Lucy Monaghan (siehe „Das ovale Portrait“) trägt: Sie ist jung und wunderschön, seine erste Jugendliebe. In diesem verborgenen Tal trifft er sie zu mehr oder weniger unschuldigen Stelldicheins. Doch alles hat einmal ein Ende, und so auch das Leben Eleonoras: Sie werde schon bald sterben, sagt sie. Als ihr Todestag gekommen, vertraut sie ihrem sterbenselenden Geliebten an, sie werde ihn nie ganz verlassen und über ihn wachen … Sein schönes Tal der Liebe ist dem Schatten des Todes erlegen, und alles ist in Winter gehüllt.

(Der zweite Teil des Traums wird erst am Ende dieser Episode erzählt, ich will ihn aber wegen des Zusammenhangs schon jetzt skizzieren.) – Poe kommt als eine Art Außenseiter in eine Stadt, wo man den Provinztrottel prompt verspottet. Eine sehr nette alleinstehende Dame bietet ihm Hilfe an und lädt ihn in ihr Haus ein, wo sie ihren Vater pflegt. Nach einem Jahr des harmonischen Zusammenlebens fragt sie ihn, ob er sie nicht heiraten möchte. Er sagt ja, doch nach der Hochzeit beginnen die Albträume, in denen ihm Eleonora erscheint …

Auch auf der Sullivan’s-Insel schlägt die Stimmung um: Ein Gewitter zieht auf. Als Appo wiederkehrt, bringt er einen Taschendieb namens Jack die Ratte mit. Dieser stammt aus New York City. In seinen Stiefelabsatz hat er Nägel in der Anordnung eines Kreuzes einschlagen lassen – um den Teufel abzuwehren, behauptet er. Daher fällt es Poe und Leonie leicht, die Spuren zu deuten, die nach dem Regen in der feuchten Erde zu ihrer Höhle und wieder herausführen. Jemand hat ihre Sachen durchwühlt.

Da ihnen Jack gar nicht geheuer ist und vielleicht sogar Helfer hat, versuchen sie sich durch den Bau einer Fallgrube zu schützen. Und prompt fängt sich darin auch einer der Übeltäter. Aber damit fangen die Schwierigkeiten erst richtig an. Was wollen diese Verbrecher?

Nun, wer Sullivan’s Insel aus der „Goldkäfer“-Episode kennt, der ahnt, um was es an diesem Ort gehen könnte: um den Schatz eines Piraten.

Mein Eindruck

Was an dieser Episode auffällt, ist erstens die Wiederholung von Motiven aus der „Goldkäfer“-Episode (CD Nr. 6) und der sonderbare Kontrast mit Poes Traum von Eleonora. Während auf der Insel der Teufel los ist, erlebt Poe vorher und nachher die zwei Hälften des „Eleonora“-Traums, die einander wiederum widersprechen. Herrscht zunächst ein idealisiertes Liebesidyll, so wird es durch den Tod drastisch beendet. Die zweite Hälfte bringt jedoch nur scheinbar Erleichterung, die durch die Ehe mit der zweiten Frau gefestigt werden soll. Die Albträume sind ein Zeichen des Schuldgefühls, die große Liebe – Eleonora – verraten zu haben.

Schaut man sich die restliche Handlung an, so gibt es nur einen Aspekt, der damit korrespondiert: Poes Beziehung zu Leonie Goron wird intensiviert und findet wohl so etwas wie ihre Erfüllung. Diese wird lediglich angedeutet. (Schließlich ist das hier eine jugendfreie Veranstaltung.) Ihr entspricht die erste Hälfte des Traums, als handle es sich um eine Erinnerung. Das traurige Ende der Liebesidylle verheißt nichts Gutes für Poes Liebe zu Leonie.

Und in der Tat: Nach der zweiten Hälfte des Traums beschließt er, sich sang- und klanglos von ihr zu trennen, was nicht besonders nett von ihm ist. Doch warum sollte er – wie sein Alter Ego im Traum – Schuldgefühle haben? Hat er vielleicht eine Frau in einer anderen Stadt, oder erinnert er sich an seine Beziehung zu Lucy Monaghan?

Es warten noch eine Menge Rätsel auf ihre Lösung. Diese Serie könnte schier endlos weitergehen. Doch Poes Trennung von Leonie bedeutet wohl das Ende der Mitwirkung von Iris Berben an der Serie. Schade drum, denn sie ist eine große und bedeutende Bereicherung der Episoden.

