Anette Hinrichs – Nordlicht. Tod in den Fluten (Nordlicht-Krimi 05)

Frau über Bord!

Ein mörderischer Segeltörn auf der Flensburger Förde… Dauerregen und Starkwind über der Flensburger Außenförde, die direkt an Dänemark grenzt. Während eines Kundenevents auf einer Segelyacht geht die junge Bankerin Saskia Niekamp bei einem Wendemanöver über Bord. Wenige Tage später wird ihr Leichnam in Sønderby an der dänischen Küste angespült. Was zunächst wie ein tragischer Unfall aussieht, erweist sich als heimtückischer Mord.

Vibeke Boisen und Rasmus Nyborg ermitteln in der einflussreichen Welt von Vorstandsetagen und gut betuchten Kunden. Je tiefer sie graben, desto mehr belastende Erkenntnisse bringen sie über die Tote ans Tageslicht. Doch erst als sie auf die Verbindung zu einem alten, ungelösten Fall stoßen, kommen sie den wahren Hintergründen auf die Spur… (ergänzte Verlagsinfo)

Die Autorin

Anette Hinrichs ist als geborene Hamburgerin ein echtes Nordlicht. Ihre Leidenschaft für Krimis wurde im Teenageralter durch Agatha Christie entfacht und weckte in ihr den Wunsch, eines Tages selbst zu schreiben. Heute lebt sie als freie Autorin mit ihrer Familie im Raum München. Ihre Sehnsucht nach ihrer alten Heimat lebt sie in ihren Küstenkrimis und zahlreichen Recherchereisen in den hohen Norden aus.

Romane

Das Schattennetz
Das Sandmann-Projekt
Das siebte Symbol
Die fünfte Jahreszeit

Nordlicht-Reihe

1. Die Tote am Strand
2. Die Toten im Nebel
3. Die Spur des Mörders
4. Die Tote im Küstenfeuer
5. Tod in den Fluten

Handlung

„Mann über Bord!“, brüllt ein Besatzungsmitglied des Traditionsseglers „Valeria“. Der ist von der Südjütländischen Bank SJB für einen Kunden-Event gechartert worden. Doch der „Mann über Bord“ ist eine Frau: Für die deutsche SJB-Bankerin Saskia Niekamp kommt zu diesem Zeitpunkt bereits jede Hilfe zu spät: Sie wurde erdrosselt und ist bewusstlos, als sie in die raue See gestoßen wird. Ein Spaziergänger findet ihre Leiche am Strand einer nahen dänischen Insel und ruft die Polizei.

Die Ermittler

Da es sich um das Grenzgebiet handelt, wird das GZ (Gemeinsames Zentrum) tätig, eine aus deutschen und dänischen Polizei- und Zollbeamten zusammengesetzte Kommission, die sich in Padborg trifft. Aus Flensburg kommt Kommissarin Vibeke Boisen, aus der westdänischen Hafenstadt Esbjerg stößt Inspektor Rasmus Nyborg zu ihr. Sie verbindet eine gemeinsame Vergangenheit, doch sie ist von Leid und Tod erfüllt, und Vibeke will lieber nicht darüber reden. Dass in einem früheren Fall die dänische Kommissarin Holm ermordet wurde, stimmt die beiden nicht gerade froh. Zu ihrem Team gehören drei weitere Polizisten und die Nachfolgerin von Holm. Zusammen beginnen sie, die Hintergründe für den Mord an Niekamp aufzudecken.

Das Opfer

Vibeke findet schnell heraus, dass Saskia Niekamp eine gutbetuchte Bankerin war, die sich ein Luxusapartment im dänischen Sonvik leisten konnte. Allerdings ist die einzige Rose in dieser Wohnung schon längst verwelkt. Offenbar hatte Saskia einen Verehrer, aber auch einen Feind. Rasmus findet bei der Obduktion der Leiche heraus, dass Saskia bereits in der achten Woche schwanger gewesen war. Wer ist der Vater? War Eifersucht ein Motiv?

Lauter Ehrenmänner

Angeblich hat niemand hat Saskia über Bord gehen sehen. Daran seien die raue See und der dichte Nebel schuld gewesen, sagen die zeugen. Dass Saskias weißer Mantel bei diesem Seegang entdeckt wurde, war reiner Zufall. Das miese Wetter sorgte auch dafür, dass alle Banker und ihre Kunden unter Deck waren, manche erleichterten ihren Magen auf der Toilette.

Chef der Bankertruppe von der SJB ist Henrik Bo Christensen. Er ist ein passionierter Segler, doch die geplante Teilnahme am NOSPA-Segel-Cup hat er aus Gründen der Pietät lieber abgesagt. Über Saskia, die erst wenige Jahre bei ihm arbeitete und das Privatkundengeschäft leitete, hat er nur lobende Worte zu sagen. Rasmus vermutet, dass etwas zwischen beiden lief. Warum sonst hätte ein Frischling wie Niekamp derart rasant Karriere machen können?

