Andreas Eschbach über die Erzählungen von James Tiptree jr. (Alice B. Sheldon)

Wanderungen entlang der Grenze des Wahnsinns
Von Andreas Eschbach

Falls Sie dieses Nachwort zum Erzählband „Houston! Houston!“ (Septime Verlag 2014) in der Hoffnung lesen, mehr über die Autorin [Alice B. Sheldon] zu erfahren, die unter dem Namen James Tiptree jr. zu Weltruhm gelangt ist, muss ich Sie enttäuschen: Das werden Sie hier nicht.

Was das anbelangt, muss ich Sie auf die Nachworte der übrigen Bände dieser Reihe verweisen, wo Berufenere, als ich es bin, sich dazu geäußert haben. In diesem Nachwort erfahren Sie lediglich etwas über den Autor Andreas Eschbach und darüber, welchen Einfluss die Storys von James Tiptree jr. auf diesen Autor gehabt haben. Was, zugegeben, nicht jeden interessieren mag; sollten auch Sie eher zu denen zählen, die angesichts dieser Perspektive mit den Schultern zucken und „Na und?“ denken, dann nutzen Sie Ihre Lebenszeit vermutlich besser, wenn Sie die Lektüre des vorliegenden Buches jetzt als abgeschlossen betrachten und sich anderen, interessanteren Dingen zuwenden.

Die Frage, um die es geht, ist also die: Wie funktioniert der Einfluss, den ein Autor auf einen anderen haben kann? Wobei ich das letztgültig auch nicht erklären kann; ich kann sozusagen nur ein Fallbeispiel liefern. Man mag es allerdings insofern bemerkenswert finden, als der Kontakt zwischen James Tiptree jr. und mir sich auf die rasche Lektüre einiger weniger Stories beschränkt hat, rein zeitlich also von einer sehr kurzen Exposition gesprochen werden muss. Eher ein Fly-by-Manöver als eine Landung mit ausgiebiger Erkundung, könnte man sagen – und trotzdem hat mich diese Lektüre geprägt. Zeit, so können wir daraus schließen, spielt bei der Autorenbeeinflussung keine wesentliche Rolle.

Als mich der Herausgeber dieser Reihe des Septime-Verlags 2013 gefragt hat, ob ich James Tiptree jr. kenne, war meine spontane Antwort: Ja, klar. War ein großer Einfluss.

Doch als ich anfing, mich für dieses Nachwort erneut mit ihren Geschichten auseinanderzusetzen und mich für das Leben zu interessieren, das sie geführt hat, dämmert mir, dass ich die Größe dieses Einflusses bislang eher unterschätzt habe.

Ich kann nicht einmal mehr sagen, was ich wann von Tiptree gelesen habe. Alles, woran ich mich erinnere, ist, dass ich in etwas reiferem Alter – sprich, in einem Alter, als ich schon begonnen hatte, auf Autorennamen zu achten – eines Tages eine Tiptree-Anthologie in die Hand bekam, und dass ich bei der Lektüre einer Geschichte dachte: Hey, die kenn ich doch! Aber auch hier muss ich passen, was Details anbelangt. Welche Anthologie das war, woher ich sie hatte, welche Story es gewesen ist, die mir früher irgendwann schon einmal begegnet ist – oder gar, wann und wo: keine Ahnung.

Und ich bin überzeugt: Es spielt auch keine Rolle. So, wie das Meer überall salzig ist, spürt man einen Autor in jedem seiner Texte.

Wobei es zu viel gesagt wäre, wenn ich behaupten würde, dass mir die Kurzgeschichten von Tiptree gefallen hätten. Das haben sie nicht, das weiß ich noch. Aber fasziniert haben sie mich. Beschäftigt. Sie „hatten etwas“, das andere Storys nicht hatten.

Und das können wir als wesentlichen Punkt an dieser Stelle schon festhalten: Dieses Gefühl, das man meint, wenn man sagt, „diese Storys haben etwas“, ist das deutlichste Symptom, dass in diesem Moment etwas geschieht. Dass man von einem Text beeinflusst wird.

Wie ich mir das im Detail erkläre, dazu später mehr. Zunächst gilt es, eine andere Hypothese, warum ich gefunden haben könnte, dass „diese Geschichten etwas hatten“, aus dem Weg zu räumen, weil sie, fürchte ich, selbigen verstellt.

