Arne Dahl – Gier. Opcop 01

Eurocops im Kampf gegen den modernen Minotaurus

Während des G20-Gipfels in London werden zwei Menschen auf grausame Weise getötet. Sterbend flüstert eines der Opfer rätselhafte Worte in Arto Söderstedts Ohr. Arto, vormals ein Ermittler der Gruppe A in Schweden, ist jetzt bei Europol. Sind sie der Schlüssel zu einem alle Dimensionen sprengenden Verbrechen?

Weitere Verbrechen lassen selbst den erfahrensten Europol-Ermittlern den Atem stocken. Und bald kosten die Ermittlungen auch einigen von ihnen das Leben… (abgewandelte Verlagsinfo)

Der Autor

Arne Dahl ist das Pseudonym des schwedischen Krimiautors Jan Arnald, der für jene schwedische Akademie arbeitet, die alljährlich die Nobelpreise vergibt. Seine Romane um die A-Gruppe in Stockholm werden laut Verlag von Publikum und Kritik begeistert aufgenommen.

Dahl-Krimis um die A-Gruppe und die Opcop-Gruppe (Europol):

1) Misterioso (siehe meinen Bericht)
2) Böses Blut (siehe meinen Bericht)
3) Falsche Opfer (siehe meinen Bericht)
4) Tiefer Schmerz (siehe meinen Bericht)
5) Rosenrot (siehe meinen Bericht)
6) Ungeschoren (siehe meinen Bericht)
7) Totenmesse (siehe meinen Bericht)
8) Dunkelziffer
9) Opferzahl (siehe meinen Bericht)

10) Gier (dt. 2012)
11) Zorn (dt. 2013
12) Hass (dt. 2014)
13) Neid (dt. 2015)

Handlung

Während des G20-Gipfels in London drängt sich eine wütende Protestmenge um die Gasse, durch die Karossen der Konferenzteilnehmer zum Tagungsort rollen. Überraschend kommen dabei zwei Menschen zu Tode. Sind sie Protestler oder Attentäter? Arto Söderstedt, ehemaliger Ermittler bei der A-Gruppe in Stockholm, ist an Ort und Stelle, um die letzten Worte eines der beiden Menschen zu hören. Fortan wird er mit Argusaugen beobachtet.

In einer Villa in einem Stockholmer Vorort findet die Reichskripo unter Jon Anderson eine chinesische Putzfrau vor, die gerade mehrfach das Wort „Kinderpornographie“ in den PC ihres Kunden eingegeben hat. Was sie aussagt, sind ein Haufen Lügen. Doch dass sie etwas gegen solche Leute hat, wird aus ihrer Wut ersichtlich. Jon Anderson entdeckt in den E-Mails des – niemals offiziell durchsuchten – PCs mehrere Netzadressen von Angehörigen der kalabrischen Mafia, der Ndrangheta. Er wendet sich an Kerstin Holm, die er noch von der A-Gruppe kennt. Die arbeitet jetzt aber für eine supergeheime Gruppe von Ermittlern bei Europol in Den Haag, der Opcop. Dort sitzt ihr Mann und langjähriger Mitarbeiter Paul Hjelm. „Sieht so aus, als hätte ich für euch euren ersten Fall“, sagt sie der überraschten Gruppe.

In einem Parkgelände im Umland von London findet eine Vogelkundlerin die künstlerisch drapierte Leiche einer schönen Frau. In deren Anus findet die Rechtsmedizinerin ein Fläschchen mit einem Zettel, auf dem die Botschaft steht: „Für die Ermittler der operativen Gruppe bei Europol.“ Es folgen zwei rätselhafte Codegruppen. Inspector Dryden von Scotland Yard wird mit dem Fall betraut. Sein Vorgesetzter vergattert ihn zu höchster Verschwiegenheit. Denn offiziell darf eigentlich niemand von der Existenz dieser Europol-Ermittler Kenntnis haben. Ein europäisches FBI würde so manchem BKA ins Gehege kommen.

Paul Hjelm leitet eben diese Opcop-Gruppe, und ihm präsentiert Inspector Dryden diese rätselhafte, kompromittierende Botschaft. Offensichtlich muss seine Gruppe nun an verschiedenen Enden Europas ermitteln: in Schweden, Lettland, Süditalien. Er selbst fliegt nach England – in der Hoffnung, dass all die verstreuten Fäden dieser Fälle irgendwo einmal zusammenfinden…

Mein Eindruck

Aber es macht ja gerade die Spannung der Opcop-Arbeit aus, dass sie so verzweigt, unvorhersehbar und mit unerwarteten Resultaten versehen ist. Wie die unterschiedlichen Fälle zusammenfinden und welche Maßnahmen ergriffen werden, hängt ganz von den Qualitäten und Eigenheiten der Opcop-Ermittler ab. Immer wieder gibt dabei ihr Einfühlungsvermögen den Ausschlag, ob sie noch rechtzeitig handeln oder zu spät kommen.

Wenn sie aber die dünne Linie zwischen objektivem Abstand und subjektiver Beteiligung überschritten haben, ist ihnen kaum einmal zu helfen. Zwei der Helfer tappen in die Fall der Ndrangheta, weil einer von ihnen seinen von den Mafiosi ermordeten Bruder rächen will. Deshalb lassen sie im Übereifer nicht genügend Vorsicht walten. Und weil sie ihre Handys abgeschaltet haben, können ihre Kollegen sie auch nicht mehr rechtzeitig vor der Falle warnen. Gute Kommunikation ist alles, und sie nimmt in dieser Geschichte die bizarrsten Formen an, wie das Röhrchen im After belegt.

