Bob Shaw – Andere Tage, andere Augen / Augen der Vergangenheit. Zukunftsroman

Langsames Glas: Risiken und Nebenwirkungen

Erst ist es nur ein amüsantes, wissenschaftliches Spielzeug: Glas, das die Lichtstrahlen bremsen kann. Ein Blick durch dieses „langsame Glas“ zeigt, war vor fünf Minuten auf der anderen Seite geschehen ist – oder vor fünf Jahren. Doch dann gerät das „Spielzeug“ in die falschen Hände. Erpresser benützen es, um ihre Opfer zu überwachen, und auch der Staat erkennt die Möglichkeit, alle seine Bürger zu kontrollieren… (modernisierte Goldmann-Verlagsinfo)

Zunächst war es ein spät entdeckter Nebeneffekt, dann eine wissenschaftliche Kuriosität und schließlich ein Spielzeug, mit dem sich Milliarden verdienen lassen. Ein Spezialgas, dass Lichtstrahlen abbremsen kann. Die Effekte sind phänomenal.

Man kann durch die Scheibe sehen, was sich hinter ihr abgespielt hat – vor 5 Minuten, vor 5 Monaten, vor 5 Jahren, je nachdem wie dick sie ist.

Doch es gibt kaum eine Erfindung, die in den falschen Händen nicht als Werkzeug finsterer Machenschaften verwendet werden könnte – etwa um die Leute unauffällig zu bespitzeln. (Heyne-Verlagsinfo)

Der Autor

Robert „Bob“ Shaw (* 31. Dezember 1931 in Belfast; † 12. Februar 1996 in Manchester) war ein nordirischer Schriftsteller, der vornehmlich Science-Fiction schrieb. Bereits 1954 veröffentlichte er seine erste Science Fiction-Story.

Zu seinen bemerkenswertesten Konzepten gehört das sogenannte Langsame Glas, das derart dicht ist, dass das Licht Jahre braucht, um hindurchzugelangen; auf diese Weise sieht man Bilder, die z. B. längst Verstorbene zeigen. Nach dem Erfolg von „Light of Other Days“ (1966) baute Shaw die Idee zu dem Roman „Other Days, Other Eyes“ (1972) aus.

Im Orbitsville-Zyklus ((https://de.wikipedia.org/wiki/Orbitsville)) geht es um die Entdeckung einer Dyson-Sphäre ((https://de.wikipedia.org/wiki/Dyson-Sph%C3%A4re)), während die Zwillingswelten-Trilogie zwei Planeten schildert, die einander derart nahe sind, dass sie über eine gemeinsame Atmosphäre verfügen – und man mit Ballonen und hölzernen Raumschiffen hinüberwechseln kann.

Romane

Slow Glass (Kurzgeschichtenserie)

Light of Other Days (1966)
Deutsch: Licht für die Zukunft. Übersetzt von Gisela Stege. In: Jürgen vom Scheidt (Hrsg.): Das Monster im Park. Nymphenburger, 1970. Auch als: Licht in dunklen Gläsern. Übersetzt von Gisela Stege. In: Brian W. Aldiss, Poul Anderson, Harry Harrison (Hrsg.): Steigen Sie um auf Science Fiction. Kindler, 1972, ISBN 3-463-00510-7. Auch als: Das Licht besserer Zeiten. Übersetzt von Elisabeth Böhm. In: Science-Fiction-Stories 27. Ullstein 2000 #49 (2976), 1973, ISBN 3-548-02976-0.
Burden of Proof (1967)
A Dome of Many-Colored Glass (1972)
==> Other Days, Other Eyes (1972, Roman)
Deutsch: Augen der Vergangenheit. Übersetzt von Tony Westermayr. Goldmann (Goldmann Science Fiction #0172), 1973, ISBN 3-442-23172-8. Auch als: Andere Tage, andere Augen. Übersetzt von Tony Westermayr. Heyne (Bibliothek der Science Fiction Literatur #36), 1973, ISBN 3-453-31032-2. Auch als: Andere Tage, andere Augen. Übersetzt von Irene Bonhorst. Heyne (Heyne Science Fiction & Fantasy #8001), 1996, ISBN 3-453-10941-4.
The Edge of Time (1979, mit Donald William Heiney, als Bob Shaw und Malcolm Harris)