Damit meine ich natürlich den einen Umstand, dieses eine Faktum, das, wenn ich mir anschaue, was im Lauf der Zeit über die Autorin geschrieben wurde, alles andere zu überlagern scheint, ach was, geradezu neonmäßig überstrahlt: Sie schrieb unter dem Namen James Tiptree jr., aber sie war eine Frau!
Ich muss Ihnen was sagen: Das hat mich schon damals kein bisschen beeindruckt.

Es war bereits bekannt, vielleicht lag es daran. Der Überraschungseffekt hat bei mir nie eine Chance bekommen, ich konnte nie von einer entsprechenden Enthüllung überrascht, ja überrumpelt werden. Es stand auf der Rückseite des Buches, im kursiv geschriebenen „über den Autor“-Teil: James Tiptree jr. ist das Pseudonym der amerikanischen Autorin Alice Sheldon. Punkt. Und dann noch ein paar Lebensdaten.

Woran ich mich noch erinnere, ist, dass es bei mir so etwas wie ein kurzes Stirnrunzeln auslöste, das zu lesen. Einen Gedanken wie: „Coole Idee“. Aber schon damals wusste ich, dass das soo neu als Idee auch wieder nicht war – zwei Jahrhunderte zuvor hatte eine Frau unter dem Namen George Sand Bücher geschrieben … ja, und nicht zuletzt war ich mit den Romanen Enid Blytons aufgewachsen, den „Fünf Freunden“, deren schillerndste Figur Georgina ist, das Mädchen, das darauf besteht, als Junge behandelt zu werden und die von aller Welt nur George genannt wird.

Neu war die Idee nur in Bezug auf die Welt der SF. Und die Aufregung, die diese „Enthüllung“, was man so liest, damals ausgelöst haben muss, kann ich, offen gestanden, heute nur schwer nachvollziehen.

Vor allem kann ich nur schwer nachvollziehen, wie man jemals glauben konnte, diese Texte habe ein Mann geschrieben: Tiptrees Storys sind so randvoll mit eindeutig weiblichen Erfahrungen, so überdeutlich aus weiblicher Perspektive geschrieben, dass jemand, dem man sie anonym vorgelegt hätte – ohne diesen überaus suggestiven James, ohne diesen geradezu perfiden Zusatz jr. (der unweigerlich das Bild eines leicht blasierten Jünglings aus gutem Hause evoziert, auf dem die beträchtlichen Hoffnungen und Erwartungen eines strengen Vaters ruhen) –, eigentlich auch damals zu diesem Schluss hätte kommen müssen.

Wenn ich mir etwa die Storys im vorliegenden Band ansehe: Würde ein Mann das Bild eines Penis so wie in A MOMENTARY TASTE OF BEING verwenden? Nein, das ist der kritische Blick einer Frau, genau wie die späteren Betrachtungen über den „mächtigen Mann“. Auch die Überlegungen, wie der Sex an Bord des Raumschiffes kanalisiert oder unterdrückt werden kann, sind Überlegungen aus weiblicher Sicht. Sexuelle Gewalt ist ein immer wiederkehrendes Motiv in Tiptrees Storys (hier etwa in YOUR FACES, OH MY SISTERS!), das Erleben, dass der Mann der Frau kräftemäßig überlegen ist und das nur zu oft ausnutzt. HOUSTON, HOUSTON, DO YOU READ? schließlich ist eine geradezu extremfeministische Vision.

Mit anderen Worten: Hier muss die Magie der Namen gewirkt haben. Das Pseudonym war so überzeugend das eines Mannes (dass sich eine Frau ein solches Pseudonym wählen würde, dürfte in der Tat schwer vorstellbar gewesen sein), die Texte dagegen atmeten so deutlich die weibliche Perspektive, dass bei den Lesern unbewusst eine erhebliche kognitive Dissonanz entstanden sein dürfte, das Gefühl, dass »etwas nicht stimmt“, ohne dass man sagen kann, was.

Womit ich wohlgemerkt nicht sagen will, eine Frau könne nicht aus der Perspektive eines Mannes schreiben (oder „wie ein Mann“, was immer das heißen mag): Das können Frauen natürlich ohne Weiteres. Zahllose Autorinnen tun es jeden Tag, so wie auch männliche Autoren aus der Perspektive von Frauen schreiben. Das ist, ein normales Maß an Lebenserfahrung, Menschenkenntnis und Einfühlungsvermögen vorausgesetzt, nichts Besonderes.