Christensens Kunde Bertram Kaminski stammt aus Hamburg. Auch der Bauunternehmer will sich bestens mit Saskia verstanden haben. Der nächste auf der Liste ist Ove Möbius, der als Marineausbilder auf der Marineakademie Mürwik arbeitet. Vibeke warnt Rasmus, bloß keinen Ärger mit der Bundesmarine anzufangen. Die Befragung ist ein Erfolg, selbst wenn Kapitän Möbius unwirsch und angespannt wirkt. Es stellt sich heraus, dass die SJB nicht sein Geld verwaltet, sondern das seiner vermögenden Frau. Und die ahnt nicht, dass Ove etwas mit Saskia hatte.

Die Södergren-Connection

Dänemarks erfolgreichster Segler, der Olympiasieger Dan Södergren, war mit seinem Sohn Malthe ebenfalls an Bord der „Valeria“. Malthe soll mal das Familienunternehmen, eine Segelmanufaktur. Nun stellt sich bei der Teambesprechung heraus, dass Malthe offenbar im Streit mit seiner vermeintlichen Freundin Saskia Niekamp lag. Das verdient weitere Fragen, denn vielleicht ist ja er der gesuchte Vater von Saskias Kind.

Rasmus hängt sich an Malthes Fersen, und am Schluss des NOSPA-Cups erwischt er ihn. Nur die Kumpels von Malthe verraten, dass Saskia ihn offenbar kürzlich abserviert hat. Sein Vater will dazu nichts sagen, sondern warnt Malthe lediglich vor, dass die Polizei anrückt. In diesem Gespräch erfahren die Ermittler, dass ein weiterer, jüngerer Sohn existiert, doch Jonas‘ Aufenthaltsort ist unbekannt. Angeblich ist er Kunstmaler.

Außerdem wird klar, dass Saskia große optische Ähnlichkeit mit ihrer Kollegin Katrine Madsen hatte: blond, Pferdeschwanz, schlank. Liegt eine Verwechslung vor, fragt sich Vibeke. Allerdings war Saskia eine Deutsche und Katrine ist Dänin. Als sie Katrine darauf ansprechen, zeigen sich erste Risse in der Fassade der hochgelobten Saskia: Sie überschritt ihre Kompetenzen und brach das ungeschriebene dänische Gesetz „Janteloven“: Sich niemals über die anderen zu erheben. Sie könnte auch noch andere moralische Gesetze gebrochen haben, vermutet Rasmus.

Eine Vorgeschichte

Vibekes Adoptivvater Werner Boisen, der stellvertretende Polizeipräsident von Flensburg, wird mit sechzig Jahren in den Ruhestand verabschiedet. Viel lobende Worte, doch Werner würde viel lieber einen 20 Jahre alten Fall, den er nie aufklären konnte, lösen. Er weiht Vibeke ein, nachdem sie ihm von ihrem aktuellen Fall berichtet hat. Die Mordmethode ist bei Saskia Niekamp die gleiche wie in dem alten Fall: Strangulation mit einem dünnen Seil. Ebenfalls eine Wasserleiche, gefunden in der gleichen Gegend, der Flensburger Förde, diesmal aber von einem Angler.

Die Kripo habe alles versucht, und erst die DNS habe ergeben, dass es sich um eine Osteuropäerin gehandelt habe. In ihrem Nacken hatte sie das polnische Wort für „Hoffnung“ eintätowiert. Eine Illegale, die ein vermeintlich leichtes Opfer war? Da sie knapp an Personal sind, nehmen sie Boisens Angebot, am GZ mitzuarbeiten an, und seine zahlreichen Kontakte liefern in der Tat wertvolle Hinweise.

Die Maske

Auch Södergren senior hatte wie Malthe etwas mit der attraktiven Deutschen, doch sein Sohn Jonas ist ganz anders zu Saskia eingestellt, entdeckt Rasmus bei einem Besuch in einer freien Kunstschule namens Augustenborg Project. Jonas malt und zeichnet Saskia viele Male, doch stets mit einer Maske, hinter der sie ihr wahres Gesicht verbirgt. Was mag wohl Saskia angerichtet haben, um in der Nachwelt derart verunglimpft dargestellt zu werden, fragt sich Rasmus. Jonas war nicht auf der „Valeria“ und scheidet folglich als Mörder aus, und vor 20 Jahren war er noch zu jung, um in den alten Fall verwickelt sein zu können.