A.E.S.O.P. (Kurzgeschichtenserie)

Appointment on Prila (1968)
Gambler’s Choice (1971)
Retroactive (1972)
Deutsch: Die Zeitfalle. Pabel (Terra Taschenbuch #247), 1974.
Unfaithful Recording (1975)
Ship of Strangers (1978, Roman)
Deutsch: Captain Aesop und das Schiff der Fremden. Das Beste (Unterwegs in die Welt von Morgen #124), 1991, ISBN 3-87070-395-4.

Orbitsville

1 Orbitsville. Gollancz, 1974 / 1975, ISBN 0-575-01909-3.
Deutsch: Orbitsville. Goldmann Science Fiction #0216, 1976, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23216-3.
2 Orbitsville Departure. Gollancz, 1983, ISBN 0-575-03346-0.
Deutsch: Aufbruch nach Orbitsville. Goldmann Science Fiction #23487, 1986, Übersetzerin Dagmar Hartmann, ISBN 3-442-23487-5.
3 Orbitsville Judgement. Gollancz, 1990, ISBN 0-575-04551-5.

Warren Peace

1 Who Goes Here? Gollancz, 1977, ISBN 0-575-02347-3.
Deutsch: Die Raumlegion. Goldmann Science Fiction #23289, 1979, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23289-9.
2 Warren Peace. Gollancz, 1993, ISBN 0-575-04918-9. (auch als Dimensions, 1994)

The Ragged Astronauts / Land and Overland

1 The Ragged Astronauts. Gollancz, 1986, ISBN 0-575-03639-7.
Deutsch: Die Heißluft-Astronauten. Heyne Science-Fiction & Fantasy #4773, 1991, ISBN 3-453-04484-3.
2 The Wooden Spaceships. Gollancz, 1988, ISBN 0-575-03894-2.
Deutsch: Die hölzernen Raumschiffe. Heyne Science-Fiction & Fantasy #4774, 1991, ISBN 3-453-04485-1.
3 The Fugitive Worlds. Gollancz, 1989, ISBN 0-575-04611-2.
Deutsch: Die flüchtigen Welten. Heyne Science-Fiction & Fantasy #4775, 1991, ISBN 3-453-04486-X.
Die wilden Astronauten. Heyne Science-Fiction & Fantasy #5543, 1996, ISBN 3-453-11889-8 (Sammelausgabe von 1–3)

Einzelromane

Night Walk. Banner, 1967, OCLC 2204844.
Deutsch: Menschen im Null-Raum. Goldmann (Goldmanns Weltraum Taschenbücher #0140), 1972, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23140-X.
The Two-Timers. Ace Books, 1968, OCLC 2204873.
Deutsch: Die Zweizeitmenschen. Goldmanns Weltraumtaschenbücher #0128, 1971, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23128-0.
The Palace of Eternity. Ace Books, 1969, OCLC 2204585.
Deutsch: Die blendendweiße Sonne. Goldmanns Weltraum Taschenbücher #0124, 1971, Übersetzer Tony Westermayr, DNB 458940143.
Shadow of Heaven. Avon, 1969, OCLC 2204932. (UK-Fassung 1970 gekürzt, überarbeitete UK-Fassung 1991)
Deutsch: Die grünen Inseln. Goldmann Science Fiction #0193, 1974, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23193-0.
One Million Tomorrows. Ace Books, 1970, OCLC 1090483.
Deutsch: Qualen der Unsterblichkeit. Goldmanns Weltraum Taschenbücher #0137, 1972, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23137-X.
Ground Zero Man. Avon, 1971, OCLC 1139326. (auch als The Peace Machine, 1985)
Deutsch: Die Antikriegs-Maschine. Goldmanns Weltraum Taschenbücher #0153, 1972, Übersetzer Wulf Bergner, ISBN 3-442-23153-1.
A Wreath of Stars. Gollancz, 1976, ISBN 0-575-02134-9.
Deutsch: Magniluct. Goldmann Science Fiction #0236, 1976, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23236-8.
Medusa’s Children. Gollancz, 1977, ISBN 0-575-02249-3.
Deutsch: Die Kinder der Medusa. Goldmann Science Fiction #23267, 1978, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23267-8.
Vertigo. Gollancz, 1978, ISBN 0-575-02559-X. (auch als Terminal Velocity, 1991)
Deutsch: Der Himmel ist frei. Heyne Science-Fiction & Fantasy #4106, 1984, Übersetzer Thomas Schlück, ISBN 3-453-31066-7.
Dagger of the Mind. Gollancz, 1979, ISBN 0-575-02612-X.
Deutsch: Sie sind unter uns. Goldmann Science Fiction #23366, 1981, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23366-6.
The Ceres Solution. Gollancz, 1981, ISBN 0-575-02966-8.
Deutsch: Experiment: Erde. Goldmann Science Fiction #23433, 1983, Übersetzer Tony Westermayr, ISBN 3-442-23433-6.
Fire Pattern. Gollancz, 1984, ISBN 0-575-03452-1.
Deutsch: Brandmuster. Heyne Science-Fiction & Fantasy #4476, 1988, Übersetzerin Hilde Linnert, ISBN 3-453-01005-1.
Killer Planet. Gollancz, 1989, ISBN 0-575-04510-8.

