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Arthur C. Clarke – Das Lied der fernen Erde

Einige tausend Jahre in der Zukunft. Thalassa ist eine menschliche Kolonie, fünfzig Lichtjahre von der Erde entfernt. Es ist ein sonniges Paradies mit unbegrenztem Ozean und zwei kleinen Kontinenten, auf denen sich die Menschen niederließen.
Seit Jahrhunderten ist die allgemeine Meinung gefestigt, dass es mit höchster Wahrscheinlichkeit keine außerirdischen Intelligenzen in der Milchstraße gibt. Da geschieht das Unglaubliche: Ein gigantisches Raumschiff erscheint über Thalassa! Die friedliche Idylle wird gestört; als sich herausstellt, dass die |Magellan| eine Million Überlebende von der Erde an Bord hat, steigt die Aufregung ins Unermessliche.

Bis zu diesem Zeitpunkt war bemannte Raumfahrt unmöglich, die Kolonien wurden durch Saatschiffe gegründet, welche die genetische Anlage der Menschen dem Planeten einimpften. Kurz vor der finalen Katastrophe, die Entstehung der solaren Supernova, gelang es irdischen Wissenschaftlern, den Quantenantrieb zu entwickeln, mit dem echte Großraumschiffe realisiert werden konnten. Die |Magellan| ist das erste und einzige Schiff seiner Art.

Die Lage beruhigt sich, als sich herausstellt, dass die Flüchtenden ausschließlich an einigen tausend Tonnen Wasser interessiert sind, die ihren ausgedienten Eisschirm erneuern sollen. Auf einem kleinen Teil des südlichen Kontinents wird eine Eisanlage errichtet, von der aus das Wasser in gefrorenem Zustand in den Raum befördert wird.

Das Zusammentreffen der Thalassier mit den Menschen der Erde gestaltet sich recht unproblematisch, nachdem kulturelle Unterschiede geklärt werden konnten. Die thalassische Ungezwungenheit in Beziehungen birgt die letzten Probleme, als sich eine intelligente Thalassierin in einen Offizier der |Magellan| verliebt und dafür ihren bisherigen Begleiter verlässt. Das Dilemma ist kompliziert, da die „Magellan“ nach Fertigstellung des Eisschildes weiterziehen wird.

Zu allem Überfluss taucht gerade in dieser Zeit eine unbekannte Spezies aus den Meeren Thalassas auf und verbreitet Verwirrung, da es sich anscheinend um nichtmenschliche Intelligenzen handelt …

_Charaktere_

Mirissa ist eine junge Frau, derzeit die intelligenteste und geistig beweglichste Person auf Thalassa. Sie ist glücklich mit ihrem Freund Brant, der ein begabter Techniker und interessanter Mensch ist. Doch nun erscheinen die Fremden von der Erde mit ihrer fremden Kultur. Von ihnen geht eine Faszination aus, der sich Mirissa nicht entziehen kann. In dem Offizier Loren Lorensson vereinigen sich alle faszinierenden Eigenschaften. Mirissa will lernen, und sie will Leidenschaft und ein Kind … Man erfährt viel über die Gefühle und die Gedanken Mirissas, die Beweggründe, die zu der dramatischen Verbindung von ihr und Loren führen, werden einleuchtend dargestellt. Auch wenn man es nicht fassen kann, man weiß, dass sie Brant noch liebt.

Loren Lorensson ist einer der Überlebenden der Katastrophe, die die Erde vernichtete. Dieses Erlebnis hat ihn gefühlskalt werden lassen. Erst die Beziehung zu Mirissa lässt ihn das Ende der Erde verkraften. Brant gegenüber verhält er sich schuldbewusst, ist sich jedoch klar, dass die Verhaltensweisen der Thalassier nicht seinem erlernten Wissen von der Erde entspricht. Man glaubt Loren, dass er einerseits ein Kind mit Mirissa haben will, andererseits seine Plicht der |Magellan| gegenüber erfüllen muss.

Brant ist ein ungeduldiger Thalassier, der sich trotzdem verständnisvoll aus der Beziehung zu Mirissa zurückzieht. Man erkennt, dass er Mirissa noch immer liebt, doch ihr zuliebe zeitweise verzichten kann.

Kumar ist der Bruder Mirissas. Er ist nicht ehrgeizig, nicht so intelligent wie seine Schwester, aber ein angesehener Bürger Thalassas. Loren und er verstehen sich prächtig, und er rettet Loren das Leben, zu einem hohen Preis …

_Konfliktpotenzial, Spannung, Unterhaltung_

Der Roman beginnt langsam und sacht, man lernt die Hauptpersonen Thalassas kennen. Ein erster Einbruch erfolgt durch das Erscheinen der Magellan, darin erwartete ich eine stetig steigende Konfliktsituation. Die dramatische Entwicklung der Beziehung zwischen Loren, Mirissa und Brant hielt ich anfangs für schmückendes Beiwerk. Dabei ist genau das die Quelle des Konflikts, der durch den Roman gelöst werden soll. Die Beziehung einer Frau zu einem Sternfahrer, wobei beiden klar ist, dass er nach kurzer Zeit weiterreisen wird und es kein Wiedersehen geben kann. Über Funknachrichten kann er nach seiner Tiefschlafreise das Altern seiner Liebe nacherleben …

Der Konflikt um die Magellan ist sehr zurückhaltend beschrieben und führt zu wenigen Höhepunkten. Einige Spannung entsteht durch das Auftauchen der Skorps (der nichtmenschlichen Intelligenzen), aber auch diese Verbindung dient nur der Vertiefung der tragischen zwischenmenschlichen Situation von Loren und Mirissa.

Leider hat Clarke das hohe Konfliktpotenzial (in drei Stufen angelegt) nicht ausgeschöpft. Der Roman plätschert vor sich hin, nie so langweilig, dass man ihn weglegen müsste (immerhin gibt es interessante Fragen zum Kontext, die man beantwortet haben will), aber auch nie so mitreißend, dass man nicht aufhören könnte zu lesen. Ich hätte mir gewünscht, dass Clarke der Skorp-Thematik mehr Gewichtung hätte zukommen lassen. Zum Ende des Romans erhalten sie noch eine kurze, unaufgelöste Bemerkung, die erneuten Konflikt prophezeit. Leider werden wir das wirkliche Ende nie erfahren.

Von diesem Gesichtspunkt aus hat Clarke doch wieder einen guten Griff getan: Der Roman hat ein relativ offenes, für Fantasie freies Ende.
Mit Kumar stirbt die einzige Person in dem Roman, und sein Ende ist wirklich ergreifend geschildert in seiner Ausweglosigkeit und Tragik. Damit löst sich der Konflikt auf, treibt die Geschichte einem Ende zu, doch konnte ich nicht in meiner Trauer als Leser schwelgen, denn kurz werden zum Schluss noch die Schicksale anderer Aspekten angedeutet.

_Fazit_

Das Buch liest sich entspannt und unterhaltsam, in einigen Teilen geht Clarke meiner Meinung nach zu wenig in die Tiefe, andererseits schafft er es sehr gut, ergreifende Szenen zu schildern. Zum Beispiel die namengebende Szene zum Schluss, wo mit der alten Musik der zerstörten Erde das Ende der direkten Beziehung zwischen Magellan und Thalassa seinen Anfang nimmt.
Das Buch hat mich emotional berührt, auch wenn ich nicht völlig befriedigt von seinem Inhalt bin und einige Fragen offen bleiben. Trotzdem möchte ich es jedem empfehlen, der gute Unterhaltung ohne Action, Mord und Totschlag genießen möchte.

Taschenbuch: 286 Seiten
www.heyne-de

Castor, Rainer – Blutvogt, Der

|Zwischen den Ränken der Berliner Patrizier und dem Schwarzen Tod versucht ein Mann sein Glück zu finden.|

_Der Autor_

Rainer Castor wurde 1961 in Andernach geboren und wurde gelernter Baustoffprüfer, bevor er seine schriftstellerische Laufbahn begann. Seine erste Veröffentlichung war innerhalb der Perry-Rhodan-Serie, für die er mittlerweile hauptberuflich tätig ist. Vorwiegend veröffentlichte er Science-Fiction-Romane; „Der Blutvogt“ ist sein erster historischer Roman.

_Inhalt_

Um 1350 tobte die Pest in Deutschland, und der junge Martin Stockmann wird zum Scharfrichter, zum Blutvogt, der Doppelstadt Cölln-Berlin ernannt.

Die Patrizier der Stadt sind in zwei Lager gespalten: Während die einen für den amtierenden Markgrafen Woldemar einstehen, halten sich die anderen an den ehemaligen Markgrafen Ludwig, der nach Woldemars scheinbarem Tod eingesetzt, aber nach mehreren Jahren abtreten musste, da Woldemar wieder auftauchte und seinen Anspruch geltend machte. Noch musste geprüft werden, ob es der „echte“ Woldemar war, doch solange verfügte er bereits wieder über sein Amt.

So kommt es zu dauernden Zwistigkeiten in Berlin, und der neue Blutvogt gerät zwischen die Parteien. Er ist zuständig für Latrinen, Scharfgericht inklusive der |Peinlichen Befragung| sowie für den Polizeidienst und die Prostitution.

