Cadbury, Deborah – Dinosaurierjäger. Der Wettlauf um die Erforschung der prähistorischen Welt

Lyme Regis, ein kleines Städtchen an der Südküste Englands (Grafschaft Dorset), zu Beginn des 19. Jahrhunderts: Wie praktisch an jedem Tag ihres an Mühen und Nöten reichen, aber ansonsten bitter armen Lebens durchstreift die junge Handwerkertochter Mary Armstrong die Kalk- und Schieferklippen, die sich über der Stadt erheben. Dort findet sie manchmal eingebettet im Gestein merkwürdige Abdrücke, „Fossilien“ genannt, die an Muscheln oder Schnecken erinnern, sowie versteinerte Knochen wesentlich größerer Kreaturen. Die Touristen schätzen solche Kuriositäten und zahlen dafür, worin sich Marys Interesse an besagten Fossilien zunächst erschöpft.

An einem (leider historisch nicht genau einzugrenzenden) Tag des Jahres 1811 zieht Mary (scheinbar) nicht nur das große Los, sondern gibt gleichzeitig den Startschuss zur Entstehung eines neuen Zweigs der Naturforschung: Im Gesteinsschutt oben erwähnter Klippe entdeckt sie das perfekt erhaltene Skelett einer bizarren Kreatur, die man später zutreffend als „Fischechse“ (Ichthyosaurus) bezeichnen wird.

Bis es so weit ist, werden aber einige Jahre ins Land gehen, denn noch gibt es keine Wissenschaft, die sich mit der Erdgeschichte beschäftigt. Kein Wunder, denn es gilt als der Weisheit letzter Schluss, was im biblischen Buch Genesis geschrieben steht: Gott schuf die Welt in sieben Tagen mit allen ihren Bewohnern – und Punkt: Was damals aus dem Urschlamm geknetet wurde, kreucht & fleucht auch heute unverändert umher; Ausfälle lassen sich höchstens durch die Sintflut erklären, die einiges sündhafte Getier vom Erdboden tilgte.

Wehe dem Frevler, der es wagt, am biblischen Wort zu rühren! In Oxford oder Cambridge und an den übrigen Universitäten Großbritanniens gehören die Dekane stets der mächtigen anglikanischen Kirche an. Auch der Naturwissenschaftler William Buckland sieht sich als Geistlicher Zeit seines Lebens in der verzwickten Lage, die „Untergrundkunde“ oder Geologie, die er in seinem Heimatland quasi gründet, mit der Bibel in Einklang zu bringen; ein elendes Unterfangen, das die junge Wissenschaft immer wieder auf ein totes Gleis zu zwingen droht, während die immer zahlreicheren Funde eine ganz andere Sprache sprechen.

Da haben es die Franzosen besser. Selbstbewusst schüttelt Napoleon die geistigen Fesseln der Kirche ab. Zwar schmachtet er schon wenig später im Inselexil von St. Helena, aber die Saat ist aufgegangen: In Paris feiert die Naturwissenschaft Triumphe. Der große Georges Cuvier, eine auch auf den britischen Inseln bald anerkannte Koryphäe, akzeptiert die Beweise für eine Welt, die nicht nur weitaus älter ist als man sich das bisher vorstellen mochte, sondern auch bevölkert wurde von Wesen, die es heute nicht mehr gibt.

In Lewes, einer kleinen Stadt im ländlichen Sussex, steht derweil der Schuhmachersohn Gideon Mantell in den wissenschaftlichen Startlöchern. Ein gutes Stück abseits der akademischen Zentren Englands wird er zwar von der Gelehrtenwelt lange schnöde mit Missachtung gestraft, kann sich aber andererseits autodidaktisch zu einem echten Fachmann der Geologie heranbilden, ohne dass ihm die argwöhnische Kirche Knüppel zwischen die Beine wirft. Die Kreidefelsen der South Downs stellen eine unerschöpfliche Fundgrube für Fossilien dar, so dass sich die Beweise für eine urzeitliche Welt schließlich nicht mehr unterdrücken lassen. Womöglich belegen die versteinerten Überreste noch eine weitere ketzerische Theorie: Die „Evolutionisten“ behaupten, dass Lebewesen sich im Laufe langer Zeiträume verändern, wobei – Schock! – Gottes lenkender (oder strafender) Arm nicht zwangsläufig vonnöten sei.

