Kanehara, Hitomi – Tokyo Love

In Tokyo ist die Welt noch in Ordnung. Die japanischen PISA-Ergebnisse könnten besser nicht sein, in der Wirtschaft läuft alles rund und in den U-Bahnen riecht es nicht nach menschlichen Fäkalien.

Trotzdem. Auch Tokyo hat seine Abweichler. Hitomi Kanehara, zweiundzwanzigjährige Autorin und jüngste Trägerin des Akutawaga-Preises, zum Beispiel. Noch eine asiatische Pseudoskandalnudel?, fragt man sich, doch ein Blick auf den Klappentext offenbart Erstaunliches. Kanehara hat tatsächlich mit siebzehn Jahren die Schule abgebrochen, um ihre literarische Karriere zu verfolgen. Dürfen wir in ihrem Debüt „Tokyo Love“ also mehr erwarten als heiße Luft und überzogenes Kritikerlob für biedere Sexszenen?

Die neunzehnjährige Lui ist eigentlich ein so genanntes Barbiegirl. Sie hat sich ihre Haare platinblond gefärbt und liebt es, mit ihren Freundinnen über Banalitäten zu tuscheln. Manchmal trinkt sie ein Bier, das schon, doch an und für sich ist sie eine Jugendliche in Tokyo, die versucht, sich von ihren Eltern abzuheben, aber doch nie zu weit geht.

Das ändert sich, als sie Ama kennen lernt. Der junge Punk mit der roten Irokesentolle, den Piercings und dem Drachentattoo auf dem Rücken fasziniert sie ungemein, doch was sie am meisten anzieht, ist seine Zunge. Sie ist gespalten wie eine Eidechsenzunge, eine split-tongue, eine besonders extreme Form von Körperschmuck. Lui möchte auch unbedingt so eine Zunge haben und geht deshalb mit Ama zu Shiba-San, einem Piercer und Tätowierer, der ihr nicht nur die Zunge pierct und ihr beim Weiten des Loches hilft, was für die Spaltung notwendig ist, sondern sie auch zu einer willigen Sexsklavin macht. Er ködert sie, indem er ihr ein kostenloses Tattoo verspricht, wenn er seine sadistischen Fantasie an ihr ausleben darf. Ohne dass Ama, mit dem sie mittlerweile fest zusammen ist, etwas davon mitbekommt, lässt sie sich auf dieses Angebot ein, doch eines Tages ist Ama verschwunden …

Völlig unvorbereitet wird der Leser |in medias res| geworfen, wenn er die erste Seite aufschlägt. Lui und Ama diskutieren über split-tongues und die verschiedenen Methoden, um ein Piercingloch zu weiten.

Ich bin mir sicher, bereits an dieser Stelle scheiden sich die Geister. Wer Fan von derartigen „jugendlichen“ Tätigkeiten wie Piercen und Tätowieren ist, wird sich innerhalb der manchmal, zugegeben, etwas zu langen Erklärungen über diesen Sport sicherlich freuen, doch wem Metall im Körper so fern ist wie |Eminem| von Volksmusik, der wird das Buch wohl gelangweilt ganz hinten ins Bücherregal stellen und es vergessen. Kanehara schreibt für ein junges, interessiertes Publikum und nimmt sich deswegen nicht wirklich Zeit, um bestimmte Phänomene zu erklären. Wie in einer Kurzgeschichte lässt sie alles Unnötige weg, um sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Das Wesentliche ist die Handlung. Nur leider deuten sich hier ein paar Schwächen an. „Tokyo Love“ mutet zwar eher wie eine auf 117 Seiten ausgedehnte Kurzgeschichte an, das ist sehr richtig, aber das entbindet die Autorin trotzdem nicht davon, eine Handlung mit Hand und Fuß auf die Beine zu stellen. Kanehara vernachlässigt bei all den „verstümmelten“ Körperteilen aber gerade eben diese. Es geschieht viel zu wenig und das Wenige viel zu diffus, um „Tokyo Love“ einen sehr guten Roman nennen zu können.

Warum sollte man Hitomi Kaneharas Debüt trotzdem lesen? Vielleicht, weil die nicht ganz gare Handlung zusammen mit einem nicht ganz perfekten Schreibstil wider Erwarten einen ziemlichen Sog entwickelt?

Nun, wie das geschieht, ist mir auch ein Rätsel, denn die Fakten sind, dass Kanehara die Gefühlswelt ihrer jugendlichen Protagonistin aus der Ich-Perspektive annehmbar herüberbringt, aber leider wirkt der Stil der Japanerin an manchen Stellen ein wenig kalt. Das bedeutet nicht, dass Gefühle nicht in ihrem Vokabular vorkämen. Sie versucht selbige sehr wohl darzustellen, nur leider entwickeln diese nicht die Wärme und das Eigenleben, das zu spüren man sich beim Lesen wünscht.

Ab und an pflegt Lui zwar den einen oder anderen tief gehenden Gedanken (|“Ich selbst will ja auch nur vom Äußeren her beurteilt werden. Ich stellte mir oft vor, wenn es auf der ganzen Erde keinen einzigen Ort ohne Sonnenschein geben würde, dann müßte ich eben selbst eine Technik erfinden, mich in ein Schattenwesen zu verwandeln.“| Seite 50), aber das reicht nicht, um das Buch von seiner leichten Oberflächlichkeit zu kurieren.

Wieso gefällt das Buch dann trotzdem ganz gut? Ist es vielleicht so wie bei mathematischen Gleichungen? Ein Minus an Handlung und ein Minus an Schreibstil ergeben ein Plus im Gesamtbild?
Klingt komisch, ist aber so. Ich würde wieder zu einem Kanehara greifen.

http://www.list-verlag.de

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