Ariadne und Konsorten

Womit wir bei der toten Frau im Park wären. Sie stellt ein Kunstwerk dar, ahnt Paul Hjelm, aber welches? Wie ihm ein Kunstprofessor erklärt, handelt es sich um eine Neuinszenierung der Ariadne auf einem bekannten altrömischen Sarkophag. Es ist jene Ariadne aus der Minotaurus-Sage, deren marmornes Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen wurde. Und weil man das bei der Leiche ebenfalls gemacht, gestaltet sich ihre Identifizierung sehr mühsam und langwierig.

Die Minotaurus-Sage rankt sich eigentlich um den Helden Theseus, der das Ungeheuer in seinem Labyrinth erschlagen will, weil ihm alljährlich als Tribut Jungfrauen dargebracht werden müssen. Doch damit er sich nicht im Labyrinth des Palastes zu Knossos auf Kreta zu verirrt, hilft ihm die Prinzessin Ariadne mit ihrem roten Faden, den richtigen Weg zurückzufinden.

Ariadne und ihre Schwester Phädra spielen in zahlreichen klassizistischen Werken, etwa Opern, eine Rolle. Ein polnischer Angehöriger der Opcop-Gruppe findet heraus, wer „Ariadne“ war, bevor sie ihren Henkern begegnete. Aber Paul Hjelm hätte sich nicht vorstellen können, dass eines Tages dieser Minotaurus in eine Berliner Bank treten würde, um eine gewaltige Überweisung zu tätigen – und dass er dann von einer Phädra-Figur angegriffen würde…

Im Labyrinth der Verbrechen

Herauszufinden, um welche Verbrechen es geht, fällt den Eurocops schwer. Das ist eine mafiöse Möbelfabrik in Schweden, das scheint es in Lettlands Hauptstadt Riga einen korrupten Umweltbeamten zu geben, in Tibet gibt es eine Möbelfabrik, die sich als Giftschleuder erweist, chinesische Kinder verschwinden am hellichten Tag – und überall scheinen die Mafiosi aus Süditalien sowie eine Security-Firma namens Asterion Ltd. (Asterion ist ein alternativer Name für den Minotaurus) ihre Finger drin zu haben. Und es sieht ganz so aus, als solle das kleine Land Lettland in die Insolvenz getrieben werden, damit jemand einen großen Reibach damit machen kann.

Der Leser muss also eine gehörige Portion Geduld mitbringen und bestes Erinnerungsvermögen, um die Fäden und Namen miteinander zu verbinden – wie ein kniffliges Kreuzworträtsel. Für Action und Spannung ist indes in regelmäßigen Abständen ebenfalls gesorgt, so dass man keinesfalls Gefahr läuft, in der Mitte aufzugeben. Ganz im Gegenteil: Dann geht es erst so richtig los.

Die Übersetzung

Die Übersetzung ist vorzüglich, wenn man von der Merkwürdigkeit absieht, dass Verbrechernester „ausgehebelt“ statt „ausgehoben“ werden, wie bei uns der Sprachgebrauch lautet.

S. 261: „sich lau[t]stark zu beklagen.“ Das T fehlt.

Ansonsten sind Druckfehler wie dieser rar, was ich höchst erfreulich finde.

Unterm Strich

Die Anspannung vor der clever inszenierten Action hält sich die Waage mit der eher drögen Kärrnerarbeit der Spurensuche und Informationsbeschaffung. Schön sind auch die Aha-Momente, die eintreten, wenn sich endlich eine Identität klärt oder eines der zahlreichen Rätsel aufgeklärt wird.

Eines der größten Rätsel ist die Stille Post: Wie konnte die Kenntnis von der Existenz einer Eurocop-Zentrale in Den Haag nach New York und von dort nach London gelangen, nur um in einem blutigen Fiasko zu münden? Diese Stille Post strapaziert das Maß an Plausibilität aufs Äußerste. Aber es gilt immer der Grundsatz: Reality is stranger than fiction.

Das Thema ist natürlich die titelgebende Gier – eine der sieben Todsünden (David Fincher Fans werden entzückt aufschreien!). Sie nimmt in der modernen Welt, bei der der Autor Bestandaufnahme betreibt, zahlreiche Formen an, von der Verklappung diverser Umweltgifte bis zur Manipulation ganzer Staatshaushalte.

Aber es gibt auch Heldinnen wie „Ariadne“ und „Phädra“, die es mit diesem modernen Moloch namens „Minotaurus“ aufnehmen und schließlich bereit sind, zur Waffe zu greifen. Ob solche Gewalt das Mittel der Wahl ist, fragt sich der Leser. Dass nicht notwendig ist, demonstriert die Opcop-Gruppe mit ihrem hartnäckigen, leidenschaftlichen Einsatz.

Das historische Gegenstück zum Minotaurus bildet ein historisches Ereignis in Schottland: Wilhelm von Oranien, der neue König von Großbritannien ließ im friedlichen, gastfreundlichen Tal von Glencoe ein Massaker verüben, das bis heute als eines der abgefeimtesten Verbrechen von Regierungshand gilt. Glencoe umrahmt die Handlung, als Ort und als Mahnung an die Lebenden.

Taschenbuch: 506 Seiten
Originaltitel: Viskleken, 2011; Piper, 2013, München
Aus dem Schwedischen von Antje Rieck-Blankenburg
www.piper.de

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