Der siebenjährige Henry Day haut von zu Hause ab, wird abends im Wald gefunden und wieder zurück zu seinen Eltern gebracht. Nur ahnt niemand, dass es sich bei dem kleinen Jungen nicht mehr um den echten Henry Day handelt. Dieser wurde nämlich von Kobolden entführt und gegen einen der Ihren, der Henrys Gestalt und Identität annahm, ausgetauscht. Fortan gehört Henry ebenfalls zu der Koboldbande, die im Wald lebt und alle paar Jahre das Leben mit einem Menschenkind tauscht.
Im Wald wird Henry schnell zu Aniday, vergisst nach und nach seine Vergangenheit und passt sich immer mehr den Kobolden an. Wie die anderen Kobolde wächst er nicht und entwickelt dagegen übermenschliche Kräfte, die ihn besser hören, besser sehen und schneller rennen lassen als normale Menschen. Auch wenn er sich bald in die Gruppe eingewöhnt und in dem Koboldmädchen Speck eine gute Freundin findet, ist er dennoch nicht bereit, die letzten Fetzen an Erinnerung seiner Herkunft loszulassen und seine Vergangenheit zu vergessen. Eine innere Unruhe treibt ihn dazu, nach jedem Hinweis seiner Herkunft zu suchen und ihm nachzugehen …
Währenddessen führt also einer der Kobolde das Leben des Henry Day weiter. Da der Kobold nicht von allein wächst, muss er seinem Wachstum immer wieder nachhelfen. Die Mutter von Henry Day ist überglücklich, ihren geliebten Sohn wiederzuhaben, und auch erfreut darüber, dass Henry auf einmal eine so schöne Singstimme und ein Talent fürs Klavierspielen zeigt. Sein Vater dagegen wirkt misstrauisch und irgendwie unglücklich. Merkt er etwa, dass der zurückgekehrte Henry Day nicht sein richtiger Sohn ist?
Wie Aniday versucht Henry auch, seiner Vergangenheit nachzugehen, denn auch er war vor langer, langer Zeit mal ein ganz normaler Junge gewesen, der von Kobolden entführt und ausgetauscht wurde. Eigentlich gibt es an seinem Leben nichts auszusetzen; die Unsicherheit seiner Herkunft und das Geheimhalten seiner wahren Identität bedrücken ihn mit der Zeit allerdings immer mehr …
Mein Eindruck
In „Das gestohlene Kind“ vereinen sich märchenhafte Fantasy und Dramatik. Es wird von zwei Jungen erzählt, die beide dasselbe Schicksal erleiden mussten und in doch ganz verschiedenen Welten leben und in verschiedenen Rollen zueinander stehen. Ein Kobold, der damals selbst in den Teufelskreis der gestohlenen Kinder geraten ist, tauscht das Leben mit Henry Day. Während dieser mit den anderen Kobolden im Wald leben muss, nimmt der Kobold Henrys Identität und Äußeres an und führt sein Leben. Obwohl beide sich gut in ihrem neuen Leben zurechtfinden und vor allem der neue Henry Day zufrieden sein müsste, sind beide nicht wirklich glücklich. Beide möchten mehr über ihre Vergangenheit erfahren.
Der neue Henry Day über sein früheres Leben, als er noch ein Kind war und in seiner richtigen Familie lebte, der alte Henry Day bzw. jetzige Aniday hat seine Familie und seine Vergangenheit schon nach ein paar Jahren fast vergessen und möchte sich um jeden Preis wieder erinnern. Besonders der Kobold, der Henry Days Leben angenommen hat, hat ein schweres Päckchen zu tragen. Nicht nur, dass er sich wieder an sein früheres Leben erinnern möchte, er bekommt auch, während die Zeit vergeht, ein zunehmend schlechtes Gewissen seiner Familie und seiner Freundin gegenüber, weil er ihnen sein kleines Geheimnis vorenthalten muss. Auch wegen des richtigen Henry Days bekommt er Gewissensbisse.