Bei seinem Eintreffen in Berlin rettet er dem Lübecker Kaufmann Zirner das Leben und steht fortan in dessen Gunst, woraus sich endlich eine Freundschaft entwickelt. Nach Stockmanns Heirat mit der jungen Witwe des verstorbenen Scharfrichters gelingt es Zirner und anderen Gönnern unter den Berliner Ratsherren, den Blutvogt zum Bürger zu ernennen.

Zwar versprechen sich einige Patrizier viel von Stockmann, wollen ihn für ihre Ränke vor den Karren spannen, doch dieser ist zu klug und umtriebig; er bleibt sein eigener Herr. Immer weiter steigt er im Ansehen der Bürger, das Glück scheint vollkommen. Da erscheint ein Bruder der ansässigen Franziskaner und beginnt mit Stockmann eine freundschaftliche Beziehung, während der Martin Lesen und Schreiben lernt und weiter in der Kunst des Heilens geschult wird. Der Mönch Michael eröffnet ihm, dass er eine Vision hatte, nach der Stockmann zu etwas Höherem bestimmt sei …

Inzwischen kommt es zu offenen Zwistigkeiten zwischen den politischen Parteien, und Martin zieht den Hass der Familie Kremer auf sich und seine Frau. Als es zu einem Anschlag auf den Markgrafen kommt, gelingt es Stockmann, Woldemars Frau von einer tödlichen Verwundung zu heilen. Und trotz seiner folgenden Ernennung zum Hospitalmeister, was ihn von seinem Posten als Scharfrichter befreit, versinkt Stockmann immer tiefer im Drogenkonsum und in zum Teil schrecklichen Visionen, die schließlich ihre Erfüllung finden, als die Pest halb Berlin entvölkert und im Zuge dessen sein ärgster Widersacher, Markus Kremer, zum vernichtenden Schlag ausholt. Stockmann findet Zuflucht in seinen Visionen und auf der Suche nach dem |Heiligen Gral| …

_Kritik_

Castors Stil spaltet die Leserschaft in zwei Lager: Seine ausschweifende Art, Hintergrundinformationen einzustreuen und Details über zersplitterte Dialoge, Monologe oder Gedanken seiner Protagonisten darzustellen, findet Anklang oder führt zur Langeweile. Dabei sind seine Ideen durchaus fesselnd, nur könnte eine etwas straffere Gestaltung zu doppelter Spannung verhelfen.

So versucht er auch im „Blutvogt“, geschichtliche Zusammenhänge in unterbrechenden Gedanken unterzubringen. Darunter leiden vor allem im mittleren Teil der Erzählfluss und die Spannung, denn nach dem stetigen Aufstieg des Blutvogts im ersten Teil muss ein umso steilerer Fall erwartet werden, und der mittlere Teil zögert diesen Fall hinaus und quillt über von Daten und Hintergründen.

Die Einbindung eines mythischen Aspekts in die Handlung, eben der Heiligen Gral und die Tempelritter, macht aus dem Roman eine Mischung aus historischem und phantastischem Roman. So ist Bruder Michael ein ehemaliger Tempelritter, der die Zerschlagung seines Ordens als Jüngling miterlebte und in letzter Diensterfüllung den Ring eines Templers aus dem Inneren Kreis sowie einige diesbezügliche Literatur in Sicherheit bringt. In den Ring soll ein Stück des Grals eingefasst sein, und bei seinem Tod übergibt Michael den Ring an den Blutvogt, der sich seiner Aufgabe stellen soll.

Die Zeit nach Stockmanns tiefem Fall liest sich verwirrend und abgedreht; hier scheint der Protagonist in ständigem Drogenrausch gefangen zu sein, auf der Suche nach seinem Widersacher Markus Kremer. In seinen Visionen erlebt er Dinge, die nur einem kranken Geist einfallen können, aber dazwischen finden sich Bilder, die zur Wahrheit werden. Wo ist hier die Grenze zwischen Wahnsinn und Vision? Ist des Blutvogts letztes Opfer Teil einer wie auch immer gearteten „göttlichen Eingebung“ oder ist sein Geist verkommen zwischen Drogen und weltlichem Unglück?

Wo im ersten Teil die Spannung aus der Schilderung einer uns mittlerweile fremden Welt zwischen Hurerei, Völlerei und Gottesgläubigkeit gezogen wird, in der ein junger Mann seinen Weg entgegen aller Unbill findet, da kommt sie im letzten Teil aus der Schilderung eines verwirrten Geistes auf der Suche nach einem Mythos, der für einige Menschen vielleicht wahr geworden ist, und aus dem tragischen Schicksal, das unausweichlich auf den Blutvogt zukommt.

Dagegen bleibt der mittlere Teil, in dem Martin Stockmann scheinbar sein Ziel erreicht und sein Glück gefunden hat, etwas blass. Als Leser weiß man genau, dass dieser Zustand nicht anhalten kann, dass es zum Fall kommen muss. Doch kapitellang zieht sich dieser Abschnitt dahin mit der Schilderung geschichtlicher Zusammenhänge und Martins Schulung bei Bruder Michael bei gleichzeitiger Steigerung seines Drogenkonsums. Hier wird eindeutig, wie der Fall eingeleitet werden wird, doch muss man sich erst durch einige Seiten kämpfen, die zwar interessant in den recherchierten Daten sind, den Handlungsstrom aber abreißen lassen und die Geduld des Lesers stark strapazieren. Mit dem Eintritt der Pest fängt Castor die Spannung wieder ein und führt recht rasant zu einem unausweichlichen Ende.

Im Anhang findet sich eine ausführliche Beschreibung der Stadt Cölln-Berlin mit Skizze sowie eine ausführliche Erklärung der verwendeten altdeutschen Wörter.

_Fazit_

Trotz einiger Längen im Mittelteil ein durchaus spannendes, unterhaltsames Stück historischer Literatur, das vor allem im letzten Abschnitt mit mythischen Aspekten konfrontiert. Leider ahnt man schon lange, wie Martins Karriere zu Ende geht; im ersten Teil wundert man sich zeitweise über den Steilen Aufstieg und das erfüllte Glück des Protagonisten. Insgesamt ein guter Roman, den ich jedem Freund von mittelalterlicher Geschichte empfehlen möchte.

China Miéville – Leviathan

Teil 1: Die Narbe

Die schwimmende Stadt Armada, zusammengestückelt aus einer unüberschaubaren Zahl großer und kleiner Schiffe und Wracks, gezogen von den gewaltigen Kräften des Avanc, einer inselgroßen Kreatur aus den Tiefen der Meere Bas-Lags – auf der Suche nach der Narbe, der mythischen Wunde der Welt, Quell einer magischen Macht …

Der Autor

China Miéville wurde 1972 in England geboren. Nach Abschlüssen in Sozialanthropologie und Wirtschaft unterrichtete Miéville in Ägypten. Während sein für mehrere Awards nominierter erster Roman „King Rat“ noch leer ausging, wurde „Perdido Street Station“ mehrfach ausgezeichnet (unter anderem mit dem Arthur C. Clarke Award und dem Kurd-Laßwitz-Preis). Nach „Perdido Street Station“ ist „The Scar“ (deutsch: „Die Narbe“, „Leviathan“) sein zweiter Roman aus der phantastischen Welt Bas-Lag.

Inhalt

Die Wissenschaftler Armadas haben es geschafft, den Avanc, das Wesen aus dem Raum zwischen den Realitäten, mit thaumaturgischen Kadabras und der Hilfe eines von der Linguistin Bellis Schneewein übersetzten Buches zu ködern und als Zugtier für die Piratenstadt einzuspannen. Nie zuvor durchstreifte Armada die Meere Bas-Lags mit dieser Geschwindigkeit und Zielstrebigkeit, wie es ihr nun die Beherrschung des Giganten gestattet.

Und die mächtigste Führungsgruppe hat weitere Ziele. Sie gibt sich nicht mit der neuen Beweglichkeit zufrieden, sondern strebt nach größerer Macht, die sie an der unnatürlichen Wunde der Welt zu finden hofft. Dort, so sagen die Legenden und Mythen, seien die Naturgesetze aufgehoben, es herrsche ein Zustand der Possibilitäten, die je nach Grad ihrer Wahrscheinlichkeit zu tausenden parallel existieren – selbst widersprüchliche Zustände.

Doch werden der Bevölkerung Armadas die Fakten vorenthalten und sie wird über die wahren Ziele getäuscht. Der Brucolac, stärkster Gegner des Plans, probt die Meuterei, als sich fremdartige Wesen in den Konflikt einschalten. Mit ihrer Hilfe erhofft er sich eine Wendung der Stadt, zurück zu ihrem Alltag als Piratenstadt. Die Fremden handeln dabei nicht uneigennützig: Sie wurden von einem Mann betrogen und beraubt, der sich seit dem Überfall Armadas auf die Terpsichoria (siehe: „Die Narbe“) an Bord Armadas befindet. Ihm und dem Diebesgut gilt ihr Trachten. Und so kommen die Fremden und der Brucolac, Herr der Vampire, in ihr verhängnisvolles Geschäft. Nicht verhängnisvoll für die Fremden, denn sie sind wahrlich zu fremdartig …

Kritik

Es ist nicht einfach, ein Buch zu besprechen, das als zweiter Teil eines in der Originalsprache einzelnen Romans erschien. „Leviathan“ knüpft nahtlos an die Geschehnisse in „Die Narbe“ an. Guter Zeitpunkt, um ein Wort über die Titel zu verlieren. In der Narbe wurde sie selbst höchst verschwommen und indirekt erwähnt, dort ging es eher um die Köderung des Avanc, der ein wahrer Leviathan ist. Andersherum richtet sich der Blick im vorliegenden Buch, das den Titel „Leviathan“ trägt, immer stärker auf die Narbe, die Kluft in der Welt. Da hat wohl jemand die Titel vertauscht? Passend dazu die entsprechenden Klappentexte, die jeweils dem anderen Buch besser stehen würden.

Genug davon.

Bellis Schneewein erlebt eine herbe Enttäuschung. Alle Aktionen, alles, was sie anderes tut als die anderen Bewohner Armadas, ist geplant, sie wird von den einzelnen Machtgruppen manipuliert. Da ist beispielsweise Silas Fennek, der ihr von der großen Bedrohung ihrer Heimatstadt New Crobuzon berichtete und sie auf die gefährliche Reise zur Anopheles-Insel schickte, um eine Nachricht, eine Warnung rauszuschmuggeln. Jetzt erfährt sie über deutliche, blutige Zeichen (eine gnadenlose Schlacht auf den Meeren), dass Fennek nur sein Wohl im Auge hatte und die Flotte New Crobuzons gegen die Piratenstadt gelenkt hat. Bellis beichtet sogar entsetzt und wird von jenen ausgepeitscht, die sie in ähnlicher Weise benutzen, um eine Meuterei anzuzetteln. Als ihr das klar wird, erinnert sie sich, „[…] was sie in Douls Augen gelesen hat. Wieder ein Werkzeug, denkt sie, fassungslos und staunend. Wieder ausgenutzt[…]“.

Und trotz dieser Erkenntnis führt sie den eingeschlagenen Weg zu einem Ende, denn es ist der einzige Weg für sie zurück. So stellt sich das ohne viel Drumherum dem Leser dar, denn die bildgewaltige Sprache Miévilles hält sich mit einengenden Details zurück. Subtil entwirft er das Bild der Welt, die Charaktere entwickeln sich mit jeder Seite und werden deutlicher. Die kleinen Details erzeugen ein Gefühl für den Zustand, das Wesen, die Philosophie dieser Welt, die in ihrer Gesamtheit noch immer anders ist, faszinierend anders.

Während Bellis Schneewein in der „Narbe“ wichtige Erkenntnisse gewann und die Expedition voran trieb, ohne es wirklich zu wollen, tritt sie jetzt mehr in den Hintergrund, hat ihre Aufgabe erfüllt, ist nutzlos. So lassen die Herrscher ihre Werkzeuge fallen und schaffen sich damit eine große Gegnerschaft, die sich brodelnd zurückhält, bis es zum Eklat kommt. Aber Bellis bleibt weitgehend außerhalb der Masse, wird von hintergründigen Spielern manipuliert und protegiert. Fühlt sich schlecht dabei, wenn sie kleine Splitter des Intrigenpuzzles zusammensetzt. Aber ihre Intention ist klar: Sie will weg, keine Abenteuer an der Narbe, keine Reise mit dem Avanc, aber auch keine Piraterie mit Armada. Eigentlich will sie nach Hause.

Fazit

Die Welt Bas-Lag erhält mit jeder Seite mehr Tiefe, mehr Charakter, mehr Farbe. Mehr Hintergrund. Miéville entwirft eine neue Dimension der Phantastik, fern von Tolkiens Mittelerde oder der um Realismus bemühten Science-Fiction großer Space-Operas. Bas-Lag ist wie ein neuer, bisher unentdeckt gebliebener Winkel im Spektrum phantastischer Erzählkunst. Verständlich, dass der Autor mit neuen Geschichten ihre Reize auszuloten versucht. Und sehr begrüßenswert. Mit „Die Narbe“ und „Leviathan“ hat er eine neue Facette dieser Welt offenbart und Ansätze geliefert, die vermuten lassen, dass es hier noch viel zu entdecken gibt. Miéville ist einer der bedeutendsten Phantasten unserer Zeit.

China Miéville – Die Narbe

Bas-Lag: Faszinierende Welt skurriler Geschöpfe, gigantischer Ausmaße, perverser Experimente, melancholischer Charaktere, wissenschaftlicher Magie … Eine Mixtur mittelalterlicher und frühindustrieller Mechaniken und moderner bis futuristischer Techniken. Da kämpft ein Pirat mit Steinschlosspistolen und Messern, unterstützt von dampfbetriebenen Konstrukten künstlicher Intelligenz, gegen stahlgepanzerte Dampfschiffe ungeheurer Größe; da verstümmeln und modellieren Techniker mit thaumaturgischen Kadabras lebendes Fleisch und Intelligenzen zu neuen Funktionen. Und in dieser widersprüchlichen Welt voller Wunder und Sagen leben Menschen und andere Wesen auf der Suche nach einem mächtigen Mythos …

China Miéville wurde 1972 in England geboren. Nach Abschlüssen in Sozialanthropologie und Wirtschaft unterrichtete Miéville in Ägypten. Während sein für mehrere Awards nominierter erster Roman „King Rat“ noch leer ausging, wurde „Perdido Street Station“ mehrfach ausgezeichnet (unter anderem mit dem Arthur C. Clarke Award und dem Kurd-Laßwitz-Preis). Nach „Perdido Street Station“ ist „The Scar“ (deutsch: „Die Narbe“ & „Leviathan„) sein zweiter Roman aus der phantastischen Welt Bas-Lag.

Bellis Schneewein ist eine meisterhafte Linguistin aus New Crobuzon, der mächtigsten Stadt Bas-Lags. Auf der Flucht vor Schwierigkeiten mit den Behörden, die aus den Geschehnissen rund um „Die Falter“ resultieren, heuert sie auf dem erstbesten Schiff an, das die Gestade New Crobuzons verlässt: Die Terpsichoria.

Da trifft es sie doppelt hart, als das Schiff von einem übergeordneten Befehl zurückbeordert wird. Und trotzdem kann sie sich nicht über die Piratenattacke freuen. Das Schiff wird trotz seiner augenscheinlichen Überlegenheit gekapert und entführt, Zielort ist Armada, die schwimmende Stadt. Ein faszinierendes, uraltes Konstrukt aus Schiffswracks und seetauglichen Schiffen, fest verbunden und über Stege und Straßen begehbar, Wohnort von hunderttausenden von Menschen, Remade, Kaktusleuten, Khepri und anderen Bewohnern der Welt. Hier herrschen andere Gesetze, es gibt keine Sklaven, sogar die Remade (thaumaturgisch veränderte Wesen, in ihrer Heimat bestraft und versklavt) sind anerkannte Bürger.

Einerseits froh, der Heimkehr und damit weiteren Verfolgung entkommen zu sein, hat Bellis andererseits Heimweh und plant die Flucht, zumal den |gepressten| Bewohnern Armadas eindeutig klar gemacht wird, dass sie hier ihr Leben beschließen würden und aus Sicherheitsgründen niemals heimkehren könnten.

Und in den Tiefen des Ozeans wartet ein Wesen, unvorstellbar gigantisch und erschreckender Mythos aller Kulturen. Durch ihre Übersetzertätigkeit erfährt Bellis von einer Planung, die diesen Avanc zu fangen vorsieht, ein unmögliches Unterfangen, möchte man meinen: Unter Armadas Schiffen harren riesige Ketten, ein Glied über hundert Meter lang, ihrer Bestimmung als Zaumzeug für die Kreatur. Aber die größte Bedrohung geht von einer anderen Seite aus. Tödliche Gefahr schwebt über New Crobuzon, und Bellis sucht verzweifelt nach einem Weg zur Warnung, entgegen der strikten und interesselosen Vorschriften Armadas …

Schon der zweite Satz im Abschnitt Inhalt mag abschreckend wirken, scheint er doch die Kenntnis des ersten Bas-Lag-Romans von Miéville vorauszusetzen. Dieser Eindruck täuscht. Es sind keinerlei Kenntnisse über Miévilles bisheriges Werk nötig; jene Erwähnung über die Ereignisse in „Perdido Street Station“ sind für den Roman wenig von Belang und liefern befriedigend die Erklärung für Bellis‘ Flucht. Für Leser der PSS stellen sie ein Gimmick dar, denn man erinnert sich an Einzelheiten, die hier unerwähnt bleiben. Andere, wichtige Details, wie beispielsweise das Remaking, werden bildreich und schnell verständlich eingeführt, ohne jedoch jene zu langweilen, denen sie bekannt sind.

Der Autor bewältigt also die Gratwanderung zwischen Erklärungsbedarf für Neuleser und Geduld der anderen bravourös. Seine anschaulichen Beschreibungen lassen trotz ihrer Detailgenauigkeit unendlichen Platz für eigene Spekulationen und Vorstellungen, so dass die Protagonisten ihr Leben eingehaucht bekommen, ohne dem Leser vollendete Darstellungen vorzuschreiben. Und kann man sich überhaupt alles und jedes vorstellen? Soll man das können? Leben nicht gerade unvorstellbare Dinge wie Kettenglieder in Schiffsgröße von ihrer Unvorstellbarkeit? Die Fremdheit der Welt durch die Verschmelzung primitiven Mittelalters mit phantastischer Wissenschaft, der Thaumaturgie und dampfkesselbetriebener KI?