Der Punkt ist, dass Tiptree – zumindest meinem Gefühl nach – gar keinen Wert darauf gelegt hat, wie ein männlicher Autor zu wirken.

Genauso wenig Energie verwendet Tiptree auf technische Details. Wundersame Maschinen funktionieren eben so wie beschrieben, Punkt. Ein Raumschiff ist ein Raumschiff, ein Antrieb ein Antrieb, fertig. Kein Technobabbel, keine sonderliche Mühewaltung, dem Leser seine Skepsis abzunehmen: Diesbezüglich muss er schon in Vorleistung treten.

Mit biologischen oder chemischen Fakten dagegen sieht es anders aus. Auf deren Detaillierung verwendet Tiptree viel Sorgfalt (vielleicht ein weiteres Zeichen dafür, dass Tiptree nicht darauf abzielte, wie ein männlicher Autor zu wirken: Waren nicht schon in der Schule vor allem die Mädchen gut in Chemie und Bio?). Auffallend viele ihrer Geschichten basieren auf biologischen Fragen oder Metaphern: So geht es oft um Fortpflanzung, Überbevölkerung – und gern auch mal um Schädlingsbekämpfung, mit den Menschen in den eher unvorteilhaften Positionen.

Eins kann man jedenfalls mit Bestimmtheit sagen: Tiptree betreibt, anders als viele andere Science-Fiction-Autoren, keinerlei Verherrlichung der menschlichen Spezies.

Eine solche Haltung kann man auf vielerlei Weisen begründen, aber in ihrem Fall fand ich es äußerst einleuchtend zu erfahren, dass sie lange beim Geheimdienst gewesen ist: Eine Tätigkeit, bei der man sicherlich nicht nur lernt, den Dingen auf den Grund zu gehen – kein schlechtes Training für einen Autor phantastischer Geschichten, so gesehen –, sondern die einen vermutlich bisweilen auch Blicke in menschliche Abgründe tun lässt, die nicht leicht zu verkraften sind. Tiptrees gelegentliche Anwandlungen von Misanthropie sind damit nicht nur überzeugend erklärt, sondern, fürchte ich, auch fundiert.

Sind Tiptrees Storys wirklich SF? Na klar, sagt man spontan, aber die Frage lohnt einen zweiten Blick. Das Muster der klassischen Science-Fiction – man nehme eine technische Idee und spiele die sich daraus ergebenden Möglichkeiten und Konsequenzen durch, unabhängig von ihrer realen Machbarkeit oder der echten Wahrscheinlichkeit der ihr zugrunde liegenden Hypothese – trifft bei den meisten ihrer Storys nicht zu. Selbst da, wo es das zu tun scheint, muss man schon ein bisschen zerren und ziehen, damit es passt.

Tatsächlich geht es in diesen Geschichten nicht um das Weiterdenken von technischen oder wissenschaftlichen Hypothesen. Viel eher sind sie Illustrationen innerer Zustände.

Damals hätte ich das noch nicht so formulieren können, aber ich weiß, dass es damals schon so empfunden habe, wie ich es heute immer noch empfinde: Das, was Tiptrees Storys in meinen Augen eint, ist das Wort „Wahnsinn“. Entkleidet man sie ihrer mehr oder minder pittoresken äußeren Gestalten, sind es allesamt Wanderungen entlang der Grenze zum Wahnsinn – und zwar kein ängstliches, behutsames, zaghaftes Schleichen auf Zehenspitzen, sondern ein neugieriger, selbstsicherer, forschender Marsch, bei dem man auch schon mal den ein oder anderen Fuß auf die andere Seite der Grenze setzt, um zu sehen, was dann passiert.

Sämtliche Erzählungen von James Tiptree jr

Die Geschichten in diesem Band

Nehmen wir die Storys in diesem Band.

HER SMOKE ROSE UP FOREVER ist Wahnsinn pur – ein zersplitterndes Bewusstsein, eine Geschichte, die das vollkommene Zerbrechen dessen, was wir für Realität halten, widerspiegelt.

