Ben Atkins – Stadt der Ertrinkenden

Das geschieht:

Ende November des Jahres 1932 leiden die meisten Bürger der USA unter den Folgen der Weltwirtschaftskrise. Arbeitslosigkeit und Not sind ebenso allgegenwärtig wie das organisierte Verbrechen, das jedoch ebenfalls vor einer gewaltigen Herausforderung steht: Das Ende des landesweiten Alkoholverbots und damit des lukrativen Alkoholschmuggels zeichnet sich ab.

Deshalb wundert sich der Schmuggler Massimo „Max“ Fontana, dass jemand einen Transport überfallen und beraubt hat. Wer riskiert es, so kurz vor der Aufhebung der Prohibition noch einen Gangsterkrieg um Alkohol anzuzetteln oder sich mit der Mafia anzulegen? Die rechte Hand und Freund von Bandenboss Luca Saverino ist gerade erst von einer ‚Geschäftsreise‘ nach Europa heimgekehrt. Der für seinen Verstand bekannte Fontana erkennt sofort die Gefahr: Unzufriedene Kunden pflegen ihren Zorn normalerweise gewalttätig kundzutun.

Fontana traut sich in die Höhle des Löwen. Der „Franzose“ ist berüchtigt für seine Ungeduld. Er gibt dem Bittsteller eine Nacht Zeit, um herauszufinden, wer hinter dem Überfall steckt. Fontana stürzt sich in die Unterwelt und lässt seine Kontakte spielen. Rasch findet er heraus, dass die Bande nicht nur bestohlen, sondern in großem Stil um Einnahmen geprellt wird. Dahinter steckt eine gut organisierte Gruppe, deren Spur Fontana allmählich aufnimmt.

Seine Bemühungen bleiben nicht unbemerkt. Der Gegner schickt seine Schergen aus, die Fontana aus dem Verkehr ziehen sollen. Dieser weiß sich freilich seiner Haut zu wehren. Während man ihn jagt, stößt Fontana tief in das verderbte Herz der Stadt vor, gerät unter korrupte Politiker und Polizisten, amerikanische Faschisten, flüchtige Trotzkisten und andere seltsame Zeitgenossen, die emsig damit beschäftigt sind, die Krise für ihre Zwecke auszunutzen …

Junge Besen kehren gut?

Manchmal ist es besser, nichts über einen Autor zu wissen, zu dessen Werk man erstmals gegriffen hat. Es kann geschehen, dass man voreingenommen ist und Fehler gerade deshalb sieht, weil man sie diesem speziellen Verfasser unterstellt. Dann ist vor allem der Rezensent aufgerufen, besonders sorgfältig zu urteilen und zu begründen, was womöglich tatsächlich fehlgeschlagen ist. In diesem Fall ist das keine einfache Aufgabe, weil einem nur kleinen Plus ein großes, fettes Minus entgegensteht.

Selbstverständlich konnte bzw. wollte jener Verlag, der Ben Atkins Erstling 2014 veröffentlichte, nicht auf die Information verzichten, dass der hoffnungsvolle Debütant gerade erst 20 Jahre alt war. Mit der Idee zu „Stadt der Ertrinkenden“ hatte sich Atkins nach eigener, in einem Nachwort festgehaltener Auskunft bereits als 15-Jähriger beschäftigt und zwei Jahre später eine erste Manuskriptfassung fertiggestellt.

Die Intention des Verlags ist klar: Mehr oder weniger unverhohlen soll der potenziellen Leser- und Käuferschaft das Erscheinen eines literarischen Wunderkindes suggeriert werden, das einerseits jenen Staub aufwirbelt, der sich über die etablierte Buchszene gelegt hat, während es andererseits für besonders gelungene Unterhaltung sorgt – ein hoher Anspruch, den Jungautor Atkins sicher so nicht in Worte gefasst hätte.