Handlung

Die Entdeckung des langsamen Glases geht mit einer Katastrophe einher. Alban Garrod hat mit dem Geld seines Schwiegervaters eine besondere Art von Glas entwickelt, dessen Eigenschaften und Anwendungsmöglichkeiten erst noch der Entdeckung harren. Eigentlich soll es nur besonders widerstandsfähig sein, und zu diesem Zweck ist es auch in Amerikas ersten Überschalljet eingebaut worden.

An dem Tag, als sein Glas erstmals in diesem Jet eingesetzt wird – man hat bisher mit konventionellem Glas geübt – baut der erfahrene Pilot eine verheerende Bruchlandung. Jeder Zuschauer kann genau sehen, wie er die Kurve zum Landeanflug genommen, doch dann die Bremsung mit Landklappen und Rädern zu spät eingeleitet hat. Woher diese Verzögerung kommt, ist die entscheidende Erkenntnis: Garrods Glas verzögert die durchgehenden Photonen um etwa eine Sekunde. So bekommt es seinen Namen: Retardit.

Anwendungsgebiete

Anders als von seiner neidischen Ehefrau Esther erwartet, ist Garrod keineswegs vom Geld ihres Vaters abhängig, sondern kann sich nicht nur vor Aufträgen retten, sondern auch ihren Vater ausbezahlen. Denn die gewieften Yankee-Geschäftsleute haben sein Glas lizenziert, um es auf zahlreichen Gebieten einzusetzen. Eine Sekunde ist ein Klacks im Vergleich zu den fünf Jahren, die die Verzögerung betragen kann.

Sobald eine Glasscheibe eine schöne Szenerie aufgenommen hat, kann sie sie als lebende „Fototapete“ an einem anderen Ort wiedergeben. In Schottland kauft ein Ehepaar eine solche Fenstorama-Scheibe von einem Einsiedler, der das Leben seiner verstorbenen Familie jeden Tag aufs Neue erleben kann. Und ein Richter erlebt am letzten Tag seines Lebens die fünf Jahre verzögerte Rechtfertigung seines Urteils gegen einen Mörder.

Überwachung

Bald entdecken Garrods findige Ingenieure eine Methode, wie man den eingefrorenen Inhalt eines Langezeitglases zu jedem beliebigen Zeitpunkt abrufen kann. Das weckt den Überwachungshunger der Regierungsbehörden. Diese baut nach mehreren verbrecherischen Aktivitäten langsames Glas in jedes Straßenfahrzeug, Schiff und Flugzeug ein, um so optische Logbücher und Dashcams abrufen und auswerten zu können. Ganze Autobahnen und Avenuen werden mit Retardit überdacht.

