Freeman Wills Crofts – Die Frau im Fass

crofts-frau-im-fass-diogenes-cover-kleinIm Londoner Hafen wird 1912 die Leiche der Annette Boirac in einem Weinfass entdeckt. Inspector Burnley von Scotland Yard nimmt die Spur in Frankreich auf und bringt schließlich mit einem Trick das scheinbar bombensichere Alibi des wahren Täters ins Wanken … – Rätselkrimi aus der guten, ganz alten Zeit; für den heutigen Geschmack verläuft die Geschichte etwas zu mechanisch, weil sie sehr konsequent um den Kriminalfall konstruiert ist.

Das geschieht:

Ein Unfall beim Verladen eines Fasses bringt an einem Sommertag des Jahres 1912 im Hafen von London Erstaunliches zutage: Statt der offiziell in dem Holzgefäß lagernden Statuen aus Frankreich finden sich in den Trümmern Goldmünzen – und die Leiche einer jungen Frau immerhin ebenfalls französischer Herkunft.

Inspektor Burnley von Scotland Yard übernimmt den Fall und findet heraus, dass es sich bei dem Mordopfer – die Abdrücke zehn zorniger Finger finden sich auf dem Kehlkopf – um die verstorbene Annette Boirac aus Paris handelt. Sie hat dort ihren Gatten Raoul, einen erfolgreichen Geschäftsmann, verlassen und plante offenbar zu ihrem Geliebten in London zu reisen. Léon Felix ist ebenfalls gut betucht und ein passionierter Kunstsammler. Allem Anschein nach hat er allerdings noch mindestens ein weiteres weibliches Eisen im Feuer, so dass ihm die Ankunft Annettes denkbar ungelegen gekommen sein dürfte.

Akribisch geht Burnley der Spur des Fasses nach. In Frankreich unterstützt ihn sein Kollege Leforge von der Sureté. Es mehren sich die Indizien, die Felix in Verdacht bringen. Schließlich wird er in Untersuchungshaft genommen. Aber er ist nicht ohne Freunde. Sie beauftragen den bekannten Anwalt John Wakefield Clifford mit seiner Verteidigung.

Auch Inspektor Burnley ist nicht wirklich von Felix‘ Schuld überzeugt. Allzu viele Beweise sprechen allzu deutlich gegen ihn. Hat sich der wahre Täter eines Tricks bedient, muss ein Unschuldiger als Sündenbock herhalten? Falls ja, spricht alles dafür, dass der Mörder zu dem kleinen Kreis derer gehört, die mit dem Boirac-Fall in Verbindung gebracht werden können …

Die Spannung des Mechanischen

Die Lösung des Rätsels soll hier natürlich verschwiegen werden, doch es ist sicher keine Überraschung, dass Burnley und Clifford richtig liegen. Wie sie es (mit Verstärkung des Privatdetektiv La Touche) schaffen, den Mörder hinter der kunstvoll aufgebauten Barriere gefälschter Indizien hervorzulocken, zu klären, wie und wann Madame Boirac ins Fass kam: Das ist Krimi-Klassik reinsten Wassers. In diesem Drama gibt es reichlich falsche Fährten und Lügen, aber grundsätzlich liegen dem Leser dieselben Hinweise vor wie den ermittelnden Beamten. Setzen sie diese korrekt zusammen, müssten sie eigentlich gleichzeitig zur Lösung gelangen.

Für dieses intellektuelle Spiel nach Feierabend gilt es einen Preis zu zahlen. „Whodunits“ à la „Die Frau im Fass“ sind mechanisch um ihren Fall konstruierte Geschichten, deren Verfasser sich nur sekundär um eine spannende Handlung kümmert. Stattdessen werden unzählige Fakten ausgebreitet, penibel aufgedröselt, verworfen, neu eingeordnet, montiert. Die Polizei wird ausgiebig bei ihrer Routinearbeit beobachtet, Zeugen werden befragt, Alibis nachgeprüft. Der Leser wird mit den für den Fall relevanten persönlichen Hintergründen der Beteiligten vertraut gemacht: „Humdrums“ nannte Autorenkollege und Krimi-Fachmann Julian Symons Kriminalromane, die sich auf solche Faktenhuberei stützten und damit ein Hintergrundrauschen erzeugen, in dem sich die Aufmerksamkeit des Lesers zu verlieren droht.

Nostalgie unterstützt die Lektüre

Dazu kommt Crofts Hang zur Schilderung alltäglicher Routinen. Nach der Lektüre weiß der Leser genau, wie und wann man 1912 per Zug und Fähre von London nach Paris und zurück fahren konnte oder wie der Frachtverkehr zwischen diesen Städten funktionierte. Als Eisenbahn-Ingenieur kannte der Autor sich diesbezüglich natürlich aus. Aber kommt Crofts damit gegen Arthur Conan Doyle an, der Sherlock Holmes & Dr. Watson im romantisch-gruseligen Grimpenmoor gegen den Hund der Baskervilles kämpfen lässt?