Auch wenn im ersten Abschnitt die Handlung einfach und langsam erscheint, packt die Spannung den Leser beim Genick, so dass Herz- und Atemfrequenz steigen und der Adrenalinausstoß zu zittriger Erwartung führt. Dass man das Buch nicht mehr weglegen kann/will. Dass vielleicht die Hände feucht werden und man verschmilzt mit den Gedanken und Gefühlen der Charaktere. Die Atmosphäre, gefährlich, spannend, mysteriös und – hm, unbeschreiblich; diese Atmosphäre ist vollkommen.

Und wieder neue, unbekannte, fremdartige Geschöpfe. Wie die Anopheles, deren Name treffend der irdischen Malariamücke entlehnt ist. Ihr Schreckensregime: Das Malariale Matriarchat. Oder die Kustkürass, menschliche Wesen mit stark gerinnendem Blut, die sich durch Schnittwunden stahlharte Schorfpanzer modellieren und durch Schnittwaffen kaum zu töten sind … Diese Welt lebt, sie hat eine wundervolle Gegenwart, eine atmende Vergangenheit und eine ungewisse Zukunft, und man erfährt bruchstückhaft und wie selbstverständlich Einzelheiten, die das Bild vertiefen und strukturieren. Und noch so vieles liegt verschüttet in den weiten Meeren, ist in Vergessenheit geraten und harrt eines Zufalls, um in irgendeiner Form Einfluss auf die Gegenwart zu nehmen.

Da „Die Narbe“ das erste Bruchstück eines für die deutsche Bibliothek gesplitterten Romans ist, gibt es nur ein Teilende – noch nicht durchschaubare Einzelheiten wie die unheimlich mächtigen Wesen aus den Tiefen des Meeres schlagen eine Spannungsbrücke zum nächsten Fragment: „Leviathan“.

Ohne ein endgültiges Fazit ziehen zu können, hat mir der Roman doch sehr gut gefallen. Nur frage ich mich, woher er seine Bezeichnung hat? Auf dem Umschlag steht: Es ist die Suche […] nach einer massiven Wunde in der Welt, einer Quelle unvorstellbarer Macht und Gefahr: der Narbe …
Erwartungsgemäß müsste also diese Narbe ein deutlicher Bestandteil des Romans sein, dem ist aber nicht so. Sie wird nicht einmal als Narbe erwähnt, und insgesamt nur verschlüsselt angedeutet. Hier hätte ich mir einen anderen Namen gewünscht.

„Die Narbe“ ist empfehlenswert für jeden Phantastik-Begeisterten und Freund spannender Geschichten. Und dank seiner Unabhängigkeit von „Perdido Street Station“ tatsächlich für jedermann/jederfrau ohne Vorkenntnisse genießbar!

Klugmann, Norbert – Schlüsselgewalt

|Mord an einem 17-Jährigen. Dazu ein Keller voll wertvoller Weine. Doch leider kein Raubmord, wie Kommissar Waldmeister feststellt. Und leider kein gewöhnlicher Fall, denn der Junge ist Sohn eines einflussreichen Reeders. Außerdem ist da noch der alte Schlüssel in der Flasche … Wo ist das Motiv?|

_Der Autor_

Norbert Klugmann, Jahrgang 1951, ist Autor zahlreicher Kriminalromane, von denen „Beule oder wie man einen Tresor knackt“ und „Vorübergehend verstorben“ verfilmt wurden. Mit „Rebenblut“ hat der Hamburger seine Reihe „weinhaltiger“ Marchese-Krimis im |Gmeiner|-Verlag gestartet, „Schlüsselgewalt“ soll nicht der letzte sein …

_Inhalt_

Im Weinkeller des Weinliebhabers Grünfeldt wird die Leiche des jungen Felix von Oldenburg, Sohn eines bekannten Lübecker Reeders, gefunden. Zufällig wohnt der Marchese, ein sehr guter Freund von Grünfeldt und legendärer Weinkenner, derzeit bei seinem Freund in Lübeck. Als er morgens erwacht, findet er auf seinem Tisch eine Flasche Wein, in der sich ein alter Schlüssel befindet.

Auf der einen Seite die Polizei um Kommissar Waldmeister, der das öffentliche Interesse an Felix‘ Mord fürchtet, auf der anderen Seite der Marchese, der sich auf eigene Faust an die Ermittlungen macht und der Konkurrenz die Sache mit dem Schlüssel vorenthält. So scheint der Marchese schnell Oberwasser zu gewinnen und kommt auf die Spur eines uralten Hanse-Geheimnisses, zu dem vier gleich alte Schlüssel führen. Waldmeister verkriecht sich schnell in einer Affäre mit der Freundin von Phillip, der seit dem Mord an seinem Freund Felix verschwunden ist. Und irgendwo lauert ein Popstar, auf der Suche nach außergewöhnlichen Weinen.

Obwohl der Marchese schnell an den zweiten Schlüssel gerät, scheint es keine logische Verbindung zu dem brutalen Mord zu geben. Trotzdem gräbt er sich weiter in die Vergangenheit mit seinem untrüglichen Instinkt, dort die entscheidenden Hinweise zu finden. Und tatsächlich fördert er eine Geschichte zutage, die aus den letzten Tagen der Hanse nach der Gegenwart greift:

|»Kennt ihr diese blöden Krimis, wo sie bis zur letzten Seite nach einem Motiv suchen …?«|

Und das Motiv ist wirklich überzeugend …

_Kritik_

|»Heute stieß er sich nicht den Kopf. Daran erkannte er, dass er im Begriff war, sich im Keller wie zu Hause zu fühlen …«|

Ein guter Anfang ist schon die halbe Miete, hört man manchen sagen, der sich auskennt. Klugmann hat einen sehr fesselnden Anfang zustande gebracht – nicht unbedingt von Inhalt und Spannung her, sondern stilistisch. Und so geht es weiter, ständig reißt er den Leser mit seinen plötzlichen Orts-, Zeit- und Personenwechseln … nicht aus dem Lesefluss. Wenn man könnte, würde man lesen, bis die Geschichte endet. Leider machen hier andere Bedürfnisse manchmal ihre eigenen Gesetze. Nein, er reißt uns mit, tiefer in die Geschehnisse hinein, beleuchtet den roten Faden aus verschiedenen Blickwinkeln, mit Hilfe verschiedener Charaktere, die jeder für sich einzigartig und völlig glaubwürdig sind.

Manchmal, vor allem bei Absätzen und Szenenwechseln, die durch ihr perfektes Zusammentreffen mit dem Seitenwechsel gestalterisch unbemerkt kommen, ist es im ersten Moment verwirrend und erfordert höhere Konzentration: Wenn ähnliche Stimmungen gezeichnet werden oder aber gänzlich andersartige Ereignisse in den Vordergrund treten.

Schön ist die Darstellung von Charakterzügen und geschichtlichen Hintergründen zur Hanse, deren Hinterlassenschaften – ob von alten Familien verwaltet oder zeitweise verschollen – gerade in der heutigen Kommerzgesellschaft wieder Einfluss gewinnen könnten. Jahrhundertelange Pflege der Traditionen steht vor dem Ende, wenn die menschliche Gier geweckt wird.

Bei dieser sehr guten Leistung kommt es ein leider klischeehaft daher, wie Kommissar Waldmeister als Junggeselle erstens sich seiner Kollegin gegenüber wie ein Macho verhält und zweitens während der Ermittlungen mit der Freundin von Phillip anbandelt. Man erfährt in einigen Szenen aus Waldmeisters Gedanken, wo seine wahren Interessen liegen:
|»Da irrst du dich, Mädchen! Ich bin dazu da, dass du wach bleibst – die ganze Nacht!«|
So bleibt es auch nicht aus, dass Waldmeister über seine erotischen Fantasien die Ermittlungen aus den Augen verliert – bis sich herausstellt, dass Beheshta, seine kleine Gespielin, nicht ganz so harmlos ist, wie sie aussieht.

Die beiden alten Männer (Grünfeldt und der Marchese) haben nichts gegen den Tod einzuwenden. Nur ist es ihnen zuwider, dass ein Jugendlicher, der sein ganzes Leben vor sich hat, ermordet wurde. Vielleicht kann man so erklären, dass es in den letzten Kapiteln des Buches zu blutrünstigen Szenen kommt, dass es sogar brutale Folterungen – gerade auch im Zeichen des Guten – gibt. Eine Frage stellt sich mir in diesem Kontext: Der millionenschwere Popstar, von einem Profikiller attackiert und misshandelt, zieht mit einer Horde von Amateuren los – warum engagiert er keine Profis?