Geblendet

Doch es gibt auch eine tragische Folge für Garrod selbst. Am gleichen Tag, als ein Ingenieur entdeckt, wie sich das im Glas gespeicherte Licht schlagartig entladen lässt, befindet sich Garrods eifersüchtige und neugierige Frau Esther in seinem Heimlabor – und bekommt die volle Lichtladung ab. Sie erblindet, und Garrod gibt sich die Schuld. Das nützt sie weidlich aus. Nach einer Korrekturoperation lässt sie sich 24-Studnen-Linsen einsetzen, von ihrem gatten persönlich. Nicht genug damit, muss er auch selbst 24-Stunden-Linsen tragen, die alles, was er sieht – insbesondere attraktive fremde Frauen – aufnehmen. Setzt Esther sich ein, kann sie seinen Arbeitstag nacherleben, ganz besonders seine Fehltritte.

Rivalin

Als die Polizei von Maine Garrods Hilfe anfordert, um die Ermordung eines Präsidentschaftskandidaten aufzuklären, trägt Garrods Esthers Überwachungslinsen. Sie ist immer bei ihm, ohne selbst anwesend sein zu müssen, und am Abend jeden Tages schickt er die aufgeladenen Linsen zu ihr nach Hause, wo sie jeden Schritte wie mit Kontaktlinsen nachverfolgen kann. Sehr zu ihrem Missvergnügen entdeckt sie auf den Aufnahmen eine attraktive Rivalin und macht sich auf den Weg, Alban, den sie von Anfang an als ihren Besitz betrachtet hat, zur Rede zu stellen.

Auch Alban selbst wird durch die Reise nach Maine grundlegend geändert. Nicht nur sein Privatleben verlangt nach einer Entscheidung, sondern er entdeckt auch einen eklatanten Missbrauch seiner Erfindung durch die Regierung. Wenigstens gelingt es ihm, die Ermordung des Präsidentschaftskandidaten aufzuklären: Eine Schlüsselrolle spielte dabei sein Retardit…

Mein Eindruck

Der Roman beginn wie jeder klassische Erfinderroman seit Poe, Verne oder Wells: Es muss erst einmal erklärt werden, worin die neue Technologie besteht. Was ist „langsames Glas“ überhaupt? Wie jede Erfindung ist das Phänomen, dass Licht erst nach Tagen Wochen oder gar Jahren hindurchkommt, auch mit einer Veränderung auf psychologischer, gesellschaftlicher und schließlich politischer Ebene verbunden.

Retardit verändert nicht nur das Sehen selbst, sondern auch sämtliche Ergebnisse des Sehens, seien sie natürlich oder künstlich zustandegekommen. So kommt es, dass Kameras überflüssig werden, Bildgebeverfahren und schließlich sogar Straßenbeleuchtung: Das tagsüber aufgenommene Tageslicht wird nachts wieder abgegeben, um die Straßen energiefrei zu erhellen. Der Haken: Sämtliche illegalen oder halbseidenen Aktivitäten werden nun ebenfalls sichtbar:

Diese neuen Arten des Sehens beeinflussen auch die Erinnerung an das Gesehene, und das ist ein zweischneidiges Schwert. In sogenannten „Streiflichtern“ (vormals separaten Kurzgeschichten) streut der Autor Erlebnisse mit langsamem Glas ein. Wenn ein Pärchen beobachtet, wie der Mann, der ihm ein Fenstorama-Glas verkauft, die Erinnerung an seine verstorbene Familie „für alle Ewigkeit“ wachhält, weil er sie im Fensterglas seines Hauses „eingefroren“ hat. Wenn ein Richter erst nach fünf Jahren definitiv erfährt, ob das Urteil, zu dem er einen mutmaßlichen Mörder verdonnerte, gerechtfertigt war. Auch die Episode mit der schlagartigen Lichtfreisetzung gehört für mich zu den Schlaglichtern: Esther erblindet.

