Michele Giuttari – Das Monster von Florenz. Anatomie einer Ermittlung

Der leitende Untersuchungsbeamte rekapituliert die 30 Jahre währenden Ermittlungen im Fall des „Monsters von Florenz“, das 16 Menschen ermordete, und schildert die zahlreichen Fehler und Manipulationen, die eine Bestrafung des oder der Schuldigen behinderten … – Überaus (und manchmal allzu) detailliert zeichnet der Verfasser die von ihm geleiteten Ermittlungen nach. „Das Monster von Florenz“ ist nicht nur Giuttaris Bericht, sondern auch sein Versuch, bittere berufliche und persönliche Erfahrungen aufzuarbeiten.

Inhalt

In drei Großkapiteln schildert Michele Giuttari, ab 1995 leitender Ermittler im Fall des „Monsters von Florenz“, die Geschichte eines spektakulären Falls, der sich über drei Jahrzehnte hinzog. Teil 1 widmet sich der Rekonstruktion des eigentlichen Verbrechens: Zwischen 1968 und 1985 ermordete ein Unbekannter in der italienischen Toskana und dort im Umland der Stadt Florenz 16 Männer und Frauen. Das „Monster“ überfiel stets Paare, die sich an verschwiegener Stelle zu einem Schäferstündchen getroffen hatten, schoss und stach sie nieder und verstümmelte die Leichen der Frauen, wenn es ungestört blieb. Nachdem der Täter die Behörden mit höhnischen Briefen herausgefordert hatte, hörte er plötzlich auf zu morden. Die Ermittlungen gingen selbstverständlich weiter. Trotz zahlreicher Pannen und menschlichen Versagens sowie der Attacken einer aufgestachelten Presse konnte Anfang der 1990er der Bauer Pietro Pacciani überführt werden.

Nur Indizien wiesen – allerdings in reicher Zahl – auf ihn als Mörder hin. Pacciani selbst behauptete vehement seine Unschuld, und die Chancen der Verteidigung standen gut, das Urteil in der Revision aufheben zu lassen. Im Oktober 1995 wurde deshalb Giuttari damit beauftragt, den Fall wasserdicht zu machen. Teil 2 schildert, wie er sich durch die Akten und Protokolle von Jahrzehnten arbeitete und dabei Paccianis Schuld untermauern konnte. Giuttari entdeckte allerdings auch Ermittlungsfehler und Vertuschungsversuche. Vor allem kam er zu dem Schluss, dass Pacciani nicht allein gemordet hatte, sondern Komplizen gehabt haben musste – eine Erkenntnis, die politisch ungelegen kam, weil sie dazu führen konnte, den Fall neu aufzurollen.

Teil 3 berichtet von Giuttaris mühseliger Suche nach Komplizen. In monatelanger Kleinarbeit konnte er aus einem kleinen Heer von Verdächtigen wahrscheinliche Mittäter ausfindig machen. Doch die Beweise reichten nicht aus. Die Ermittlungen drohten im Sand zu verlaufen. Pacciani wurde freigelassen, seitens der Vorgesetzten Druck auf Giuttari ausgeübt. Er sollte endlich Ruhe geben bzw. den Fall abschließen, weigerte sich aber, da er glaubte, einer Mordverschwörung auf die Spur gekommen zu sein: Demnach war ein gesellschaftlich hochrangiger Arzt in die Morde verwickelt. Giuttari wurde mehrfach als Chefermittler ausgebootet und musste klagen, um in sein Amt zurückzukehren und den Fall zum Abschluss zu bringen …

Eine schier unendliche Mordgeschichte

Es war der Fall seines Lebens, und er lässt ihn aus gutem Grund nicht los: In „Das Monster von Florenz“ lässt Michele Giuttari nicht nur die Geschichte einer spektakulären Mordserie aufleben, sondern schildert vor allem auch die Sackgassen und Irrwege einer komplizierten Ermittlung, deren Ergebnisse beinahe in den Mühlen der Justiz zu Staub zermahlen wurden. Während höchstens noch die Angehörigen um die Mordopfer trauerten und die Medien längst neuen Schreckgespenstern hinterherjagten, blieb der Fall Pacciani für die Polizei bis ins 21. Jahrhundert sehr präsent.