_Fazit_

Trotz mancher verwirrender Eingriffe ein hervorragend unterhaltender Roman mit nachvollziehbarer Handlung und realistischen Charakteren; der Autor bindet jeden wie hingeworfen erscheinenden Gedanken gekonnt in den Kontext ein, so dass sich alle handlungsrelevanten Fragen wie von selbst beantworten. Die oben erwähnten Mängel schmälern das Lesevergnügen nur marginal und sollten nicht als Kaufkriterien angesehen werden. Insgesamt ein sehr empfehlenswerter Roman, sowohl für hansegeschichtlich Interessierte und Krimifans als auch einfach zur Unterhaltung.

|Weitere Informationen unter http://www.gmeiner-verlag.de/ |

Interview mit Michael Marrak

Michael Marrak, Jahrgang 1965, lebt seit Anfang 2001 in Hildesheim bei Hannover und arbeitet freiberuflich als Schriftsteller und Illustrator. Seine erste Erzählung wurde 1990 veröffentlicht, seither erschienen zahlreiche Erzählungen und Illustrationen in Magazinen und Anthologien. 1997 debütierte er mit seinem ersten Roman „Die Stadt der Klage“. Ende 2000 erschien schließlich der Roman „Lord Gamma“, mit dem er ein Jahr später den Kurd-Laßwitz-Preis und den Deutschen Phantastikpreis für den besten deutschen SF-Roman des Jahres gewann. In „H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“ erschien 2002 der Roman „Imagon“, der ebenfalls den Kurd-Laßwitz-Preis für den besten Roman erhielt. Bei Bastei-Lübbe wurde „Imagon“ in diesem Jahr als Taschenbuch veröffentlicht.
Das Gespräch wurde Ende Mai geführt. Weitere Informationen zum Autor finden sich im Internet auf http://www.marrak.de.

Buchwurm.info:
In den letzten Jahren gab es zwei sehr erfolgreiche Romane von dir. Im Rückblick auf „Lord Gamma“ und „Imagon“: Hättest du den großen Erfolg der beiden Romane erwartet?

Michael Marrak:
Was „Lord Gamma“ betrifft: Nein. Ich hatte lediglich gehofft, dass sich deutlich mehr Leute für das Buch interessieren würden als die wenigen hundert Stammleser, die ich damals (in meiner Kleinverlagszeit) noch hatte. Die „Lord Gamma“-Originalauflage im Shayol-Verlag betrug gerade mal 300 Exemplare. Davon, dass der Roman zwei Jahre später als Buchtipp des Monats bei Lübbe veröffentlicht werden würde, träumte ich zu dieser Zeit noch nicht einmal. Im Mai 2002 erschien „Lord Gamma“ schließlich in fünfstelliger Auflage als Lübbe-Taschenbuch, und bereits im Startmonat verkauften sich knapp 4000 Exemplare. Erst da dachte ich: Oha, das könnte interessant werden …

Allerdings wehre ich mich gegen den Trugschluss, „Imagon“ und „Lord Gamma“ seien Erfolgsbücher, nur, weil ich für sie einige Preise erhalten habe. Erfolg hat nichts mit einem (zumal undotierten) SF-Literaturpreis zu tun. Erfolg rechnet sich in meiner jetzigen Situation als freier Schriftsteller einzig und allein durch Absatzzahlen und darüber, ob ein Buch für den Verlag rentabel ist oder der Autor schlicht und einfach seine Vorschüsse nicht einspielen kann, weil sich seine Bücher nicht verkaufen.

Das Schlimmste, was mir als Autor bei einem großen Verlag wie Lübbe passieren könnte, wäre, dass ich bei den Buchhaltern den Makel eines Autors bekomme, der seine Garantiesumme nicht wert ist. Seine Vorschüsse einzuspielen ist wichtiger als jeder eventuelle Preisgewinn eines Kurd Laßwitz oder was auch immer. Zumal sich die deutschen SF- und Phantastikpreise definitiv noch nie groß auf die Verkäufe ausgewirkt haben. Also bitte einem Buch nicht sofort einen Erfolgsstempel aufdrücken, nur weil „Literaturpreis“ draufsteht.

Buchwurm.info:
Was dachtest du, als „Lord Gamma“ rechtzeitig zum Kurd-Laßwitz-Preis nicht mehr lieferbar war?

Michael Marrak:
Ich habe mich geärgert. Bei der Preisverleihung in Dresden gab es das Novum, dass ein Phantomroman ausgezeichnet wurde: Die Originalauflage war vergriffen, die Neuauflage noch nicht erschienen. Zwar war damals bereits das Taschenbuch bei Lübbe geplant, aber bis zur Wiederveröffentlichung war es noch fast ein Jahr hin. Ich fürchtete, dass sich bis dahin kaum noch jemand an das Buch erinnern würde. Glücklicherweise war das am Ende nicht der Fall. Das Buch kletterte z. B. bei Amazon.de innerhalb weniger Tage bis auf Verkaufsrang 4. Ich war völlig baff, fand mein Buch plötzlich in Konkurrenz zu Romanen von Henning Mankell, Tom Clancy, Ken Follett und dem Dalai Lama. Das dauerte zwar nur zwei oder drei Wochen, begeisterte mich aber dermaßen, dass ich im wahrsten Sinne des Wortes zum Ranking-Surfer mutierte …

Buchwurm.info:
„Abydos“ ist der Arbeitstitel deines kommenden Romans. In welche Richtung wird es diesmal gehen, nach den zwei sehr unterschiedlichen Vorgängern? „Lord Gamma“ ist erstklassige Science-Fiction, „Imagon“ eine Mischung aus SF und Wissenschaftsthriller, wobei man ihm eine deutliche Horror-Komponente nicht absprechen kann – Was kommt als Nächstes?

Michael Marrak:
Ein recht umfangreicher, phantastischer Roman, den ich aus dem Stehgreif nur sehr schwer definieren kann. Es ist ein Synergy-Projekt – ein Crossover aus SF, Phantastik, Horror und Wissenschafts-Thriller mit einem deftigen Schuss Religion und altägyptischen Mythen. Ich tue mich mit dem Einordnen des Stoffes ein wenig schwer, doch man könnte ihn vielleicht als eine Mischung aus Ian McDonalds „Necroville“, Farmers „Flusswelt der Zeit“ und einer sehr modernen Version von Dantes „Göttlicher Komödie“ beschreiben – falls irgendjemand Wert auf derartige Vergleiche legt. „Abydos“ ist nicht ganz so hysterisch wie „Lord Gamma“, aber auch nicht mehr so kalt und bedrückend wie „Imagon“. Es wird – schon allein aufgrund des Handlungsumfeldes – ein sehr zynischer Roman mit einer gesunden Portion an schwarzem Humor … und knietief Blut … 😉

Buchwurm.info:
Abydos ist eine heilige Stadt in Ägypten, ihr wichtigstes Gebäude ist der Sethos-Tempel. Laut Legende hatte in Abydos die Auferstehung des Gottes Osiris stattgefunden, dessen Kopf hier begraben wurde. Ist „Abydos“ vielleicht doch nicht nur Arbeitstitel?

Michael Marrak:
Doch, im Grunde schon. Die Stadt wird lediglich hin und wieder unter ihrem alten ägyptischen Namen Abdju erwähnt (Abydos ist der Name, den die Griechen der Stadt gaben – wie auch der Großteil aller uns bekannten ägyptischen Namen und Begriffe erst von den Griechen geprägt wurde). Die antike Tempelstadt Abydos ist die einstige Heimat einer meiner Hauptfiguren und kommt u. a. in einer Rückblende vor, besitzt im Roman jedoch keine tragende Rolle. Der tatsächliche Romantitel erinnert mehr an eines der fünf Bücher Moses …

Buchwurm.info:
Die Erwartungen der Leser (und Redaktionen) bezüglich „Abydos“ sind durch deine bisherige Leistung sicher enorm. Belastet dich diese Erwartungshaltung?

Michael Marrak:
Nein, eigentlich nicht. Ich ziehe, wie es so schön heißt, mein Ding durch. Die einzige Belastung, die enorm ist, ist mein weiterhin schmerzendes Handgelenk. Leider hat die Operation vor anderthalb Jahren nicht die erhoffte Verbesserung gebracht. Aber das ist eine andere Geschichte.

Buchwurm.info:
Ja, davon habe ich gehört. Du musstest die Arbeit an „Abydos“ zeitweise einstellen. Ich wünsche dir alles Gute für die Genesung! War es schwer, nicht schreiben zu können, oder hast du die Pause auch genossen?

Michael Marrak:
Genossen? Ich bin schier verrückt geworden! Die größte Pause gab es jedoch während der Arbeit an „Imagon“. Damals erwischte es mich mitten im Roman. Bei „Abydos“ konnte ich lediglich nicht mit dem Schreiben beginnen, was jedoch nicht weniger quälend war.

Das eigentliche Problem war, dass ich durch die lange Pause von fast einem Jahr irgendwann völlig den Faden verloren hatte und nicht mehr wusste, welches Projekt ich nun als nächstes anfangen bzw. zuende bringen sollte. Zu viel nutzlose Zeit bedeutet zwangsläufig, dass sich zu viele Ideen anstauen. Ich verlor das ursprüngliche Ziel aus den Augen, konnte mich monatelang nicht entscheiden, was ich als nächstes schreiben werde. Für eines der drei in Frage kommenden Romanprojekte fühlte ich mich noch nicht reif und vorbereitet genug, daher beschloss ich, zuerst noch ein Buch dazwischenzuschieben. Ich schrieb schließlich an einem Roman weiter, von dem ich überzeugt war, dass er der richtige sei und Lübbe gefallen werde. Tat er aber nicht, was sehr, sehr ärgerlich war. Stattdessen interessierte mein Lektor sich für ein Projekt, an dem ich nebenher arbeitete, sozusagen for my private satisfaction, ohne das Ziel, dieses Buch Lübbe anzubieten. Und falls doch, dann erst, wenn ich es mir vom Erfolg her leisten konnte, dem Verlag so etwas Abgedrehtes vorzulegen, ohne dafür gekreuzigt zu werden. Ich schrieb diesen Roman für mich, weil ich Spaß daran hatte, keinem Exposé oder Konzept folgen zu müssen, sondern mich von der Entwicklung der Handlung überraschen zu lassen. Und ausgerechnet dafür interessierte sich mein Lektor, weil er nach „Imagon“ gerne noch ein Buch bringen wollte, das eindeutiger in die SF-Reihe passt als das abgelehnte. Nun gut, dachte ich, kein Problem, soll mir recht sein. Also schickte ich ihm die ersten einhundert Seiten … Und was soll ich sagen? Das Ding gefiel ihm!