Es dauert seine Zeit, bis der Erfinder endlich nicht mehr die „Augen“ vor der Tatsache verschließen kann, dass die Regierung einen Weg gefunden, das Sehen und Beobachten zu globalisieren, ohne das es jemand merkt. Was es damit auf sich hat, darf hier nicht verraten werden, aber ist ungefähr so, als bekäme die Regierung das allsehende Auge Gottes auf dem Silbertablett überreicht. Sicherheit ist ja ein hohes Gut, aber Privatsphäre ist ebenso wertvoll wie Freiheit, und ist ein höheres Gut.

Die Freiheit ist genau der Punkt, an dem der Erfinder am verwundbarsten ist. Garrod kauft sich zwar gleich im ersten Kapitel von Esthers Vater als Geldgeber frei, doch schon mit der Blendung Esthers verfällt er wieder in die alte Gewissensfalle: Es sei seine Schuld, also müsse er wiedergutmachen, was er angerichtet habe. Diese Gefangenschaft geht so weit, dass er die Freiheit des Sehens einbüßt und Esther unmittelbar Rechenschaft darüber ablegen muss, was er gesehen hat. Und auf diesen Aufnahmen ist auch ihre Rivalin Jane Wason zu erblicken. Jetzt scheint Esther ihren Man bei den Eiern packen zu können.

Der gewiefte Autor sagt es zwar nirgends explizit, aber Esther verkörpert das ausbeuterische Kontrollsystem der US-amerikanischen Elite, quasi der Geldadel der Amis. Es wird ebenfalls nirgends gesagt, dass Esthers Vater Geschäfte mit der Regierung macht, aber das wäre fast unvermeidlich, besonders im „militärisch-industriellen Komplex“ (Eisenhower). Esther, ihr Vater sowie die Regierung stehen auf „der dunklen Seite der Macht“, doch auf der hellen steht nur Jane Wason. Nur wenn Garrod, der Erfinder, es schafft, die Wahrheit zu erkennen, wird er frei sein, Verantwortung übernehmen und seine Erfindung vor Missbrauch schützen können. Ob ihm dies gelingt, sei hier nicht verraten.

Kriminalfall

Der Autor kennt sich mit den Stereotypen der Kriminalliteratur aus, denn er übt fundierte Kritik an den Detektivfiguren der 1930er Jahre, etwa an Nero Wolfe & Co. Er macht sich einen Spaß daraus, seinen Helden als Hobbydetektiv auftreten zu lassen. Dadurch werden die letzten vierzig Seiten, also rund ein Viertel des Buches, zu einer sehr spannenden Lektüre.

Wie oben erwähnt, wird Garrod nicht nur aus PR-Motiven heraus hinzugezogen, sondern auch, weil sein Retardit eine wichtige Rolle beim Mordanschlag spielte. Es gibt zwei Tatverdächtigte, von denen der eine kürzlich an einem Herzinfarkt verstorben ist und der zweite eine weiße Weste zu haben scheint. Nur ein winziges Detail, das die Spurensicherung übersehen hat, fällt einem gewissenhaften Tüftler wie Garrod auf. Es entlarvt die Ausmaße der Täuschung, bei der sein Retardit eine zentrale Rolle gespielt hat. Glücklicherweise gibt es in der Nähe ein paar Häuser mit Fenstorama-Glas: Deren Bewohner haben alles aufgenommen, ahnen aber nichts von ihrem Glück…

Frauen

Dies ist einer seltenen Zukunftsromane, in denen Frauen und eheliche Beziehungen zu ihnen auf realistische Weise beschrieben werden. Ehen werden bekanntlich aus allen möglichen, mehr oder weniger ehrenhaften Motiven geschlossen. Bei Shaw sind Frauen weder Heilige noch Huren, und Romantik spielt nur am Rande eine Rolle. Esther Garrod ist eine Frau, die ihren Männe als Privatbesitz betrachtet, so wie sie als Privatbesitz ihres Vaters betrachtet wird. Ehe ist Teil ihrer sozioökonomischen Weltanschauung.

Ihr Gegenpol ist Jane Wason, eine attraktive Frau mit silberfarbenen Lippen. Sie verkörpert Frau Venus in Reinkultur, will aber, wie praktisch alle Frauen, erobert werden. Sie hilft Garrod mit heimlichen Hinweisen, was da in Maine eigentlich läuft, denn Garrod ist in Sachen Politik, PR und Business völlig unbedarft: ein Nerd, wie er im Buche steht.