Dies ist sicherlich eine rhetorische Frage. Vom eher intellektuellen Standpunkt betrachtet kann Crofts wahrscheinlich mithalten. Doch aus dem Bauch heraus hat er keine Chance. „Die Frau im Fass“ kann heute als Zeuge einer versunkenen Krimi-Epoche interessieren, keineswegs allerdings emotional mitreißen. Was einst den Reiz dieser Geschichte ausgemacht hat, die Crofts 1920 schlagartig außerordentlich berühmt machte, lässt sich heute, da der Faktor „Psychologie“ im Krimi nicht nur etabliert, sondern allzu oft nahtlos in die Seifenoper ausartet, schwer nachvollziehen: Immerhin pries Raymond Chandler – ebenfalls ein Kenner des Genres – Crofts als vielleicht größten Plot-Tüftler seiner Zeit. Doch die „Die Frau im Fass“ macht uns deutlich, dass der Plot eben nicht alles ist.

Gesichtslose Vertreter des Gesetzes

Wo alles sich dem Fall unterzuordnen hat, dürfen selbstverständlich die Protagonisten den Kopf nicht allzu hoch erheben. Identifikationsfiguren fehlen in diesem Spiel. Burnley oder Leforge oder Clifford oder La Touche tun ihren Job und lassen sich dabei von uns in die Karten sehen. Sie sind fähig, womöglich genial, aber das kommt nur im Finale zum Tragen und ist das Ergebnis geradezu unerbittlicher kriminalistischer Arbeit. Ein Privatleben haben diese Männer nicht.

Die betonte Sachlichkeit hat freilich auch ihr Gutes. Crofts verschont seine Leser mit hilflos händeringenden weiblichen Schönen, verfolgt von hämisch-geilen, schwarzschnurrbärtigen Schurken, verteidigt von granitkinnigen, chronisch heldenmütigen Ehrenmännern. Stattdessen weiß er den Eindruck zu vermitteln, dass die Menschen Anno 1912 zwar in einer anderen Welt, aber nicht auf einem fremden Stern lebten. Ein ganz normales Alltagsleben wird unter den exotischen Zügen der Vergangenheit sichtbar; in diesem Punkt wirkt „Die Frau im Fass“ erstaunlich modern.

Crofts verzichtet zudem auf billige Tricks. So ist die Zusammenarbeit zwischen der englischen und der französischen Polizei ganz selbstverständlich. Es gibt keine ‚lustigen‘ Konfrontationen zwischen kaltblütigen Inselkelten und lebenslustigen Galliern. Folgerichtig wird auch die verstorbene Annette Boirac nicht als typisch französisch, d. h. lose Lebedame und Ehebrecherin verunglimpft, sondern als unglückliche Ehefrau und Opfer eines Verbrechens betrachtet. Ihr Privatleben wird ganz nüchtern aufgerollt, weil es für die Lösung des Falles von Bedeutung ist. Eines Urteils enthalten sich sowohl die Polizisten als auch der Verfasser.

Auch das ist sicherlich eine Erklärung dafür, dass Chandler, der die betulich-blutleeren, weltfremden Landhaus-Krimis seiner Zeit bekanntlich verachtete, Crofts verehrte, obwohl dieser zu den wichtigsten Vertretern des „Goldenen Zeitalters“ der englischen Kriminalliteratur (ca. 1920-1950) zählte.

Autor

Freeman Wills Crofts wurde 1879 im irischen Dublin als Sohn eines Arztes geboren. Er wurde Ingenieur und ließ sich im Alter von 18 Jahren von der Belfast Counties Railway anstellen und ausbilden. Dort hatte er mehrere Stellen inne und stieg bis zum stellvertretenden Chefingenieur auf.

Einem Erholungsurlaub nach langer Krankheit schrieb Crofts später die Entstehung seines ersten Romans zu. „The Cask“ brachte ihm sogleich den Durchbruch als neuer Stern am Firmament der britischen Kriminalliteratur. Diesen Status konnte er sichern, als er mit „Inspector French’s Greatest Case“ (1924) seinen bekanntesten Helden schuf, der noch mehrfach wiederkehren sollte.

Im Alter von 50 Jahren konnte Crofts seine Ingenieurstätigkeit aufgeben. Er widmete sich fürderhin der Schriftstellerei. Dabei erwies er sich als durchaus geschäftstüchtig und der Werbung gegenüber aufgeschlossen; „Sudden Death“, ein Inspector-French-Abenteuer aus dem Jahre 1932, wurde mit 93 versiegelten Finalseiten und einer Geld-zurück-Garantie verkauft, sollte es dem oder der Leser/in gelingen, dem Brechen des Siegels zu widerstehen! (Dem Verlag entstand kein Verlustgeschäft.)

Seit 1912 war Crofts mit Mary Canning verheiratet. 1939 wählte man ihm zum Fellow der „Royal Society of Arts“. Crofts schrieb bis zu seinem Tod kontinuierlich weiter. Als er 1957 starb, hinterließ er ein Werk, das 37 Romane und Kurzgeschichtensammlungen umfasste.

Taschenbuch: 411 Seiten
Originaltitel: The Cask (London : Collins 1920)
Übersetzung: Arthur Meyer
www.diogenes.de

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