A MOMENTARY TASTE OF BEING (Ein flüchtiges Seinsgefühl) beginnt vor dem Hintergrund äußerlichen Wahnsinns – die Erde ist so gut wie zerstört, ein Mitglied der Raumschiffsbesatzung überlegt, was die Zurückgebliebenen wohl gerade essen, und fragt sich: einander? Zu diesem Zeitpunkt beginnt aber auch die Realität an Bord schon, doppeldeutig zu werden, es kommt zu diversen Halluzinationen, unterschiedlichste Versionen dessen, was auf dem fremden Planeten passiert sein soll, kursieren, und weder die Figuren noch die Leser sind sich schlüssig darüber, was und wem sie glauben können. Der innerliche Wahnsinn spiegelt sich unter anderem in Aarons sexueller Besessenheit, und letztendlich geht die gesamte Mission in exaltierten geistigen Zuständen unter. Die Erklärung hinter allem – hinter dem Geschehen der Geschichte wie auch, gleichsam im Nebensatz, hinter der ganzen Menschheitsgeschichte –, die am Ende kurz anklingt, ist schließlich eine so radikale Umdeutung von allem, was wir als gesichert annehmen, dass eins von beidem – unser heutiges Weltbild oder das, auf das die Astronauten stoßen – ebenfalls in den Bereich des Wahnsinns zu rechnen ist.

THE PSYCHOLOGIST WHO WHO WOULDN‘T DO AWFUL THINGS TO RATS erzählt wieder von äußerem Wahnsinn – dem sinnloser Tierversuche – und innerem Wahnsinn – dem der Hauptfigur, die nach und nach und erstaunlich nachvollziehbar ins Delirium abtaucht.

SHE WAITS FOR ALL MEN BORN ist eine Geschichte, die in einer von Salvador Dalí gemalten Welt spielen könnte.

Und YOUR FACES, OH MY SISTERS! schließlich ist Wahnsinn reinsten Wassers, ein komplett außerhalb unserer Realität spielendes Erleben der Welt.

Natürlich gibt es andere Interpretationen von Tiptrees Werk. Inzwischen habe ich viele davon gelesen, und ja, zweifellos haben diese Deutungen mehr Hand und Fuß als meine. Aber darum geht es hier nicht. Hier geht es darum, wie die Lektüre dieser Storys auf mich gewirkt, was sie mir gesagt haben.

Als man mich bat, ein Nachwort für diesen Band zu schreiben, habe ich mich zum ersten Mal im Leben überhaupt mit dem Lebenslauf Alice Sheldons befasst. Als ich las, dass ihre Eltern sie schon im Kindesalter mit auf Expeditionen nach Afrika genommen haben, als ich die Fotos der sechsjährigen Alice im Dschungel gesehen habe, leuchtete mir das sofort ein: Genau so fühlen sich ihre Storys für mich an – wie Spaziergänge eines neugierigen, unerschrockenen, aber möglicherweise doch etwas überforderten Kindes am Rand eines Dschungels, von dem niemand mit letzter Sicherheit sagen kann, was darin lauern mag.

Sind wir nicht alle solche Kinder? Die technische Entwicklung der letzten hundert Jahre hat alle geistigen oder moralischen Fortschritte der Menschheit (falls man solche Fortschritte zu entdecken imstande sein sollte) weit hinter sich gelassen, fordert heute jeden normalen Menschen bereits bis aufs Äußerste – geschweige denn, dass jemand noch das Gefühl hätte, wesentlichen Einfluss darauf zu haben, wohin die Reise geht.

Doch dieses Kind, das da am Dschungel des Wahnsinns entlangspaziert, fürchtet sich nicht. Es ist neugierig. Es schaut nicht weg, es schaut hin, versucht in dem sinnverwirrenden Spiel von Licht und Schatten Sinn zu entdecken, Konturen auszumachen, herauszufinden, was sich dort verbergen mag.

Und das – diese Haltung, diese Unerschrockenheit, dieser Mut – war es, was mich damals beeindruckt hat, ohne dass ich mir dessen bewusst gewesen wäre.

Sämtliche Erzählungen von James Tiptree jr: Doktor Ain

Wenn etwas wirklich Wesentliches von einem Menschen zum anderen transportiert wird, geschieht das niemals über Belehrungen, Diskussionen, überhaupt Gerede. Manchmal kann man reden, bis einem die Zunge abfällt, ohne dass man sein Gegenüber erreicht – und dann wiederum gibt es Fälle, da geschieht es ganz schnell, ganz leicht, fast von selbst. In der Pädagogik spricht man davon, dass das Vorbild stärker wirke als alle Belehrungen und Ermahnungen. Doch obwohl das stimmt, will mir scheinen, dass dieses Phänomen damit nur unzureichend umfasst ist. Denn kennt das nicht jeder – dass es manchmal Begegnungen ganz flüchtiger Art sind, die einen tiefen Eindruck hinterlassen?