Ich erwarte von „Abydos“ nicht, dass es ein kommerzieller Erfolg wird, dazu ist der Roman zu schräg und zu … wie soll ich sagen? Grotesk? Absonderlich? Unkonventionell? Abgedreht? Gewisse Leute, die nach wie vor glauben, ich schreibe meine Bücher nur unter Drogen, werden sich durch diesen Roman zweifellos bestätigt fühlen. „Abydos“ ist Wasser auf ihre Mühlen.

Buchwurm.info:
Bei „Imagon“ stammt auch das Titelbild von dir – meiner Meinung nach übrigens sehr gelungen. Wirst du auch dein neues Buch selbst illustrieren?

Michael Marrak:
Das kann ich noch nicht sagen. Eventuell, falls mir etwas Passendes einfällt und gelingen mag. Allerdings habe ich vor einigen Wochen auch ein Wunschtitelbild an den Verlag geschickt, jedoch noch keine Reaktion darauf erhalten. Es ist von einem amerikanischen Illustrator und würde zu „Abydos“ passen wie kaum ein zweites. Mal sehen. Ich bleibe am Ball.

Buchwurm.info:
Was machst du, wenn du gerade mal keinen Bestseller schreibst?

Michael Marrak:
Korrektur: „Imagon“ ist (bisher) kein Bestseller, und ich denke, er wird sich im Gegensatz zu „Lord Gamma“ auch im eher begrenzten Rahmen dessen verkaufen, was von SF normalerweise umgesetzt wird. Ich kann mich natürlich irren und lasse mich gerne überraschen. Aber mal ehrlich: Die einzige „Bestsellerliste“, in die „Lord Gamma“ damals geklettert war, war die von Amazon.de. Für einen als SF ausgewiesenen Roman hat er sich wirklich außerordentlich gut verkauft, was nicht wenige überrascht hat. Ob „Imagon“ einen ähnlich erfolgreichen Weg einschlagen wird, bleibt abzuwarten. Das Lübbe-Taschenbuch ist ja erst seit kurzem erhältlich.

Aber um auf deine Frage zurückzukommen: Ich bin ein klassischer Elfenbeinturm-Bewohner. Ein Stubenhocker, der sehr viel (und sehr intensiv) Musik hört, leider viel zu wenig Unterhaltungsliteratur liest und seit kurzem wieder als Illustrator arbeitet, um einen Ausgleich zum recht anstrengenden Schreiben zu haben. Falls ich lese (was ich eigentlich jeden Tag tue), dann zumeist der Recherche wegen, also Sachbücher, themenspezifische Internetartikel oder Magazine wie National Geographic (im Abo), PM, Sterne und Weltraum oder Kemet, ein Magazin zur Ägyptologie. Daneben bin ich leidenschaftlicher Filmegucker, und unser DVD-Player ist neben meinem Schreibrechner und der Stereoanlage wohl das am meisten ausgelastete technische Gerät im Haus.

Buchwurm.info:
Noch eine unvermeidliche Frage: Wie sieht dein täglicher Rhythmus aus? Oder hast du keinen?

Michael Marrak:
Ich habe keinen. Ich bin ein Chaot. Ich prügele mich 365 Tage im Jahr mit meinem inneren Schweinehund, finde täglich ebenso viele Ausreden, um mich vor dem Schreiben zu drücken, stehe mal morgens um fünf, mal mittags um zwei oder mal abends um acht auf, arbeite nur dann, wenn ich wirklich einen klaren Kopf habe und mich konzentrieren kann, und dann in der Regel in Exzessen, um anschließend wieder eine Schaffenspause einzulegen … Oder besser gesagt: in ein Schaffensloch zu fallen. Bis zum nächsten Schreibanfall. Dazwischen liegt ebenso viel Hysterie wie Depression, Euphorie, Trägheit und die Tatsache, dass wegen des schmerzenden Handgelenks (Karpaltunnelsyndrom) oft kein geregeltes Arbeiten möglich ist.

Buchwurm.info:
Im Juni soll die Primärarbeit an „Abydos“ beendet sein. Was kommt danach, und warum erscheint der Roman erst im Frühjahr 2005?

Michael Marrak:
Ich denke, nach „Abydos“ werde ich erst mal einen kurzen Jugendroman vollenden, auf den der Thienemann-Verlag bereits geduldig wartet. Die mir angebotene Chance, in diesem Genre Fuß zu fassen, möchte ich mir auf keinen Fall entgehen lassen. Gleichzeitig werde ich elf oder zwölf meiner Erzählungen für eine Storysammlung, die Anfang/Mitte 2005 im Festa-Verlag erscheinen soll, zusammenstellen und überarbeiten. Bis zum Jahresende möchte ich mit beiden Projekten fertig sein, um mich danach jenem Roman zu widmen, mit dem ich bei Lübbe in die Allgemeine Reihe wechseln werde (das ist kein Wunschdenken, sondern bereits unter Dach und Fach). Ich arbeite sozusagen auf den nächsten Quantensprung hin. Aber das ist alles noch Zukunftsmusik.

Der Grund, warum „Abydos“ erst in einem Jahr erscheint, liegt in der langen Vorlaufzeit des Verlags. Lektorat, Überarbeitung, Satz, Druck der Vorabexemplare für die Verlagsvertreter und die Medien, Werbung, Prospektpräsenz, etc. Das geht alles nicht so ratz-fatz wie in Kleinverlagen, in denen man das Manuskript abgibt und das Buch manchmal schon vier Wochen später gedruckt vorliegt. „Abydos“ ist ja nicht das einzige Buch, das im Mai 2005 bei Lübbe rauskommt. Es geht hier um die Koordination zahlloser Neuerscheinungen, und das meist über Jahre im Voraus.

Buchwurm.info:
Laut Homepage hast du Verträge bis einschließlich 2006. Darunter fallen die beiden (Tarn-)Titel „Abydos“ und „Gaia“. Wie lange braucht es durchschnittlich zur Veröffentlichung eines Romans?

Michael Marrak:
Ich kann bei dieser Frage nur von meiner eigenen Arbeit ausgehen und nicht für andere Autoren sprechen, die weitaus zügiger und beständiger arbeiten können. Ich schreibe wegen der Sache mit der Hand verhältnismäßig langsam, oder besser gesagt: in kleineren Häppchen. Der Vorteil: Ich kann mir für ein Buch mehr Zeit lassen. Der Nachteil: Ich brauche für einen Roman doppelt so lange wie Autoren, die einem geregelten Tagesrhythmus folgen und sechs bis acht Stunden am Tag schreiben können (wie ich sie darum beneide!). Der Vorteil des Nachteils: Ich werde niemals als Vielschreiber verschrieen sein, dessen Qualität auf Kosten der Quantität leidet. Das hat auch was. Ich möchte auch in zehn oder zwanzig Jahren noch zu meinen Büchern stehen können und nicht verschämt sagen müssen: „Das ist scheiße, aber ich hab das damals auch nur runtergehauen …“

Für einen Roman brauche ich in der Regel anderthalb Jahre. Eher zwei, da ich meist nicht allein an einem einzigen Projekt arbeite und in dieser Zeit noch die eine oder andere Erzählung schreibe. Nach Ablieferung des Manuskripts dauert es noch mal neun bis zwölf Monate, bis das Buch erscheint.

Buchwurm.info:
Ist „Gaia“ die momentan künftigste Planung (und worum handelt es sich dabei)?

Michael Marrak:
Was nach „Gaia“ kommt, weiß ich tatsächlich nicht. Und bevor du fragst: Dieser Arbeitstitel ist ebenso irreführend wie „Abydos“, umreißt aber grob das Spielfeld. „Gaia“ wird mehr oder minder ein SF-Roman werden, bei dem der SF-Aspekt jedoch sehr verhalten behandelt wird. Das vermeintlich Phantastische wird in ihm größtenteils auf Realität und tatsächlichen Gegebenheiten basieren. Er wird auf drei Kontinenten spielen, und das sowohl im 13. als auch im 21. Jahrhundert. Mehr möchte ich dazu noch nicht verraten. „Gaia“ wird jedenfalls keinem meiner bisherigen Romane ähneln.

Der Roman wird frühestens Ende 2006 erscheinen, eher noch Anfang 2007, da ich wie erwähnt ein Jugendbuch dazwischenschieben will und zudem im September dieses Jahres für drei Monate nach Wien gehe. Das Kunst-Stipendium habe ich zugunsten von „Abydos“ bereits um ein halbes Jahr verschoben, und in den drei Monaten im Wiener Museumsquartier möchte ich mich mehr der bildhaften Kunst widmen als dem Schreiben.

Buchwurm.info:
Was machst du heute abend?