Der arme Buckland ist zwar ein Freigeist (und Exzentriker, der seinen Hausgästen gern gebutterte Mäuse auf Toast kredenzt und einen echten Bären hält, den er bei akademischen Feierlichkeiten als Student verkleidet auftreten lässt), aber kein Rebell. Immer schwerer fällt es ihm, Wissenschaft und Religion in Einklang zu bringen, ohne seine geistlichen Gönner vor den Kopf zu stoßen. Doch obwohl die Fossilienforschung nun in ihre zweite Phase eintritt, kann sie sich weiterhin nicht von der biblischen Schöpfungsgeschichte lösen.

1825 betritt der Mann die Szene, der frischen, aber auch fauligen Wind in die Naturwissenschaft bringen wird: Richard Owen ist kein Geologe, sondern Anatom. Er geht bei seinen Untersuchungen von einem anderen Ansatz aus und kann sich außerdem auf die Grundlagenforschung seiner Vorgänger stützen. Diesen Vorgang gilt es mit Bedacht zu erwähnen, denn Owen ist nicht nur ein brillanter Geist, der maßgeblich die „normale“ Geologie um die eigentliche Paläontologie erweitert, sondern auch ein skrupelloser Karrierist. Aus einfachen Verhältnissen stammend, eignet er sich neben einem bemerkenswerten Fachwissen auch die Fähigkeit an, den Reichen und Mächtigen zu gefallen. Das lässt ihn ganz nach oben kommen und geht einher mit dem systematischen „Abschuss“ aller, die ihm auf seinem Weg in den Olymp der Naturwissenschaftler hinderlich oder gar gefährlich werden könnten. Jedes Mittel ist dem jungen Aufsteiger recht, der auch vor übler Nachrede, bewusstem Missbrauch der ihm verliehenen Vorrechte und offener Manipulation keineswegs zurückschreckt.

Erst sind es nur direkte Konkurrenten, die Owen zum Opfer fallen, aber bald wagt er sich auch an kapitaleres Gelehrtenwild. Der ebenfalls ehrgeizige, aber grundehrliche Gideon Mantell hat sich in langen, entbehrungsreichen Jahren zu einem der führenden und auch in London den wissenschaftlichen Ton angebenden Fossilkundlern entwickelt. Doch das Schicksal meint es nicht gut mit ihm; während Owen Stein für Stein das Fundament seiner Karriere setzt und dabei ebenso mächtig wie angesehen und vor allem reich wird, erleidet Mantell Schiffbruch. Sein Traum vom eigenen Fossilienmuseum endet im Ruin, seine Frau verlässt ihn, ein schwerer Unfall macht ihn zum Krüppel, eine unheilbare Krankheit verurteilt ihn zu Depression und elendem Siechtum. Mit eisernem Willen setzt er seine wissenschaftliche Arbeit fort – und kommt dabei ohne bösen Willen Richard Owen in die Quere. Dieser bedient virtuos die Instrumente der Macht und setzt erbarmungslos alles daran, den geschwächten Konkurrenten nicht nur zu verdrängen, sondern vorsichtshalber zu vernichten. Der unglückliche Mantell gehört anders als Owen nicht zu „den Jungs“ und beherrscht die Regeln dieses Spiels nicht. Allzu lange bleibt ihm unklar, dass Talent, Fleiß und Erfahrung längst nicht die wichtigsten Stützpfeiler einer Karriere sind. Auch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts sind Verbindungen alles, und der Rest ist PR in eigener Sache. Auch hier legt Owen echtes Naturtalent an den Tag und lädt gebauchpinselte Sponsoren und potenzielle Gönner schon einmal pressewirksam zum Dinner in der Bauchhöhle eines lebensgroßen Saurier-Modells ein.

Bald beherrscht Richard Owen unangefochten die britische Paläontologen-Szene. Auch auf dem Kontinent hat er sich ein Netzwerk von Verbündeten und einen ihm ergebenen Hofstaat geschaffen. Der Wunsch nach wissenschaftlicher Allmacht und Unsterblichkeit treibt ihn zum Äußersten: Owen errichtet ein akademisches Terrorregime, das der forschenden Konkurrenz praktisch eigene Aktivitäten verbietet. Außerdem beginnt er, die Erfolge von Kollegen zu unterdrücken oder gar für sich zu beanspruchen. Für den unglücklichen Mantell ist der Tag der endgültigen Niederlage gekommen, als nicht er, der als verlachter und ignorierter Pionier in aufopferungsvoller Kleinarbeit die Skelette prähistorischer Riesen-Reptilien geborgen und beschrieben hat, diesen ihren Namen geben darf, sondern Owen: „Dinosaurier“ – Schreckensechsen – lautet seit 1841 der nun, da dieses traurige Kapitel der Paläontologie allmählich bekannt wird, recht doppeldeutige Ordnungsname.