Lob als Hypothek

Nun hat er den Salat, möchte man salopp sagen, denn „Stadt der Ertrinkenden“ muss sich an vielen Vorschusslorbeeren sowie den lobenden Worten rezensierender Vorgänger messen lassen. Hierzulande kommt ein Nachwort hinzu, das nicht weniger als ein Loblied auf Ben Atkins singt und ihn – nicht einmal vorsichtig – an die Seite von Raymond Chandler oder Dashiell Hammett stellt:

„Er heißt Ben Atkins. Er lebt in Neuseeland. … In den Jahren, in denen man das Küssen lernt und das Berühren, erforscht und lernt er …, wie man einen Roman schreibt, der … seine Idole stolz gemacht hätte. Von einem unteren Zipfel der Welt her, mit der Kraft eines noch keines Mutes entledigten Neulings, schreibt ein Zwanzigjähriger einen Roman, einen Kriminalroman, der über dem Genre einen neuen, breiten Regenbogen aufgehen lässt …“

Von einem Buch als „Eckpfahl“ ist außerdem die Rede, das den „Hardboiled-„ und „Noir“-Krimi „frisch und spannend macht, aufregend wie am ersten Tag“ (S. 267): Diese bombastischen Worte sind weder ironisch gemeint noch zutreffend. Sie bürden dem Verfasser stattdessen eine Last auf, die umso schwerer wiegt, weil zwischen Anspruch und Umsetzung eine deutliche Qualitätslücke klafft.

Eine Welt im Umbruch

Beginnen wir mit dem Positiven: Da ist die Kulisse – eine nie genannte US-Großstadt, eher New York City als Chicago im Jahr 1932. Atkins stützt sich auf eine düstere Ära der Geschichte, die seine Hauptfigur in eine doppelt gefährliche Situation geraten lässt. Das alltägliche Leben ist für erschreckend viele Bürger ein ständiger Ausnahmezustand. Nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 sind die USA in existenzielle wirtschaftliche Not geraten. Die „Große Depression“ dauerte bis 1941 und stürzte Millionen Menschen im ganzen Land in ein Elend, das man sich heute kaum (bzw. noch nicht wieder) vorstellen kann. Da es in den USA damals erst recht kein soziales Netz gab, das diesen Namen verdiente, war es keine Seltenheit, dass verarmte und arbeitslos gewordene, auf die Straße gesetzte, überflüssig gewordene Menschen verhungerten, erfroren oder an Krankheiten zugrunde gingen.

Die Regierung war überfordert, die Ordnungsmacht offen für Angebote aus dem kriminellen Milieu. Seit 1919 war in den Vereinigten Staaten zudem der Ausschank und Verkauf, nicht aber der Genuss von Alkohol verboten. Die Prohibition war ein Fehlschlag, da selbst unbescholtene Amerikaner sich nicht vorschreiben lassen wollten, ob sie trinken durften oder nicht. Das Verbrechen sprang in die Bresche und lieferte, was gewünscht wurde. In dieser Ära organisierte sich die Kriminalität auf einem bisher nie gekannten Niveau und gewann einen Einfluss, den es bis heute keineswegs verloren hat.

Polizisten, Juristen und Politiker ließen sich schmieren, Gastwirte zahlten Schutzgeld: Die Gangs schwammen im Geld. Gefährlich wurden höchstens interne Streitigkeiten, die man mit Waffengewalt austrug und die immer wieder in regelrechte Gangsterkriege ausarteten. Da diese schlecht fürs Geschäft waren, bemühten sich besonnene Kriminelle um Ausgleich. Im optimalen Fall mutierte das organisierte Verbrechen zu einer Schattenmacht, die parallel zum Staat existierte.

Das Ende kriminell paradiesischer Zeiten

Im November 1932 gewann Franklin D. Roosevelt die Wahl zum US-Präsidenten. In seinem Wahlprogramm hatte er keinen Hehl daraus gemacht, dass er der Prohibition ein Ende setzen würde; ein kluger Schachzug, da er dem Verbrechen damit eine zentrale Einnahmequelle entzog. Entsprechend nervös reagierte man auf krimineller Seite: Man musste sich nach alternativen Quellen umtun. Wer jetzt handelte, konnte sich durchaus ein Stück vom neuen Kuchen schnappen.