Bleibt also noch dasjenige Element, das alle Verdächtige verbindet: die „Valeria“ selbst…

Mein Eindruck

Die Ermittlung folgt dem bewährten Muster eines „police procedurals“, wie es Ed McBain mit den Beamten des 87. New Yorker Polizeireviers vorexerziert hat. Diesem Muster folgten die Ermittler der zehn Martin-Beck-Romane und der zehn Van-Veeteren-Romane, von den krimis der weiblichen Autorinnen ganz zu schweigen. Der Dekalog hat Tradition, und hoffentlich bringt es Anette Hinrichs ebenfalls auf zehn Romane ihrer deutsch-dänischen Ermittlertruppe.

Der rote Faden

Denn diese Krimis haben den Vorzug, dem deutschen Lesepublikum gewisse dänische Eigenheiten nahezubringen und dafür Respekt einzufordern. Dazu gehört unter anderem eine gewisse Lässigkeit im Umgang miteinander, ohne dabei aber die Empathie zu vernachlässigen. Der Däne Rasmus hat ebenso sein Päckchen zu tragen wie seine deutsche Kollege Vibeke Boisen: Sein Sohn Anton ist tot, und er hat seine Familie verloren.

Kein Wunder, dass er in der ebenso gebeutelten Vibeke – sie ist Vollwaise – das empathische Gefühl sucht, aber höchst selten findet. Diese private Seite der Ermittler bildet den roten Faden, der sich durch die Reihe zieht. Am Schluss offenbart ihr Werner Boisen, ihr Adoptivvater, dass ihre Großeltern sich Vibeke gegenüber sehr seltsam verhalten hätten. Auch Saskia Niekamp hatte nichts zu lachen: Sie kannte ihren Vater nicht, und ihre Mutter hatte sich als Aussteigerin in den Dschungel von Thailand zurückgezogen.

Die GZ beißt sich durch den üblichen verhau aus zahlreichen Verdächtigen. Deren Namen muss man sich merken, denn eine Personenliste gibt es nicht. All diese Christensens, Kaminskis, Söderbergs und Wilhelmsens – man kann sie leicht durcheinander bringen. Das gleiche gilt für die kleine, aber wichtige Besatzung der „Valeria“. Der ausbeuterische Unternehmer Wilhelmsen ist deren Besitzer, aber er will offenbar seinen Anteil verkaufen. Kein Wunder, denn der Mord, der in der Presse breitgetreten wird, hat die Kunden abspenstig gemacht: Die Umsätze brechen weg. Nun sehen die Mitglieder der Crew ihre Existenz bedroht.

Durchhänger

Die Ermittlung zieht immer engere Kreise und kann durch ihre ausgefeilten, modernen Methoden viele Verdächtige ausschließen. Leider zieht sich dieser notwendige Prozess ganz schön hin und wird nicht, wie üblich durch eine Actionszene aufgepeppt. Deshalb ich das Buch in der Mitte einfach mal eine Woche liegen lassen, um etwas Spannenderes zu lesen: einen Wyatt-krimi von Garry Disher. Dort gibt es keine Längen.

Janteloven oder nicht

Auf den letzten hundert Seiten zeigt sich dann, dass sich das Durchhalten gelohnt hat: Saskia Niekamp war keineswegs ein unschuldiges Opfer, wie ihre verborgene Seite belegt, sondern eine eiskalte Beutegreiferin, die nur ein Beuteschema kannte: leicht erlegbare Opfer, kurz LEOs. Das ist das genaue Gegenteil vom dänischen Janteloven. Wie sie das genau machte, soll hier nicht verraten werden, aus Vorsicht, dass es Nachahmungstäter geben könnte.

Aber hier findet sich bei genauerem Hinsehen der kritische Ansatz der Autorin: Die Dänen sind durch Janteloven zum „glücklichsten Volk der Welt“ geworden, doch für die Deutsche Saskia Niekamp gilt das nicht. Im Nachhinein erscheint ihr fatales Ende in der Ostsee wie ein verdientes Schicksal. Saskia soll dem Leser zur Warnung dienen, scheint die Autorin sagen zu wollen. Und dafür braucht sie nicht mal den Zeigefinger zu heben. Darauf sollte der Leser schon von selbst kommen.

Wild West

Die Warnung der Autorin beruht auf plausiblen, realen Fakten: Der Krypto-Investmentmarkt ist immer noch wie der Wilde Westen zu Zeiten der Goldschürfer. Man darf bloß keine Skrupel haben. Als Saskias Kollegin Marie spurlos verschwindet, nimmt die Story endlich Fahrt auf. Die letzten 50 Seiten lohnen sich wirklich.