Michael Marrak:
Ich versuche endlich zu schlafen. Letzte Nacht hat’s nicht geklappt, da ich am Abend zuvor zweieinhalb Liter Cola getrunken hatte. Jetzt bin ich seit über dreißig Stunden wach und pfeife aus dem letzten Loch. Schon blöd, wenn man „light“ und „koffeinfrei“ miteinander verwechselt … Na ja, wahrscheinlich schreibe ich noch einen „Panorama“-Eintrag und guck später noch „Underworld“ als Betthupferl.

Buchwurm.info:
Ich wünsche dir dabei viel Spaß und weiterhin viel Erfolg mit deiner Arbeit! Vielen Dank für das interessante Interview! Ich glaube, nicht nur ich, sondern auch viele andere Leser warten gespannt auf dein nächstes Buch.

Michael Marrak:
Ich habe zu danken. Und was das nächste Buch betrifft: Ich bin am meisten gespannt, wie es endet …

Kurzbibiliographie:

„Die Stadt der Klage“
Roman, Edition Mono, Wien 1997

„Die Stille nach dem Ton“
5 Novellen, Edition Avalon, Berlin 1998

„Lord Gamma“
• Roman, Shayol, Berlin 2000
• Taschenbuchausgabe: Bastei Lübbe TB 24301, Bergisch Gladbach 2002

„Imagon“
• Roman, Festa, Almersbach 2002
• Taschenbuchausgabe: Bastei Lübbe TB 24325, Bergisch Gladbach 2004

„Die Ausgesetzten“
in: „Eine Trillion Euro“, Andreas Eschbach (Hrsg.),
Bastei Lübbe TB 24362, Bergisch Gladbach 2004

Foto: Irena Brauneisen, 2006. Quelle: marrak.de

Robert A. Heinlein – Starship Troopers – Sternenkrieger

„Vorwärts, ihr Affen! Wollt ihr ewig leben?“ Dieses Zitat von Unbekannt, 1918, dürfte mittlerweile unter den Zuschauern des Films „Starship Troopers“ ausreichend in Erinnerung sein. So animiert, stürmten die Gefreiten freudig in die Schlacht, und „Schlacht“ muss man es wirklich nennen, das Gemetzel, das John Rico und seine Mitstreiter unter den „Bugs“, den „Fehlern der Evolution“, anrichten – oder umgekehrt, denn die Arachniden schlagen gnadenlos zurück. Doch nun zum Roman:

Der Autor

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Herbie Brennan – Das Elfenportal (Faerie Wars 1)

Henry glaubt nicht an Elfen. Er ist schließlich schon vierzehn! Früher, vor unendlich langer Zeit, als er noch ein Kind war – damals glaubte er die Geschichten über kleine, geflügelte Wesen, die guten Menschen drei Wünsche gewährten. Heute glaubt er nicht mehr an sie. Doch was, wenn ihm ein Elf begegnet?

Der Autor

Herbie Brennan hat zahlreiche Bücher für Kinder und Erwachsene geschrieben, die in mehr als fünfzig Ländern und in einer Gesamtauflage von über 7,5 Millionen Exemplaren erschienen sind. Nebenbei entwickelt er Spiele und Software und arbeitet fürs Radio. Er lebt in County Carlow in Irland.

Der Inhalt

Der Purpurkaiser herrscht gerecht über das Volk der Elfen. Die Lichtelfen sind zufriedene Untertanen, doch die Nachtelfen scheinen Übles zu planen. Das allein bereitet dem Kaiser schon genug Kopfschmerzen, doch zu allem Überfluss ist sein Sohn Pyrgus, der Kronprinz, verschwunden.

Pyrgus ist ein Tiernarr. Er kann es nicht ausstehen, wenn Tiere gequält werden. So entwendete er den Phönix aus dem Haus Lord Hairstreaks, wobei er unglücklicherweise ertappt wurde. Auf seiner Flucht gelangt er in die Leimfabrik Chalkhill & Brimstone, wo er das nächste erschütternde Erlebnis hat: Die Zauber-Klebe-Formel besteht in einem lebenden Kätzchen, das täglich dem Leim geopfert werden muss! Hier ist also wieder eine Rettungsaktion gefragt – doch diesmal wird Pyrgus prompt von den Wächtern der Fabrik festgenommen, fast zu Tode geprügelt und dem Geschäftsführer – Brimstone – vorgeführt, der gerade einen teuflischen Pakt mit Beleth, dem Fürsten der Dämonen, abgeschlossen hat. Zufälligerweise ist es Pyrgus, den der Dämon als Opfer verlangt, und so kommt Brimstone die Gefangennahme sehr gelegen.

Kurz vor dem Opfergang kommt es zu einem Zwischenfall, der Pyrgus aus dem Dämonenkreis befreit. Bevor Brimstone eingreifen kann, erscheint die Palastwache des Purpurkaisers und eskortiert Pyrgus zum Palast.

Politische Verwicklungen zwischen Licht- und Nachtelfen verlangen höchste Sicherheit für den Kronprinzen, und so soll Pyrgus durch das Elfenportal, das sich im Besitz der Kaiserfamilie befindet, in die Gegenwelt transportiert werden, um dort das Ende der Streitigkeiten zu erwarten. Eine einsame Insel in der Karibik ist das Ziel, doch als man nach gelungenem Transfer überprüfen möchte, ob es dem Prinzen gut geht, ist er nicht auffindbar. Offensichtlich wurde er durch Sabotage an einen anderen Ort befördert …

In der Gegenwelt: Henrys Eltern liegen im Streit. Die Mutter hat eine Affäre mit der Sekretärin ihres Mannes (!), und der soll darum aus dem Familienleben treten. Ob all dieser Ungerechtigkeiten bleibt dem vierzehnjährigen Jungen nur die zeitweilige Flucht. Er geht zu Mr. Fogarty, um dem alten Mann beim Aufräumen seines Hauses oder Gartens zu helfen. Kaum steht er vor dem bruchfälligen Schuppen, als Fogartys Kater einen Schmetterling einfängt. Henry, der sehr tierlieb ist, verbietet dem Kater seine Beute und fördert – keinen Schmetterling zu Tage, sondern ein geflügeltes kleines Menschlein, offenbar ein Elf! Henry glaubt nicht an Elfen, aber er weiß, dass Mr. Fogarty an sie wie auch an Außerirdische und dergleichen glaubt. Also bringt er seinen Fund in die Küche, und mit Hilfe des alten Mannes bringen sie ein Verstärkergerät zustande, das die Stimme des kleinen Wesens hörbar macht.

Henrys Weltanschauung ist über den Haufen geworfen. Es ist tatsächlich ein Elf, und zwar Pyrgus, der Sohn vom Purpurkaiser des Elfenreichs! Ärgerlich für Pyrgus ist, dass der Filter des Portals versagt haben muss und er nun in der lächerlichen Gestalt eines kleinen fliegenden Würmchens in der Gegenwelt ist. Auf jeden Fall ist allen klar, dass Pyrgus so schnell wie möglich in seine Welt zurückkehren muss. Dort steht mittlerweile eine große Konfrontation zwischen Nacht- und Lichtelfen bevor, und auch die Dämonen scheinen einen Plan zu haben …

Kritik

„Das Elfenportal“ mutet erstmal wie ein Jugendroman an – Vierzehnjährige, die in Abenteuer verstrickt werden und das Schicksal der Welt in den Händen halten. Doch Brennan verstrickt in dieser Geschichte Abenteuer gekonnt mit Fantasy, Ironie und Humor, zeigt auf diese Art nicht nur Ausschnitte aus dem – unheimlich vertrauten – Elfenreich, sondern auch Aspekte unserer Gesellschaft, des Familienlebens und des Klischees, dass scheinbar immer die Ehemänner Affären mit ihren Sekretärinnen haben, wenn eine Ehe zu Bruch geht.

Interessant ist auch die Verknüpfung der Elfengeschichte – klein, geflügelt, drei Wünsche – mit dem Außerirdischen-Mythos – dürre, graue, großköpfige Wesen mit riesigen Augen, die Unmengen Amerikaner entführen. Nach diesem Buch wissen wir, woher diese Außerirdischen kommen und was es mit unseren kleinen, niedlichen Elfchen auf sich hat. Und wir haben einen spannenden Einblick in das Leben der echten Elfen bekommen, das sich von dem unsrigen gar nicht so sehr zu unterscheiden scheint. Natürlich gibt es im Elfenreich andere Technik – dort als Magie bezeichnet – und andere Mythen, aber die Wesen scheinen zu fühlen wie Menschen, unabhängig davon, dass sie sich Elfen nennen.

Es hat auf jeden Fall nichts mit den Elben aus Tolkiens „Herrn der Ringe“ zu tun und steht also Abseits der Diskussion, ob die weit verbreiteten Fantasy-Elfen mit Tolkiens Elben identisch sind. Hier handelt es sich tatsächlich um diese kleinen, geflügelten Geschöpfe unserer Märchen, die – wie wir nun wissen – eigentlich gar nicht so klein und schon gar nicht geflügelt sind.

Der Konflikt zwischen Lichtelfen und Nachtelfen sowie den Dämonen ist facettenreich geschildert, und ein Lösungsansatz führt genauso in die Irre wie der nächste. Jede Partei ist überzeugt, die anderen zu durchschauen und hintergehen zu können oder ihnen überlegen zu sein, bis es im Finale zu einer überraschenden Wendung kommt, bei der auch der mysteriöse Mr. Fogarty eine Rolle spielt. Die Geheimnisse, die dieser Mann mit sich herumträgt, tragen allerdings nur noch zu Henrys Verwirrung bei. Ist ihm irgendwann aber auch egal, denn er trifft ja auf Holly Blue, die Schwester von Pyrgus.