Sehr interessant ist die Begründung, wie der Autor Garrods verhalten gegenüber Schwächeren begründet – mit einer Jugenderinnerung. Daraus folgt, dass Garrods Wahl zwischen Esther und Jane auch eine Entscheidung zum Abschied von seinem früheren, eher jungenhaft verantwortungsfreien ich darstellt. Der „neue Mann“ übernimmt nicht nur für Jane und seine Liebe zu ihr Verantwortung, sondern auch für seine folgenreiche Erfindung. Es ist ein sehr erwachsener Roman.

Die Übersetzung

Der notorische Tony Westermayr fertigte die einzige erlaubte Übersetzung – also auch die bei Heyne – anno 1973 an, und folglich darf man sie nur mit Vorsicht genießen. Die Seitenzählung folgt der Erstübersetzung bei Goldmann.

„Neger“: Afroamerikaner
„Radio“: Funkgerät
„Garage“: Kann ein Autounterstand, aber auch eine Autowerkstatt sein.

S. 52: „alle[r] Zwecke, für die langsames Glas verwendet wurde, hatten eines gemeinsam.“ Das R ist überflüssig.

S. 74: „…erklärte Morgan mit einer Entscheidung, die Garrod nicht von ihm erwartet hatte.“ Statt „Entscheidung“ sollte es wohl besser „Entschiedenheit“ heißen.

S. 99: „Der Landser… schulter[t]e das Gewehr und schritt…“: Das T fehlt.

S. 103: „ein mormales Drei D-Gerät…“: Statt „mormales“ sollte es wohl besser „normales“ heißen.

S. 122: „die Bilder von Na[s]hs Flug“: Das S fehlt.

S. 131: „Sie wäre der massivste Einbruch in die Privatsphäre, die es je gegeben hat.“ Aber weil nicht die Privatsphäre gemeint ist, sondern der Einbruch, muss anstelle des Relativpronomen „die“ unbedingt „den“ stehen.

Unterm Strich

Bob Shaw ist ein Könner, wenn es um routiniertes, wirkungsvolles Erzählen geht. Seine Idee des „langsamen Glases“ trägt den ganzen Roman, denn sie gibt zahlreiche Aspekte her. Die Folgen des Einsatzes von Retardit erstrecken sich von Romantik und Justiz bis hin zur Politik und Kriminologie. Das letzte Viertel besteht aus einem solchen Kriminalfall, und glücklicherweise gelingt es dem helden, einen sehr ausgetüftelten Mord aufzuklären, der mithilfe seines Retardits begangen wurde.

Der Erzähler vernachlässigt seine Figuren nicht, von denen es nur drei von Bedeutung gibt. Doch er macht nicht den Fehler, gleich mit der Tür ins Haus zu fallen und Garrods spezielle Psychologie vor dem Leser auszubreiten, um dessen Verhalten zu entschuldigen. Nein, es ist genau andersherum: Zuerst muss Garrod seine Fehler machen und Schuld auf sich laden, bevor sein Verhalten psychologisch begründet wird. Dieses Verfahren verschont den leser vor Langeweile und lässt ihn sich angespannt fragen, ob diese Hauptfigur ein Typ sei, mit dem man sich identifizieren könne.

Der Roman schließt mit einem dreifachen Finale: Garrod löst den Mordfall, gewinnt seine Liebe Jane Wason und haut der Regierung auf die Finger. Zurück bleibt ein rundum zufriedener leser, der wieder eine Menge über die menschliche Natur und ihre Stolperfallen gelernt hat. Zudem kann er darüber nachdenken, welche Verantwortung ein Wissenschaftler für eine Erfindung trägt, damals anno 1972, wie auch heute.

Taschenbuch: 173 Seiten (1984/1996)
Originaltitel: Other Days, Other Eyes, 1972
Aus dem Englischen von Tony Westermayr
ISBN-13: 9783453109414

www.heyne.de

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