1998 schrieb Giuttari gemeinsam mit Carlo Lucarelli das Buch „Compagni di sangue“ über die Entdeckung und Verhaftung von Paccianis Komplizen. Damals hielt er den Fall für abgeschlossen. Da irrte er sich gewaltig; weitere sieben Jahre währte das Ringen um das Erbe des „Monsters“. Anschließend hatte Giuttari mehr als genug Stoff für ein weiteres Buch. In dessen Vorwort beschreibt er sein Dilemma: Sollte er bei seinen Lesern die Kenntnis von „Compagni di sangue“ voraussetzen oder den Fall besser noch einmal in seiner Gesamtheit vorstellen? Er entschied sich für die zweite Möglichkeit, denn die Ereignisse der Jahre 1998 und 2005 warfen auch ein neues Licht auf die Ereignisse vor 1998.

„Im Zweifel für den Angeklagten“ lautet ein grundsätzliches Prinzip der modernen Justiz. Es lässt hin und wieder echte Schuldige durch die Maschen des Gesetzes schlüpfen, aber dieser Preis muss gezahlt werden, will man juristische Willkür vermeiden: Die Beweise gegen das „Monster von Florenz“ waren keineswegs eindeutig, und so blieb es trotz ausgedehnter und mühseliger Ermittlerarbeit.

Parteiischer Ermittler als Autor

So muss es sein, schreibt auch Giuttari, der verständlicherweise trotzdem daran zu kauen hat, dass sich das System schließlich gegen ihn wendete: Die Indizien, die er und sein Team in Jahren des Suchens und Forschens zusammentrugen, konnten Justizias Waagschale auf der Seite des Angeklagten nicht tief genug herabsenken. Das ließ die Behörden schlecht aussehen, was wiederum politische Auswirkungen hatte: Der lästige Beamte wurde abberufen. Giuttari ließ sich nicht beirren und führte sogar Klage gegen ein System, das ihn seinen Job nicht machen ließ bzw. die daraus resultierenden Ergebnisse unter den Teppich kehren wollte.

Giuttari ist kein einfacher = pflegeleichter Mensch sowie ein in eine strenge Hierarchie eingebundener Kriminalist. Er geht in seinen Untersuchungen äußerst systematisch vor. Für ungeduldige Vorgesetzte, Lokalpolitiker und die Medien ist das frustrierend, drängen sie doch auf schnelle Ergebnisse. Giuttari neigt zudem nicht dazu, sein Licht unter den Scheffel zu stellen. Detailfreudig legt er seine Methoden dar, die er manchmal ein wenig zu deutlich als der Weisheit letzter Schluss schildert. Nach Jahren ausgiebiger Beschäftigung mit dem „Monster“-Fall sieht er bei sich die Informationsfäden zusammenlaufen. Die dröselt er in knappen, eingängig formulierten Sätzen auf, die den Verfasser unzähliger Protokolle zeigen. Wenn Giuttari spekuliert, formuliert er ungleich ausführlicher und wird nicht selten blumig im Ausdruck. Seine psychologischen Einschätzungen der Verdächtigen zeugen von altbackenen Vorurteilen.

Auch Diplomatie ist Giuttaris Stärke nicht. Andererseits dreht er sein Fähnchen nicht nach dem jeweils herrschenden politischen Wind. Die „Monster“-Affäre beschädigte seine Karriere nachhaltig. Er fand Befriedigung als Schriftsteller. Als er nicht mehr ermitteln durfte, verarbeitete er seine beruflichen Erfahrungen und Enttäuschungen, indem er Kriminalromane schrieb, die von der Kritik und von der Leserschaft sehr gut angenommen wurden. Daraus schöpfte Giuttari, der aufrechte Polizist, ausgleichende Gerechtigkeit – und das manchmal ein wenig zu augenfällig.