Wo wir grad bei den Geschwistern sind: Comma, der Dritte im Bunde, steht nach Pyrgus in der Thronfolge. Und hier sieht man wieder einen Aspekt, der – da nicht eindeutig erwähnt – eventuell aus diesem Buch mehr macht als nur ein Jugendbuch. Mit Ironie wird deutlich, dass Comma zwar auch hintergangen wird, aber als einer der wenigen vom Verschwinden Pyrgus‘ profitiert hätte.

Fazit

Ein schnelllesiges Buch, wenn ich diesen Ausdruck mal kreieren darf. Und wirklich kurzweilig. Wie Mr. Colfer auf dem Umschlag bemerkt, ist dieser Plot durchaus der einen oder anderen Erweiterung fähig. Ein schönes Lesevergnügen, bei dem man nicht selten zum Schmunzeln, aber auch zum Nachdenken angeregt wird. Empfehlenswert – mal wieder für jedermann!

Ein wenig Kritik am Einband: Es prangt das Symbol „dtv premium“ darauf. Aber bezieht sich das nur auf den Inhalt und nicht auf die Verarbeitung? Die Verklebung der Seiten lässt – zumindest bei meiner Ausgabe – doch sehr zu wünschen übrig.

Michael Marrak – Imagon

Aus H. P. Lovecrafts Elder Gods-Mythos entstand eine Geschichte, die eindrucksvoller nicht sein könnte. Nichts könnte die unheimlichen Großen Alten deutlicher, glaubhafter schildern, nichts vor der Gefahr eindringlicher warnen, die dem Cthulhu-Mythos innewohnt.

Der Autor

Michael Marrak wurde 1965 in Weikersheim geboren, ist gelernter Großhandelskaufmann und besuchte das Berufskolleg für angewandte Grafik in Stuttgart. Mittlerweile lebt und arbeitet er als freier Schriftsteller und Illustrator in Hildesheim.

Inhalt

Der dänische Geophysiker Poul Silis hasst Schnee. Eines Tages wird er von seinem Institut auf eine merkwürdige Sache angesetzt: In Grönland wurde ein Krater im ewigen Eis entdeckt, dessen Ausmaße nur von einem gigantischen Meteoriten herrühren können – doch keine Station auf der Erde hat seinen Einschlag beobachtet. Es gibt weder die typischen Aufwerfungen des verdrängten Substrats, noch die charakteristische Impaktwolke über dem Gebiet.

Man behandelt den Vorfall mit strengster Geheimhaltung. Silis wird nach Grönland verschifft und trifft auf das Team seines ehemaligen Mentors, Professor DeFries. Es stellt sich heraus, dass der Krater die Spitze eines uralten Tempels in der Front eines Berges freigelegt hat – älter als das intelligente Leben auf der Erde! Unheimliche Symbole zieren den einzig erreichbaren Eingang. Und ebenso unheimlich ist: Silis wird von Alpträumen geplagt, in denen er den Tempel (in seiner Gänze) sieht – mit seinen Bewohnern, grauenhaften Wesen, die das Tageslicht scheuen …

In der Mitte des Kraters findet man ein mehrere Meter durchmessendes Schluckloch, durch welches das Schmelzwasser von den Freilegungsarbeiten am Tempel zurück unter das Eis fließt. Wieder beobachtet Silis unheimliche Phänomene: Das Wasser fließt in der arktischen Kälte kilometerweit und schert sich dabei um keinerlei physikalische Gesetze. So fließt es in einem breiten, flachen Rinnsal schnurgerade zum Schluckloch und überwindet dabei sogar meterhohe Hindernisse.

Ein Experiment am Schluckloch zeigt, dass es seinen Namen zu Recht trägt. Es verschluckt sowohl Rauch (der sich in Spiralen abwärts dreht) als auch Schall! Zwei sich gegenüberstehende Menschen mit dem Loch zwischen sich vermögen sich nicht mehr zu hören. Als eine Magnesiumfackel von Silis in das Loch geworfen wird, bebt der Boden und eine gewaltige Fontäne befördert die Fackel zurück ans Licht. Silis‘ Begleiter wird von einem geleeartigen Klumpen der Masse berührt, die in seinen Körper eindringt. Er verliert das Bewusstsein und Silis erfährt von DeFries merkwürdige Geschichten über die Großen Alten, die Älteren Götter und unheilige Wesen.

Silis‘ Begleiter ist dem Tode geweiht, Silis selbst zweifelt an seinem wissenschaftlichen Verstand wie auch an dem seines ehemaligen Mentors DeFries. Ein Inuit-Schamane verhilft ihm zu einer Traumbegegnung mit Sedmeluq – danach ist nichts mehr, wie es vorher war. Silis steigt in den Tempel hinab, auf der Suche nach Antworten. Er betritt eine gigantische Halle, die er aus seinen Träumen zu kennen glaubt. In ihrer Mitte befindet sich eine Mulde, in der sich eine tiefschwarze Masse bewegt, die Silis sofort als Qur identifiziert: Das unheilige Medium, dem die Älteren Götter entstiegen. Hier ist das Tor zur anderen Seite, das nicht geöffnet werden darf. Doch keiner der Wissenschaftler zieht Silis endgültig ins Vertrauen, denn sie wissen, dass er ein Imagone ist, der als Schlüssel zu dieser Welt von Sedmeluq ausersehen wurde …

Kritik

Man rätselt mit dem Protagonisten. Es gibt Bücher, in denen man stets mehr weiß als die Handlungsträger und allzu oft denkt: Oh Mann, dies und das ist doch so und so, siehst du das nicht?
In „Imagon“ ist das anders. Man weiß immer nur so viel wie Poul Silis, und das ist deutlich weniger als die meisten anderen in der Geschichte wissen. Es scheint, als würde das Wissen vor ihm verborgen werden, und so erfährt man nur Schritt um Schritt die erklärenden Verhältnisse, Erzählungen aus dem von DeFries zusammengetragenen ‚Taaloq‘ und eigenen Gedanken aus den Erlebnissen des Ich-Erzählers, eben Poul Silis.

Man wird ebenso wie er vor den Kopf gestoßen von Dingen, die in unserem Verständnis der Welt unmöglich sind. Aber man rutscht auch ebenso wie er in die Finsternis hinein und beginnt, an diese Dinge zu glauben, zweifelnd erst, dann mit wachsender Überzeugung. Es ist unheimlich, wie Marrak es schafft, uns Lesern über unwirkliche, aber äußerst plastische Erlebnisse des Erzählers einen Pseudomythos als wirklichen, uralten Mythos vorzulegen und uns schließlich glauben zu machen, dass die wichtigen Details des Mythos wahr sein könnten …

Was schließlich wirklich mit Poul Silis geschieht, will ich hier nicht verraten, denn das würde eine Menge der Spannung nehmen, die dem Buch innewohnt. Wer Marraks „Lord Gamma“ gelesen hat, kann eine Ahnung von der Vielfalt und Abstrusität haben, die zu dem mitreißenden und ebenso kalten, unheimlichen Roman werden, der mich nicht mehr losgelassen hat, bis ich mit den letzten Seiten an einem Ende angekommen war, das mich für einige Minuten hilflos zurückließ, ehe es mit seiner ganzen Aussagekraft durchdrang und als Ende bedeutungsschwer stehen blieb.

Vor einigen Jahren schrieb Michael Marrak eine Novelle mit dem Namen „Der Eistempel“, deren Plot wohl nach Größerem rief. Auf ihr basiert der vorliegende Roman, wobei die Novelle wiederum von Lovecrafts Elder Gods- oder Cthulhu-Mythos inspiriert wurde. Wenn man sich jetzt an Lovecrafts Roman „Berge des Wahnsinns“ erinnert (so man ihn kennt), wird man in „Imagon“ kein simples Remake finden, sondern eine echte, hervorragende, eigenständige Geschichte zu einem gemeinsamen Thema, dem Mythos um die Älteren Götter.

Fazit

„Imagon“ ist kalt, hart, unheimlich, bizarr und spannend, aber in keinem einzigen Moment wirkt er unglaubwürdig, zäh oder plakativ. Man glaubt dem Erzähler, dass er seine Geschichte erlebt hat und von ihr geprägt wurde; man glaubt auch dem Autor jegliche Details, als wäre er gar nicht vorhanden, sondern als handle es sich um Fachwissen des Geophysikers Poul Silis. Man ist geneigt, einen Punkt für das Ende abzuziehen, bis man noch einmal darüber nachgedacht und die Geschichte sich hat setzen lassen. Ich zumindest bin der Überzeugung, dass es kein anderes Ende hätte geben können. Darum Hut ab vor Michael Marraks Leistung – und volle Empfehlung!

Wer es gern solider mag, findet das Buch übrigens auch noch in der Originalausgabe von Festa (2002) als Hardcover unter der ISBN 3-935822-12-X.

Das Titelbild stammt übrigens von Marrak selbst, und der Roman wurde ausgezeichnet mit dem Kurd-Laßwitz-Preis für den besten deutschen SF-Roman des Jahres 2002!