Die Rechnung geht auf: Schon lange bevor Gideon Mantell 1852 starb, war er, der sich nicht mehr wehren konnte, fachlich ins Abseits gedrängt, während der robuste Richard Owen als hell strahlender, aber einsamer Stern alles überstrahlte. Mit zunehmendem Alter nahmen seine intellektuellen Fähigkeiten ab, während sein politisches Geschick ungebrochen blieb. Kühne Genialität und wissenschaftliche Klarsicht wurde erst durch Cäsaren- und dann durch Verfolgungswahn ersetzt. Owen schadete der Naturwissenschaft letztlich so, wie er sie in jungen Jahren zu ihrem Nutzen geprägt hatte – eine tragische, vor allem aber düstere Geschichte, die lange unter den Teppich gekehrt wurde, denn die unheilvollen Folgen der Owen-Ära sollten die britische Paläontologie noch lange begleiten.

Dass heute dieser Schleier auch vor den Augen des Laien, dessen Kenntnisse in Sachen Dinosaurier sich auf den Besuch der drei „Jurassic Park“-Kinofilme beschränken, fortgerissen wird, verdanken wir der englischen Wissenschafts-Journalistin Deborah Cadbury. In guter alter, im MTV- und Privat-TV-Zeitalter fast schon vergessen geglaubter BBC-Tradition und Güte präsentiert sie eine Geschichte, die nur den absoluten Ignoranten kalt lassen dürfte. Wissen ist immer faszinierend, wenn es denn nicht nur papageienhaft nachgeplappert, sondern strukturiert und fesselnd vorgetragen wird. Wo sich in diesem Punkt die Spreu vom Weizen trennt, markiert Cadbury mit dem vorliegenden Werk, das im angelsächsischen Sprachraum nicht ohne Grund zum Bestseller avanciert ist.

Ohne Furcht vor staubigem Kalk und alten Knochen steigt Cadbury hinab in die Gewölbe der Forschungsgeschichte – und recherchiert nicht nur fesselnd den dornenreichen Weg zu der Erkenntnis, wie die Welt und ihre Bewohner wurden, was sie heute sind, sondern auch einen echten Krimi um Betrug, Intrige und (Ruf-)Mord in einem Umfeld, das gewöhnlich nicht mit solchen Untaten in Zusammenhang gebracht wird. Die Wissenschaft bzw. jene, die sich ihr widmen, gelten als hehre Geister, die im Dienst ihrer Sache dem kleinlichen Hader des normalsterblichen Alltags weit enthoben sind. Wer einmal selbst in der Forschung tätig war, kann über diese Haltung freilich nur laut oder müde (je nachdem ob mehr Owen oder mehr Mantell) lachen. Forscher sind auch nur Menschen, und vielleicht trifft dieser Spruch sogar noch mittiger ins Schwarze, da im akademischen Elfenbeinturm über dem hamsterhaften Sammeln von Wissen die Entwicklung sozialer Kompetenzen nicht selten zu kurz kommt. Der Fall Richard Owen – und das ist er tatsächlich – ist ein Paradebeispiel für die Pervertierung von Privilegien, für Vetternwirtschaft und das Versagen jener Selbstregelmechanismen, die in der Wissenschaft angeblich die Wahrheit immer ans Licht kommen lassen. Das ist mitnichten so, und dies nachzulesen ist deprimierend, aber höllisch spannend, weil Cadbury ihren Stoff so fabelhaft im Griff hat. Wenn man im Jahr nur ein Sachbuch liest, gehört dieser Band auf die Liste der möglichen Kandidaten!

p. s.: Noch eine weitere Lektion über die Ungerechtigkeit gefällig? Im Jahr 1847 starb in Lyme Regis Mary Armstrong. Vier Jahrzehnte hatte sie Wind und Wetter getrotzt, war in den Kalkklippen umhergeturnt, hatte mit der Findigkeit des echten Entdeckers wunderbare Fossilien zum Vorschein gebracht und sich selbst zu einer versierten Expertin ausgebildet. Und doch starb sie als arme Frau, deren Verdienste zu würdigen nie einer der hohen Herren und Sammler ihres Landes für nötig fand, eine bittere Ungerechtigkeit, die ihr sehr wohl bewusst war und die ihr die späten Jahre vergällte.