Vor diesem Hintergrund ist Fontanas Betriebsamkeit glaubhaft. Noch besteht das alte System, das Fehler selten und Betrug niemals verzeiht. In dieser Unterwelt spielt Gewalt eine wichtige Rolle. Obwohl Fontana keine Schuld für den Betrug trifft, der in seiner Bande begangen wurde, haftet er buchstäblich mit seinem Kopf.

Fontanas Suche nach Erklärungen und Schuldigen führt ihn durch eine turbulente Novembernacht, die gleichzeitig das Zeitfenster der Handlung darstellt. Damit beginnen jene Schwierigkeiten, denen Atkins vor allem dort aus dem Weg gehen kann, wo er Fontana agieren lässt. Bewegung lässt sich beschreiben und spannend darstellen. Riskant wird es dort, wo die Handlung ausgesetzt wird, weil die Hauptfigur Gesehenes und Erlebtes reflektiert.

Chandler und Hammett waren Meister darin, entsprechende Erkenntnisse in Worte zu fassen, die in die Literaturgeschichte eingingen, weil sie ebenso knapp wie nüchtern und präzise den Schreibfinger in offene Wunden legten. Die Wunden von 1932 sind allerdings inzwischen verheilt, und Atkins gelingt es nur ansatzweise, sie wieder aufzureißen. Im Klappentext liest man von Parallelen zur Finanzkrise von 2007 – es bleibt bloße Behauptung, die daraus resultiert, dass existenzielle Krisen gewisse Gemeinsamkeiten besitzen. Atkins könnte deshalb seine Geschichte auch vor dem Hintergrund der Tulpenkrise von 1634/37 erzählen, um es ein wenig überzogen auszudrücken.

Von allem ein wenig aber nie genug

Atkins nächtliche Großstadt ist ein Konstrukt aus angelesenen Fakten und Vorbildern aus Filmen und Fernsehserien. Ein Funke will nie überspringen, diese Stadt bleibt Kulisse und nimmt nie Gestalt an. Fontana hetzt durch ein nostalgisch gefärbtes Computerspiel. Dabei hakt der Verfasser ab, was seiner Meinung in einen zünftigen Historienthriller gehört. Das geht dort gut, wo sich Atkins auf vorab gut bestelltem Boden bewegt; beispielsweise fehlen Konflikte zwischen Ermittler und (korrupter) Polizei in keinem „Noir“-Krimi.

Wo Atkins Neuland betritt, verflüchtigt sich seine Trittsicherheit. Fontana trifft u. a. einen Politiker, der in den USA die Trommel für Nazi-Deutschland rührt, sowie einen sozialistischen Revolutionär aus dem Umfeld Leo Trotzkis, die beide auf ihre Weise nach den Seelen krisenmüder Amerikaner haschen. Vor allem reden sie – ununterbrochen, seitenlang, sodass Fontana nur hin und wieder ein Wort einwerfen kann. Was sie zu sagen haben, sind Plattitüden, mit denen sie sich jedoch nicht selbst entlarven, wie Atkins es plant. Stattdessen erkennt man Atkins, der auf der Stelle tritt und dabei Wortschaum aufwirbelt.

Selbstverständlich existiert ein Plot. Der Schnapsschwund wird zufriedenstellend aufgeklärt, doch bis dahin warten viele umständliche Verfahrensbeschreibungen auf den Leser. Da diese Geschichte spektakulär gipfeln soll, konstruiert Atkins eine Verschwörung, die man ihm nicht einmal unter enormen Zugeständnissen abnehmen will. Abgelenkt wird man durch eine im letzten Drittel hastig erdichtete Love-Story, die Atkins im Geiste „Casablancas“ enden lässt (und durch eine schauerlich schmalzige ‚Liebesnacht‘ krönt, die ein Hammett als völlig unnötig erkannt und vermieden hätte).