Man ist deprimiert, der Himmel hängt voller schwarzer Wolken – doch plötzlich sieht man jemanden lachen, den Kopf in den Nacken werfen vor Heiterkeit, ganz weit weg, am anderen Ende einer Bahnhofshalle, ohne dass man die leiseste Ahnung hätte, worum es geht … und auf einmal sind die schwarzen Wolken verschwunden, lässt der Druck aufs Gemüt nach.

Man trifft jemanden zwischen Tür und Angel, einen Fremden, der nur einen Satz zu einem sagt … aber dieser Satz hallt in einem nach, bringt einen zum Nachdenken, lässt einen wichtige Entscheidungen anders treffen, als man sie sonst getroffen hätte.

Und es gibt Geschichten, die man liest, nur einmal vielleicht oder eher nebenbei … und die einem ein Leben lang im Gedächtnis bleiben. Die sich festhaken, die man wiedererkennt, selbst wenn man sie eigentlich nicht wiedererkennt, sondern nur den Tonfall, in dem sie geschrieben sind, die Stimmung, die sie vermitteln, das innere Bild, das sie erzeugen.

Es ist keine Frage von Textinterpretation. Es hat tatsächlich nicht mal besonders viel mit Denken zu tun. Man muss nichts von literaturwissenschaftlichen Kategorien verstehen, damit das passieren kann.

Es ist eher eine Frage von Resonanz. Jemand sagt, tut oder schreibt etwas, das in einem anderen Menschen Resonanz auslöst. Man ist – vielleicht nur für diesen einen Augenblick – auf derselben Frequenz, und deswegen wird etwas transportiert, übertragen, weitergereicht. Und dafür spielt Zeit keine große Rolle; das geht ähnlich schnell wie die berühmte „Liebe auf den ersten Blick“: Ein Herzschlag genügt, und es ist passiert.

Sämtliche Erzählungen von James Tiptree jr: Liebe ist der Plan

Ich glaube, wenn ich als junger, durch Lektüre noch zutiefst beeindruckbarer Mensch eines vermittelt bekommen habe durch Tiptrees Storys, dann war es das Gefühl dafür, dass es, will man seine Phantasie voll ausloten, notwendig ist, sich bis an die Grenzen des Wahnsinns zu begeben. Dass man dabei keine Angst haben darf – und auch keine Angst zu haben braucht, wenn man nur mutig, neugierig und selbstbewusst an die Sache herangeht. Ihre Geschichten haben mich an die Hand genommen bei den ersten Schritten auf diesem Pfad, und mir den Mut vermittelt, Fragen nicht auszuweichen und Dinge bis zu Ende zu durchdenken.

Was nicht zwangsläufig heißt, dass man, wenn man den Mut hat, auch die Fähigkeit hat. Es gibt immer Fragen, die man nicht beantworten kann, oder die man falsch beantwortet, und es gibt immer Fälle, in denen man falsch denkt. Aber ohne den Mut, es zu wagen, wird es auch die Fälle nicht geben, in denen man richtig liegt. Und die Antworten auch nicht.

Und, wenn ich es recht bedenke, haben Tiptrees Storys auch ein Ziel vorgegeben, eine Messlatte, die es zu erreichen galt. Denn eigentlich ist es doch so: Eine Geschichte ist ja nur … eine Geschichte. Sätze, Wörter, Buchstaben, schwarze Farbe auf weißem Untergrund. Egal, wie verrückt es kommt, man kann jederzeit die Augen vom Text heben und ist wohlbehalten zurück in unserer Welt. (Die schon verrückt genug ist.)

Doch ist man das wirklich? Ist es nicht das, was eine wirklich gute Geschichte auszeichnet: Dass man nach der Lektüre ein anderer geworden ist? Dass sie einen verändert zurücklässt, und sei es nur ein bisschen? Aus einer wirklich guten Geschichte gibt es keinen einfachen Ausweg – weder für den Leser, noch für den Autor.

Andreas Eschbach (c) 2013ff

Hinweis der Redaktion: Der hier besprochene Erzählband ist im Septime-Verlag erschienen und leider vergriffen. Angebote finden sich im Online-Antiquariat.