Alan Garner – Treacle Walker, der Wanderheiler

„Knochen, Lumpen und Papier! Reibstein und Geschirr, das gibt der Lumpensammler dafür!“ Als der junge Joseph diesem Ruf von seinem Fenster folgt, steht vor seiner Tür ein fahrender Händler mit dem Namen Treacle Walker, sowie sein Karren, auf dem er mit einer Kiste voller mysteriöser Gegenstände durch die englischen Lande zieht. Und so beginnt ein phantastisches Abenteuer voller magischer Begegnungen. (Verlagsinfo)

Der Autor

Alan Garner, geboren 1934 in Cheshire, verbrachte seine Kindheit in Alderley Edge, wo seine Familie seit über 400 Jahren lebt. Für seine Verdienste um die Literatur wurde er 2001 zum OBE (Offizier des Ordens des British Empire). Er ist einer der bekanntesten Schriftsteller Englands.“ (Verlagsinfo)

Alan Garner (* 1934 in Congleton, Cheshire) ist ein britischer Fantasyautor.

Er wuchs in Alderley Edge bei Manchester auf und besuchte dort die Manchester Grammar School, in der eine Bibliothek nach ihm benannt wurde. Anschließend studierte er am Magdalen College der Universität Oxford.

Er ist Träger der Carnegie Medal, Gewinner des Guardian Award, des Phoenix Award und wurde 2001 zum Officer of the British Empire (OBE) ernannt. 2003 erhielt er den Karl Edward Wagner Award. 2012 erhielt er den World Fantasy Award für sein Lebenswerk. (Wikipedia)

Romane

The Weirdstone of Brisingamen. 1960.
Deutsch: feuerfrost und kadellin. Übersetzung: Alfred Kuoni. Benziger Verlag, Einsiedeln 1963.
Deutsch: Feuerfrost. Übersetzung: Werner Schmitz. Diederichs Verlag, Köln 1984. ISBN 3-424-00779-X; Neuausgaben: Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1986. ISBN 3-499-15808-6; Piper Verlag, München–Zürich 1999. ISBN 3-492-22843-7; Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2003. ISBN 3-7725-2241-6.
The Moon of Gomrath. 1963, die in dem bronzezeitlichen Bergwerk von Alderley Edge in Cheshire spielen und Motive aus der Artus-Legende verwenden.
Deutsch: Der Mond von Gomrath. Übersetzung: Werner Schmitz. Diederichs Verlag, Köln 1985. ISBN 3-424-00834-6; Neuausgaben: Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1988. ISBN 3-499-15929-5; Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2003. ISBN 3-7725-2242-4.
Elidor. 1965, mit Motiven aus dem Lebor Gabála Érenn, dem Buch der Eroberungen, das über die Besiedlung von Irland berichtet.
Deutsch: Elidor. Übersetzung: Sybil Gräfin Schönfeldt u. Maria Torris. Dressler Verlag, Berlin 1969
Deutsch: Elidor oder das Lied des Einhorns. Übersetzung: Werner Schmitz. Diederichs Verlag, Köln 1986. ISBN 3-424-00868-0; Neuausgaben: Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1989. ISBN 3-499-12408-4; Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2003. ISBN 3-7725-2259-9.
The Owl Service. 1967, basiert auf dem walisischen Epos Mabinogion.
Deutsch: Eulenzauber. Übersetzung: Frederik Hetmann. Diederichs Verlag, Köln 1982. ISBN 3-424-00760-9; TB-Neuausgabe: Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1985. ISBN 3-499-15488-9; Neuausgaben: Der Eulenzauber. Weitbrecht Verlag, Stuttgart–Wien 1996. ISBN 3-522-72140-3; Eulenzauber. Piper Verlag, München–Zürich 1998. ISBN 3-492-22587-X; Verlag Freies Geistesleben, Stuttgart 2005. ISBN 3-7725-2260-2.
Red shift. 1973.
Deutsch: Rotverschiebung. Übersetzung: Bernd Rauschenbach. Diederichs Verlag, Düsseldorf–Köln 1980. ISBN 3-424-00687-4; TB-Neuausgabe: Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1983. ISBN 3-499-15079-4.
Strandloper. 1996, spielt in Australien.
Der Strandläufer. Übersetzung: Ingo Berensmeyer. Weitbrecht Verlag, Stuttgart–Wien–Bern 1997. ISBN 3-522-72150-0; Piper Verlag, München–Zürich 1999. ISBN 3-492-22586-1.
Thursbitch. 2003.
Boneland. 2012.
Treacle Walker. 2021.
Deutsch: Treacle Walker – Der Wanderheiler. Übersetzung: Bernhard Robben. Hobbit Presse (Klett-Cotta Verlag), Stuttgart 2023. ISBN 978-3-608-98732-4.