Textschwächen

S. 27: „…grüne Wiesen und ein paar mit Stroh bedeckte Fachwerkhäuser“: Dieses dänische idyll hat einen entscheidenden Fehler: Statt mit Stroh sind die Häuser mit Reet bedeckt. Der Grund ist einfach: Wie jeder Bauer weiß, fängt Stroh nach kurzer Zeit an feuchter Luft an zu faulen, was bei einem Dach sehr unvorteilhaft wäre. Stattdessen nehmen Dachdeckerprofis Reet, also eine Art Riedgras, das ja überall an der Küste und den Seen wächst. Gut getrocknet und fest gepackt, hält es das Dach dicht und das Haus stets gut temperiert.

S. 27 & 83: Der Begriff „Dannebrog“ wird nie erklärt, aber das ist wohl für norddeutsche Leser nicht verwunderlich: Als „Dannebrog“ wird die dänische Flagge bezeichnet.

S. 47: “…fügten sich die Neubauten in das Yachthafenviertel … harmonisch ein.“ Harmonie ist eigentlich das Letzte, was ein Kriminalroman heraufbeschwören sollte. Die meisten modernen Krimis beschreiben Krisen und Konflikte.

S. 48: “Die Stimmung war friedlich und unbeschwert.“ Hier gilt der gleiche Einwand. Offenbar versucht die Autorin, den Leser bewusst irrezuführen: Dänemark als das Land der „hyggeligen“ Glückseligen?

S. 88: “eine unscheinbar aussendende Frau“: Sie war wohl kaum am Senden, sah aber dennoch unscheinbar aus.

S. 188: „…und ihre[n] blauen Augen… blitzten vergnügt.“ Das N ist überflüssig.

S. 198: “Janteloven” wird an dieser Stelle erklärt, siehe oben.

S. 219: “dass die Rechtsmedizin in München federführend war“: „Federführend“ bedeutend „in leitender Funktion“, aber die Münchner sind ja an der GZ gar nicht beteiligt. Die Autorin meint offenbar „fachlich führend auf ihrem Gebiet“.

S. 228: “Sankt Hans”: Ein sehr beliebter dänischer Fest- bzw. Feiertag am 23. Juni.

S. 422: „während eine[r] ihrer bierseligen Abende“: Falsche Genitiv-Endung. „einer“ gilt für weibliche Bezugswörter, aber „Abend“ ist männlich. Es sollte „eines ihrer Abende“ heißen.

Unterm Strich

Ich habe mehrere Wochen für diesen grenzüberschreitenden Küstenkrimi gebraucht. Dies spricht wenig für die Spannung, für die der Roman zu sorgen hat. Immerhin bleibt die Lösung des Falls bis zum Schluss ziemlich offen, so dass es eine ganze Reihe Verdächtige gibt. Als sich herausstellt, dass jemand einen guten Grund hatte, nicht nur Saskia, sondern auch eine junge, illegal eingewanderte Polin 20 Jahre zuvor zu erdrosseln, ist der Fall gelöst. Höchste Zeit für das Finale, das wie im ganzen Buch unblutig vonstattengeht.

Dass die verschwundene Marie einem Psychopathen in die Hände gefallen ist, würde überhaupt nicht ins Bild passen. Wir brauchen uns also keinerlei Sorgen um sie zu machen. Dänemark wird von der Autorin – siehe die Übersetzungsanmerkungen – als Land präsentiert, wo Harmonie, Friede und Eintracht herrschen. Für einen zünftigen Krimi sind das denkbar schlechte Voraussetzungen. Offenbar will die Autorin ihre Leser irreführen.

Deutsche Leser lernen viel über Dänemark, das zu einem der beliebtesten Ferienziele geworden ist. Leider bringen die deutschen Urlauber der lokalen Kultur wenig Respekt entgegen und erwarten sogar, dass ihre Gastgeber Deutsch sprechen. Die Dänen können auch anders. Sie haben Olympiasieger hervorgebracht und sind offenbar führend in der Segelmanufaktur. Dass manche Inseln autark geworden sind, haben sie der Windkraft zu verdanken. Ein dänisches Unternehmen ist in Sachen Windenergie führend geworden.

Die dänische Filmindustrie hat inzwischen Actiondramen wie „The Viking“ hervorgebracht. Der Film verarbeitet die Urfassung des HAMLET-Stoffes, die Ende des 13. Jahrhunderts von Saxo Grammaticus verfasst wurde, zu einer blutigen Rachegeschichte.

Wer in diesem Krimi nur die spannenden Stellen sucht, findet sie auf den ersten 20 bis 50 Seiten und auf den letzten 50 Seiten. Dazwischen tut sich herzlich wenig, was das Herz des Actionfans höherschlagen lassen würde.

Taschenbuch: 432 Seiten
ISBN-13: 9783734112072

https://www.penguin.de/Verlag/Blanvalet/1000.rhd

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