So war es – oder auch nicht

Dessen ungeachtet weiß er die Besonderheit des „Monster“-Falls deutlich herauszustellen. Für die Serienmorde in der Toskana waren nicht die in Italien üblichen Verdächtigen der Mafia oder die Roten Brigaden verantwortlich, sondern ‚normale‘ Bürger. Die erschienen durch Giuttaris Ermittlungen in einem unschönen Licht. Schwarze Magie, Sexorgien, brutale Gewalt in der Familie, Bildungsmangel: Das florentinische Umland erschien plötzlich als Abgrund mittelalterlich anmutender Verworfenheit, was von denen, die sich hier das Sagen anmaßten, als rufschädigend betrachtet wurde.

Ein grundsätzliches Problem spricht Giuttari verständlicherweise nicht an: Wie real ist seine Komplott-Theorie letztlich? Dass Pacciani nicht allein mordete, ist nachgewiesen. Doch wie groß ist die Zahl der Hintermänner wirklich? Giuttari entwirft das Bild einer von perversem Sex und Schwarzer Magie beseelten Mörderbande, von der nur die kleinen, dummen Fische der Polizei ins Netz gingen, während die Drahtzieher ihre Marionetten tanzen ließen, die nach Giuttari hohe Positionen in Politik und Justiz innehatten. Solche Spekulationen sind riskant, denn irgendwann erreicht der Ermittler den Punkt, an dem Interpretationen gesichertes Wissen zu ersetzen beginnen. Giuttari ist in einer Grauzone steckengeblieben. Man kann ihm glauben, muss es aber nicht, denn so überzeugend sind seine Indizien für den außen stehenden Betrachter eben doch nicht.

Autor

Michele Giuttari wurde 1950 in der sizilianischen Provinz Messina geboren. Er studierte Jura und ging anschließend zur Polizei. Dort machte er sich vor allem im Kampf gegen die Mafia einen Namen. 1995 erschien er als der richtige Mann, die zerfahrenen Ermittlungen im Fall des „Monsters von Florenz“ zu ordnen. Bis 2003 arbeitete Giuttari an diesem Fall, bis dieser ihm aufgrund interner Querelen und politischer Intrigen entzogen wurde.

Während Giuttari um seine Rehabilitierung kämpfte, begann er 2004 Kriminalromane zu schreiben, in deren Handlung sich die Erfahrungen im Polizeidienst widerspiegeln. Als Hauptfigur agiert Michele Ferrara, Kommissar in Florenz. Giuttari war als prominente Gestalt des „Monster“-Falls und -Skandals über Italiens Grenzen hinaus bekannt, was seinen Werken – aus seiner Feder stammen auch zwei Bücher über das „Monster“ – viel Aufmerksamkeit sicherte und sie auf die Bestsellerlisten brachte.

Nach mehrjährigem Prozess gegen das italienische Innenministerium wurde Giuttari 2006 wieder auf ‚seinen‘ Fall angesetzt. Er arbeitete nur mehr nominell für die Kriminalpolizei, sondern für die Staatsanwaltschaft Perugia. Angeblich ließ er im Laufe seiner Tätigkeit Polizeibeamte und Journalisten abhören. Für diesen Amtsmissbrauch wurde Giuttari im Januar 2010 vor Gericht gestellt und verurteilt. Nach einer Wiederaufnahme des Falls sprach man ihn im November 2011 wieder frei.

Website des Autors

Taschenbuch: 445 Seiten
Originaltitel: Il mostro. Anatomia di un‘indagine (Milano : Rizzoli 2006)
Übersetzung: Katharina Förs u. Rita Seuß
http://www.luebbe.de

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