Handlung

Joseph Coppock lebt allein im elterlichen Haus direkt an der Bahnstrecke. Der Noony-Zug, dessen Lok um die Mittagszeit auf dem Bahndamm vorüberrumpelt, wird noch mit Diesel betrieben. Er sagt Joe, wieviel Uhr es ist. Joe wird an diesem Tag von einem weiteren Klang geweckt: der Ruf eines Mannes. „Knochen, Lumpen und Papier! Reibstein und Geschirr, das gibt der Lumpensammler dafür!“ erklingt er Ruf. Joe geht nachschauen, doch mit seinem schwachsichtigen Auge sieht er nur wenig. Das andere Auge, das gute, hat er mit einer Klappe abgedeckt, um das schwachsichtige anzuspornen, genauso gut zu sehen. Das klappt noch nicht so richtig, muss er zugeben.

Der Lumpensammler, der sich Treacle Walker nennt, fordert Joe also auf, etwas zu geben, um etwas zu bekommen. Joe fällt nur sein alter Schlafanzug ein und der Schulterknochen eines Lamms ein. Dafür bekommt er ein Porzellantöpfchen mit seinem Namen darauf und einen Reibstein. Wie kann es sein, dass ein Töpfchen, das früher mal „allheilende Medizin“ enthalten haben mag oder nicht, seinen, Joes, persönlichen Namen trägt?

Der Reibstein

Treacle weicht der Antwort aus und erklärt lieber, was es mit dem Reibstein auf sich hat: Man benutze dieses Objekt, das wie ein Stück Kernseife aussieht, indem man die zu reinigende Fläche, nun ja, feucht reibt. Joe macht die Probe aufs Exempel. Aus den grauen Eingangsstufen werden weiße. Erstaunlich. Er ahnt nicht, dass er nun eine magische Hemmschwelle besitzt. Ebenso wundersam ist die Musik, die er der seltsamen Knochenflöte des Mannes entlocken kann. In einer Laune puhlt er den Rest der „Allheilsalbe“ aus dem Töpfchen und schmiert sie sich auf die Augen. Seine Sicht verändert sich.

Der Sumpfmann

Nachdem der seltsame Mann wieder weggefahren ist, macht sich Joe auf die Jagd nach einem Kuckucksei. Denn so etwas fehlt ihm noch in seinem Eier-Museum. Auf seiner Suche gerät er in einen nahen Sumpf, der sich hinter der großen Wiese erstreckt. Leider spielen ihm seine beiden Augen einen Streich nach dem anderen, und plötzlich steckt er im Morast fest. Was das eine Auge sieht, bleibt dem anderen verborgen. Wieder taucht ein Mann auf, der ihn ein wenig an Treacle Walker erinnert. Dieser nackte Moorbewohner nennt sich aber Thin Amren und faselt etwas von Glamourie, also einem Täuschungszauber. Wie auch immer, Joe kommt wieder frei, wenn auch ohne Kuckucksei.

Latein

Ein Besuch beim Augenarzt ergibt ebenso Unerklärliches. Mit dem einen Auge sieht Joe „normal“, mit dem anderen jedoch Buchstaben, die gar nicht auf dem Plakat an der Wand der Praxis stehen. Der Augenarzt schreibt sie auf, Joe nimmt den Zettel nach Hause. Treacle Walker ist in der Lage, die Buchstabenpyramide in verständliches Latein zu sortieren. Latein?!, fragt Joe, was soll das sein? Nun muss Treacle das Latein in handelsübliches Englisch übersetzen. Es geht um den magischen Stein, der er Joe gegeben hat, und um Klug- bzw. Dummheit.

Comics

Joe liebt es, Comics zu lesen. Doch diesmal gerät sein eigenes Haus in den Comic „Stonehenge Kit the Ancient Brit“. Der wird von drei Figuren verfolgt, darunter Whizzy, dem Zauberer. Und eine seiner schönsten Murmeln fällt durch die Comicbook-Seite in einen Gully und von dort in einen Abwasserkanal. Erst Treacle Walker bringt die Murmel zurück. Allmählich kann er ihn gut leiden, den wunderlichen Kerl. Kein Wunder, dass Treacle auch Thin Amren aus dem Sumpf kennt.

Verdoppelt!

Im Traum – oder auch nicht – wandert Joe einer Hufspur folgend durch den Tunnel unter dem Bahndamm auf die anderen Wiesen in der Umgebung. An den Teichen der Mergelgruben vorbei gelangt er auf eine Wiese mit einem Buckel darin. Dort hört er Stimmen, obwohl weit und breit niemand zu sehen ist. Schlafwandelt er noch? Er sieht den schimmernden Mond. Als er nach Hause zurückkehrt, hört er zwei Stimmen in seinem Haus. Die eine gehört Treacle, der am Kamin sitzt, die andere gehört einem Jungen, der genauso aussieht wie er selbst…

Mein Eindruck

Schon viele Male hat der Autor von „The Weirdstone of Brisingamen“ über die magische Region geschrieben, in der er aufgewachsen ist: Alderley Edge. Hier lebt seine Familie seit vierhundert Jahren und er selbst seit rund neunzig Jahren. Er kennt die Bäche und Sümpfe, die Wiesen und Wälder, durch die Joe Coppock streift. Es ist eine magische Landschaft, die von magischen Wesen bevölkert sein könnte. Was macht dies mit ihren menschlichen Bewohnern, mag sich der Leser fragen.

Das Erscheinen des Wanderheilers Treacle Walker stößt eine Reihe von Ereignissen, die Joe erst ins Reich der Phantasie verweist. Doch als seine eigene Phantasie mit ihm durchgeht, gibt es kein Halten mehr. Die Figuren aus seinem Comic verschwinden in dem großen Standspiegel in seinem Haus, doch das Ding erweist sich als unzerstörbar. Das einzige Hilfsmittel ist Treacles magischer Reibstein. Damit gelangt Joe in die Welt hinter der Spiegelfläche, die natürlich spiegelverkehrt ist. Er folgt den Comicfiguren, um Stonehenge Kit vor Whizzy und dem Brit Basher zu beschützen. Erst die neunte Welt scheint wieder seine eigene zu sein.

Er hat Macht, und dieses Hochgefühl erfüllt ihn mit Selbstsicherheit. Treacle dient jetzt nur noch als Ratgeber, denn große Veränderungen kündigen sich an. Der Himmel verdunkelt, kalte Sterne erscheinen und eine gewaltige Vogelkralle senkt sich zur Erde herab. Höchste Zeit für etwas Magie, fürwahr! Treacle rät Joe, den Sumpfmann Thin Amren unter Wasser zu fesseln, auf dass er nie verdursten möge. Gesagt, getan! Die Dinge geraten wieder ins Lot, und Treacle ist nun überflüssig. Joe verfügt nun über das magische Wissen, um Treacles Pony befehlen zu dürfen. Und wenn er nicht gestorben, fährt Joe noch heute als Wanderheiler mit seinem Ponykarren durch die Lande.

Die Übersetzung

S. 42: „dass deine Augen in dieselbe Richtung[en] blicken…“: Die Endung EN ist überflüssig.

S. 78/79: “Ps[y]chopomp” / “Psücho-Bond”: Ein Psychopompos ist ein Totengeleiter, und in Stephen Kings Roman “Stark – The Dark Half“ spielt er eine Hauptrolle. Dass ein Y fehlt, ergibt sich aus der späteren Prägung „Psücho-Bond“.

S. 95: “das Land der Sommersterne“: kein Fehler, aber jeder Artus-Forscher kennt das Land der Sommersterne als Grafschaft Somerset. Dort verortet beispielsweise Stephen Lawhead die Burg Camelot als Ynis Witrin.

„Sei Ursache, Joseph Conrads.“ Woher Treacle diesen Autorennamen nimmt, ist unerklärlich. Jedenfalls hat der polnische Autor von „Heart of Darkness“ nichts in dieser Geschichte zu suchen. Gemeint ist natürlich „Joseph Coppock“.

S. 152: “du bist an nun einem anderen Ort“ ist ein Wortverdreher und sollte korrekt „du bist nun an einem anderen Ort“ heißen.

Ansonsten gibt es eine Menge Dialektausdrücke, die südlich des dt. Weißwurstäquators nicht geläufig sind. Ein Glossar dafür fehlt.

Unterm Strich

„Drinnen ist draußen, und draußen ist drinnen.“ Dies ist die wichtigste und reinste magische Formel, die es gibt. Sie wurde schon viele Male angewandt, und eine Liste von Beispielen würde Seiten füllen. Jedes Knusperhäuschen einer Hexe oder das Domizil eines Magiers mag zitiert werden. Joes Zuhause verwandelt sich allmählich in ein solches Haus. Denn seine Phantasie verwandelt zusammen mit dem magischen Reibstein die ganze Welt. So lange, bis er sich selbst in einen Wanderheiler verwandelt. Treacle und Co. haben ihren Dienst an ihm geleistet. Nun ist es an ihm, sein erworbenes Wissen weiterzugeben und seine Macht zur Heilung der Welt einzusetzen.

Das Buch besteht fast nur aus Dialogen, die mit sehr kurzen Sätzen verbunden sind. Somit scheint das Buch sehr leicht zu verstehen zu sein, aber wie hoffentlich schon der Handlungsabriss andeutet, ergeben sich aus diesen Dialogen sehr viele Fragen, was die Logik und die Natur der Welt angeht. Die Welt verändert sich, weil das Innen nun zum Außen wird, bis zur phantastischen Erweiterung. Das Leitmotiv des Kuckucks wird bis zum scheinbaren Überdruss strapaziert, bis sich auch der geduldigste Leser fragt: Was, zum Kuckuck, soll das?

Nun, der Kuckuck ist Teil der subversiven Taktik des Autors, eine allgemeine Ambivalenz zu verursachen. Ist Joe vielleicht jemand, der sich am falschen Platz befindet – er hat keine Eltern?! Ist er ein Träumer, der sich in seinem eigenen Traum verlaufen hat wie in einem Comicbook? Stellt er sich Treacle nur vor, um schließlich selbst zu einem Wanderheiler zu werden?

Jeder Versuch, diesem Rätsel mit menschlicher Logik zu Leibe zu rücken, kann nur scheitern wie ein Junge in einem Morast. Jede Szene ist folglich wie eine Metapher zu betrachten, und die Abfolge der Metapher – oder Metonymie – folgt einer inneren, eher musikalischen Vorstellungskraft. Es ist kein Zufall, dass Treacle laufend singsangt und Worte zu Reimen zusammenfügt.

So trat einst auch Tom Bombadil in Tolkiens Gedichten auf: die poetische Urkraft der Sprache, die das Land der Seele – den Alten Wald – durchdringt und so beherrscht. In der ersten Verfilmugn des „Herrn der Ringe“ durfte Tom noch auftreten, aber Peter Jackson unterdrückte den Mann, der gegen die Macht des Einen Rings immun ist, gnadenlos. Sehr zum Schaden des Films, wie ich finde. Witzig ist hingegen Garners Einfall, Whizzy the Wizard nicht als altehrwürdigen Magier (Gandalf) darzustellen, sondern als hinterlistigen Zauberer, der den Unterdrückern wie etwa Brit Basher beisteht. Hier zeigt der Autor subtil seinen Humor – und einen Kommentar auf den Gandalf-Hype.

Die Textform ist suboptimal, von Wortverdrehungen bis hin zu falschen Namen. Niemand hat dem Übersetzer auf die Finger geschaut. Das ist einfach nur traurig.

Gebunden: 154 Seiten
O-Titel: Treacle Walker, 2021.
aus dem Englischen von Bernhard Robben.
ISBN 9783-608-98732-4

www.hobbitpresse.de

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