Delphine de Vigan – No und ich

Die französische Autorin Delphine de Vigan führt ein Doppelleben. Tagsüber arbeitet sie in einem soziologischen Forschungsinstitut, nachts schlüpft sie in die Rolle der Schriftstellerin. Dabei ist unter anderem der international erfolgreiche Roman „No und ich“ entstanden.

Lou ist dreizehn Jahre alt und geht in die zehnte Klasse. Das ist ungewöhnlich in ihrem Alter, aber Lou ist hochintelligent und hat zwei Jahrgangsstufen übersprungen. Das macht es nicht gerade einfach für sie. Sie ist von Natur aus eine Einzelgängerin, sie liebt Experimente mit alltäglichen Dingen und ihre Familie ist am Tod ihrer kleinen Schwester zerbrochen.

Als sie in der Schule ein Referat halten muss, entschließt sich Lou dazu, etwas über junge obdachlose Frauen in Paris zu recherchieren. Dabei lernt sie die achtzehnjährige No kennen, die auf der Straße lebt. Was als zufälliges Treffen beginnt, entwickelt sich zu einer Art Freundschaft. Zuerst möchte Lou nur Informationen für ihr Referat haben, doch je mehr Details sie No aus der Nase zieht, umso mehr wächst ihr die junge Frau ans Herz. No hat es nicht gerade leicht gehabt, wie sich herausstellt. Sie ist in Pflegefamilien und Heimen aufgewachsen und schlägt sich mittlerweile selbst durchs Leben, immer darum bangend, ob sie am Abend einen Schlafplatz haben wird oder nicht.

Für Lou stellt No bald mehr dar als bloß ein Schulprojekt. Sie macht sie zu ihrem eigenen Projekt. Sie schlägt ihren Eltern vor, No aufzunehmen, damit sie sich einen Job suchen kann. Wider Erwarten stimmt ihre depressive Mutter dafür. No bekommt das Zimmer von Lous toter Schwester, und es scheint, als ob es nicht nur ihr gut tut, sondern auch durch die Familie einen Ruck gehen lässt. Doch niemand ahnt, was wirklich in der verschlossenen No vorgeht …

Genau genommen ist Delphine de Vigans Roman eigentlich ein Jugendbuch, denn die Protagonistin, aus deren Ich-Perspektive erzählt wird, ist dreizehn Jahre alt. Trotzdem ist das Buch so erwachsen geschrieben, dass es auch – und vielleicht sogar vor allem – ältere Leser anspricht. Lous hohe Intelligenz sorgt zwar dafür, dass ihr geistiger Horizont weiter ist als der ihrer älteren Klassenkameraden, aber ihre Kindlichkeit zeigt sich trotzdem oft. De Vigan stellt das Innenleben einer Hochintelligenten sehr überzeugend dar. Sie bindet Lous Wissenshunger diskret in das Geschehen ein und behandelt auch die sozialen und emotionalen Konsequenzen, die mit einer frühen Reife einhergehen. Lou lebt in ihrer eigenen Welt, und häufig fällt es ihr schwer, mit ihrer Umwelt zu kommunizieren. Sie hat keine Freunde in ihrer neuen Klasse und ihr fehlt das Selbstvertrauen, um Menschen an sich heranzulassen.

Die Autorin brilliert nicht nur beim „ich“ im Titel ihres Buches. Das Straßenmädchen No sowie auch die restlichen Charaktere der Geschichte werden mit Lous manchmal kindlichen, manchmal erwachsenen Augen betrachtet und lebendig und nachvollziehbar gezeichnet. Sie sind häufig düster, gerne auch depressiv. Jeder hat sein Päckchen zu tragen, eine eigene Geschichte zu erzählen, und trotzdem wirken die Personen wie aus dem Leben gegriffen.

Die Handlung wirkt zwar nicht ganz alltäglich, entwickelt aber dafür einen unausweichlichen, märchenhaften Charme. Die Art und Weise, wie Lou ihr Projekt „No“ anfasst, klingt auf den ersten Blick unrealistisch. Wer kommt schon auf die Idee, eine Streunerin bei sich aufzunehmen? Delphine de Vigan umschifft diese Klippe jedoch problemlos, indem sie die Geschichte so locker und sicher erzählt, dass man sich fragt, wieso eigentlich niemand sonst auf diese Idee kommt. Die Autorin tastet sich auf leisen Schritten und mit viel menschlicher Wärme an No und Lou heran und lässt ihre Freundschaft sich langsam entwickeln. Immer wieder stellt man sich die Frage, wie es weitergehen soll. Die Handlung ist nur schwer vorhersehbar und überrascht durch ihre Wendungen und Ereignisse. Vor allem das Ende ist sehr undurchsichtig und lässt den Leser lange im Ungewissen darüber, ob es nun ein Happy End geben wird oder nicht.

De Vigans Erzählstil ist an ihre Protagonistin angelehnt. Einfach, eindrucksvoll und mit einem Hauch von Naivität berichtet die Autorin direkt aus Lous Kopf. Erinnerungen, Gedanken, Theorien – Lou macht sich eine Menge Gedanken übers Leben, die aber nie zu tiefenphilosophisch werden. Wie sollten sie auch? Lou ist schließlich erst dreizehn und de Vigan macht daraus keinen Hehl.

Authentisch für dieses Alter geschrieben, ist „No und ich“ eine sanfte und gleichzeitig schmerzhafte Geschichte aus dem Leben. Delphine de Vigan kann sich nicht nur fantastisch in ihre Hauptperson hineinversetzen, sondern erzählt auch mit sehr viel Mut und Spannung.

Hardcover: 250 Seiten
Originaltitel: No et Moi
Aus dem Französischen von Doris Heinemann
ISBN-13: 978-3-426-19831-5
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