Sprache knarrt wie morsches Geäst

Der „Hardboiled“-Krimi ist berühmt für seinen nüchternen Stil. Die Protagonisten drücken sich wortknapp aus; ist der Detektiv gleichzeitig Ich-Erzähler, würzt er seine Äußerungen gern mit sarkastischen Wortspielen. Wiederum gelten Hammett und in diesem Fall vielleicht noch mehr Chandler als Meister auf diesem Gebiet. Ihre Aperçus zeichnen sich durch Ökonomie in der Wortwahl und Treffsicherheit in der Bedeutung aus. Vor allem haben sie eines verinnerlicht, das Atkins offenbar nicht verstanden hat: Der Sinn einer Metapher erschöpft sich nicht darin, nonchalant und originell zu klingen.

Oder trägt die Übersetzung Verantwortung für schiefe Bilder und Schwerfälligkeiten? Hier eine beliebige Auswahl, die erschreckend problemfrei ergänzt werden könnte:

„Auf der Oberfläche der Kommode stand eine Armee von Photographien stramm.“ (S. 35; gleich im Anschluss: „zwischen uns grinste der frühere Bürgermeister ein politisches Grinsen“)
„Die Bockwürste, die aus seinen Händen wuchsen, kehrten auf den Tisch zurück und kramten zwei Zigaretten heraus.“ (S. 44)
„Hässliche Gemälde starrten lüstern auf hässliche Möbel herab.“ (S. 47)
„Er lud seine muskulösen Beine durch und setzte mir nach.“ (S. 117)
„Kann ich Sie Stella nennen, oder sind Sie eine Nachnamenkandidatin?“ (S. 208)
„Ihre Augen drängten auf Verständnis.“ (S. 221)
„Des großen Mannes Blut brach durch seine kärgliche Hülle.“ (S. 252)

Bemerkenswert ist auch dieser Ausspruch; über der Leiche eines zu Tode gefolterten Informanten attackiert Fontana seinen Begleiter, der verdächtig in eine Anzugtasche greift. Er wollte aber nur ein Stück Papier hervorholen und antwortet auf Fontanas Vorhaltung („Du führst mich in einen Keller mit so etwas in der Ecke, und dann greifst du in deine Tasche?“) überaus lebensecht so: „Es war dumm. Ich hätte etwas sagen sollen, aber Sie wirkten erschüttert.“ (S. 202)

Das alles ist weder lässig noch wenigstens witzig, sondern unfreiwillig komisch, und wird eingebettet in Dialoge, die keinen Sinn ergeben; vermutlich sollen sie harte Jungs ohne Sentimentalitäten demonstrieren. Selbst Quentin Tarantino in seinen schwächsten Momenten gelingt dies besser als Atkins, der nur leeres Stroh drischt. Entstanden ist ein Roman, der wie jede auftretende Figur nur einen blassen Abklatsch der echten „Noir“-Krimis darstellt. Der (Über-) Eifer, mit dem der Verfasser die Zeitgeschichte nicht einfließen lässt, sondern sie dem Geschehen aufzwingt, gibt dem Werk den Rest. Kommen wir zur langen Rede kurzem Sinn: „Stadt der Ertrinkenden“ ist reich an Worten, aber geschwätzig und arm an Substanz.

Autor

Ben Atkins wurde 1994 auf der Insel Neuseeland geboren, wo er heute in Auckland, der auf der Nordinsel gelegenen Hauptstadt – seit 2010 Teil des Auckland Council – des Inselstaates lebt und an der University of Auckland Politik, Film und Medienwissenschaften studiert. „Stadt der Ertrinkenden“ ist sein erster Roman.

Paperback/Klappenbroschur: 278 Seiten
Originaltitel: Drowning City (Glenfield : Random House New Zealand/Penguin Random House 2014)
Übersetzung: Else Laudan u. Boris Szelinski
www.polar-verlag.de

eBook: 907 KB
ISBN-13: 978-3-945133-11-8
www.polar-verlag.de

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