Die Sprecher / Die Inszenierung

Mr. Poe alias Jimmy Farrell

Pleitgen spielt die Hauptfigur, ist also in jeder Szene präsent. Er moduliert seine Stimme ausgezeichnet, um das richtige Maß an Entsetzen, Erstaunen oder Neugier darzustellen. Im ersten Teil des „Eleonora“-Traumes schwelgt sein Poe in verliebter Seligkeit, und das kann man deutlich hören. Umso gequälter klingt Poe in der zweiten Traumhälfte, als ihn die tote Geliebte in seinen Albträumen heimsucht. Dieser Stimmungswandel leitet die Trennung von Leonie ein und macht diesen abrupten Schritt ein wenig nachvollziehbarer.

Miss Leonie Goron

Iris Berben bietet Pleitgens melancholischem und nachdenklichem Poe einen lebhaften Widerpart mit ihrer Leonie Goron. Und wie der grüblerische Poe sogar selbst merkt, zeichnet sich Leonie durch ungewöhnlichen Scharfsinn und eine kluge Feinfühligkeit aus. Sie hat erheblichen Anteil an Poes Rettung in der Rahmenhandlung von Episode 5 („Mahlstrom“). Spätestens ab „Der Goldkäfer“ wirkt sie wie eine kluge Freundin, die durch ruhige Überlegung und kluge, verständnisvolle Fragen bald zu seiner unverzichtbaren Ratgeberin wird.

Musik und Geräusche

Mindestens ebenso wichtig wie die Sprecher sind bei den POE-Produktionen auch die Geräusche und die Musik. Hut ab vor so viel Professionalität! Die Arbeit des Tonmeisters beim Mischen aller Geräusche ist so effektvoll, dass man sich – wie in einem teuren Spielfilm – mitten im Geschehen wähnt. Die Geräuschkulissen sind entsprechend lebensecht und detailliert gestaltet.

Die Musik erhält daher eine umso wichtigere Bedeutung: Sie hat die Aufgabe, die emotionale Lage der zwei Hauptfiguren und ihres jeweiligen Ambientes darzustellen. Diese untermalende Aufgabe dient diesmal mehr der Gestaltung ganzer Szenen, so etwa in dem Eleonora-Traum oder beim nächtlichen Kampf auf der Goldkäferinsel.

Musiker des Ensembles „Musical Halensis“ und des Filmorchesters Berlin sowie die Potsdamer Kantorei an der Erlöserkirche – sie alle wirken zusammen, um eine wirklich gelungene Filmmusik zu den Szenen zu schaffen. Das Booklet führt die einzelnen Teilnehmer detailliert auf, so dass sich niemand übergangen zu fühlen braucht.

Der Song

In der dritten Staffel der Serie hat Lübbe den Abschlusssong, den zunächst Heinz Rudolf Kunze beisteuerte, ausgetauscht durch den deutschsprachigen Song „Fünf Jahre“ von der österreichischen Gothicband L’ÂME IMMORTELLE. Im Booklet finden sich Angaben zur Sängerin Sonja Kraushofer und Bandleader Thomas Rainer. Der Song ist dem aktuellen Album „Gezeiten“ entnommen, dessen Cover im Booklet abgebildet ist.

Entsprechend der Musikrichtung ist die Instrumentierung heavy, düster, aber zugleich gefühlvoll. Das erinnert an die Werke der Band EVANESCENCE. Wenigstens ist aber der Abschlusssong in deutscher Sprache gehalten und somit halbwegs verständlich.

Unterm Strich

Die Serie hat sich lange genug um New Orleans als Schauplatz und um Dr. Templeton als Bösewicht gedreht. Nun ist es an der Zeit für einen Wechsel des Schauplatzes und der Hauptpersonen. Daher müssen wir künftig wohl auf Iris Berben alias Leonie Goron verzichten, was ein herber Verlust ist. Doch da die Serie nach POE und nicht nach Leonie benannt ist, kann nur dieser gequälte Mann im Mittelpunkt stehen. Schließlich hat er das Geheimnis seiner Existenz zu lösen.

Die Parallele zu den immer noch nicht restlos aufgeklärten Umständen des Todes des realen E.A. Poe sind nicht zu übersehen. „Die Wahrheit ist irgendwo dort draußen“, heißt es in „Akte X“. Dies könnte das Motto für Poes Lebensweg in der Hörspielserie sein. Hoffen wir, dass Poes Mulder immer auch eine Scully an seiner Seite hat.

Die neue Staffel weist ein ebenso hohes Qualitätsniveau wie die bisherigen zwei Staffeln auf. Ob die nächste Staffel (s. o.) wirklich wie angekündigt im November kommt, ist noch nicht sicher, wie der Webseite http://www.poe-hoerspiele.de zu entnehmen ist. Ulrich Pleitgen war bis Mitte Oktober mit Dreharbeiten beschäftigt.

64 Minuten auf 1 CD
Basierend auf: Eleonora, ca. 1845
www.luebbe.de