Donohue Geschichte zeigt die Erfahrungen beider Seiten und wie die Protagonisten damit fertig werden. Man bekommt hautnah mit, wie die beiden Charaktere ihr neues Leben meistern und letztendlich damit doch nicht glücklich sind. Dabei kann man zusehen, wie insbesondere der falsche Henry Day erwachsen wird und mit den Problemen des Heranwachsens fertig werden muss.
Der richtige Henry Day dagegen wird niemals älter und bleibt körperlich auf ewig ein siebenjähriger Junge, bis er an der Reihe ist, ein anderes Kind zu entführen und dessen Leben weiterzuführen. Der einzige wahre Trost für ihn ist seine kleine Koboldfreundin Speck. Der falsche Henry Day dagegen braucht lange Zeit, um seinen Platz im Leben zu finden, und desto näher er seinem Ziel kommt, desto unglücklicher wird er und desto mehr Gewissensbisse plagen ihn. Die ewige Suche der beiden nach sich selbst hinterlässt beim Leser eine leicht bedrückende, aber magische Stimmung. Wirklich ein Märchen für Erwachsene.
Die Erzählperspektiven der beiden sind jeweils in Ich-Form geschrieben. Das passt zu diesem Buch einfach perfekt, da es stark auf die Gefühle des Lesers abzielt und man auch oft zwischen den Zeilen lesen muss, um den Sinn des Erzählten zu verstehen. Durch die Ich-Form gelingt das sehr gut, da man so mit den beiden Charakteren intensiver mitfühlen kann. Das Buch ist insgesamt sehr lebendig geschrieben, sodass es sich auch sehr schnell und flüssig lesen lässt, während die zwei verschiedenen, aber doch ähnlichen Geschichten der beiden Protagonisten sich an manchen Stellen kreuzen und ansonsten abwechselnd aufgegriffen werden.
„Das gestohlene Kind“ ist nicht wie andere Fantasyromane, denn während die meisten Werke dieser Gattung vornehmlich von Gefahren und anderen zauberhaften Welten erzählen, geht es in „Das gestohlene Kind“ nicht um irgendwelche spannenden Abenteuer. Hier spielt die Existenz der Kobolde zwar oberflächlich eine große Rolle, erzählen will die Geschichte in Wirklichkeit aber etwas völlig anderes, etwas, das nur wenig mit Fantasy zu tun hat.
„Das gestohlene Kind“ erzählt die Geschichte zweier Personen, die nach sich selbst suchen, mit allerlei Problemen zu kämpfen haben und ihr Glück in ihrem neuen Leben finden wollen, in das sie nicht so recht hineinzupassen scheinen – ein Drama mit einer Brise Fantasy, wie man es vielleicht auch im Film „Pans Labyrinth“ finden könnte.
Fazit
„Das gestohlene Kind“ ist an sich kein typischer Fantasyroman, auch wenn es auf den ersten Blick so zu sein scheint. Es handelt sich hierbei eher um ein Drama, das mit etwas Fantasy aufgefrischt und untermalt wird. Mir hat das Buch in seiner Andersartigkeit sehr gut gefallen und ich kann es gern weiterempfehlen.
Der Autor
Keith Donohue lebt zusammen mit seiner Familie in der Nähe von Washington D.C. Lange Zeit war er für die nationale Kulturstiftung der Vereinigten Staaten tätig, wurde aber bald freier Schriftsteller. Sein erstes Buch „Das gestohlene Kind“ soll auch bald verfilmt werden.
Das gestohlene Kind. Bertelsmann, München 2007, ISBN 978-3-570-00936-9.
Der dunkle Engel. Bertelsmann, München 2009, ISBN 978-3-570-01126-3.
Sommernachtsfrauen. Bertelsmann, München 2013, ISBN 978-3-570-01128-7.
Gebundenes Buch, 448 Seiten
Originaltitel: The Stolen Child
Originalverlag: Nan A. Talese/Doubleday, New York 2006
Aus dem Amerikanischen von Sabine Herting.
ISBN-13: 9783570009369
https://www.penguin.de/Verlag/cbj-Kinderbuecher/13000.rhd
Der Autor vergibt: