Håkan Nesser – Das vierte Opfer (Van Veeteren 2)

Notwendige Morde aus Trauer und Entschlossenheit

In Kaalbringen, einem ehemals beschaulichen Küstenort, regiert der Schrecken: Drei bestialische Morde sind geschehen, kurz hintereinander. Einheimische und Feriengäste reagieren mit Panik. Denn irgendwo mitten in der Stadt sitzt der Mörder und plant in Ruhe seinen nächsten Schlag. Wann und wo wird der »Axtmörder«, wie er inzwischen im Volksmund heißt, wieder zuschlagen? Das örtliche Polizeiteam ist überfordert, und so holt sich Hauptkommissar Bausen den erfahrenen Kommissar Van Veeteren zu Hilfe, der in der Nähe Urlaub macht. Die Zeit drängt, denn das vierte Opfer befindet sich schon in der Gewalt des unheimlichen Mörders …(Verlagsinfo)

Der Autor

Håkan Nesser, Jahrgang 1950, ist neben Henning Mankell und Stieg Larsson der wohl wichtigste Kriminalschriftsteller Schwedens. Wo jedoch Mankell den anklagenden Zeigefinger hebt, weiß Nesser die Emotionen anzusprechen und dringt in tiefere Bedeutungsschichten vor. Außerdem verwendet er eine poetischere Sprache als Mankell und gilt als Meister des Stils. Uns in Deutschland ist er bislang durch seine Romane um Kommissar Van Veeteren bekannt, aber auch „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ erregte Aufsehen. Er lebt in London und auf Gotland.

Manche seiner Romane um Kommissar van Veeteren wurden 2005/2006 in einer TV-Serie verfilmt.

Übersetzte Werke

Die Van-Veeteren-Reihe (chronologisch)

1) Das grobmaschige Netz
2) Das vierte Opfer
3) Das falsche Urteil
4) Die Frau mit dem Muttermal
5) Der Kommissar und das Schweigen
6) Münsters Fall
7) Der unglückliche Mörder
8) Die Tote vom Strand
9) Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod
10) Sein letzter Fall

Die Inspektor-Barbarotti-Reihe

1. 2006 Människa utan hund
o Mensch ohne Hund, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2007. ISBN 978-3-442-75148-8
2. 2007 En helt annan historia
o Eine ganz andere Geschichte, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2008. ISBN 978-3-442-75174-7
3. 2008 Berättelse om herr Roos
o Das zweite Leben des Herrn Roos, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2009. ISBN 978-3-442-75172-3
4. 2010 De ensamma
o Die Einsamen, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2011. ISBN 978-3-442-75313-0
5. 2012 Styckerskan från Lilla Burma
o Am Abend des Mordes, dt. von Paul Berf; München: btb 2012. ISBN 978-3-442-75317-8

Mehr Infos: https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A5kan_Nesser (Das Werkverzeichnis reicht nur bis 2016.)

Handlung

Als der Anruf des Polizeipräsidenten Hauptkommissar Van Veeteren in Maardam erreicht, sind bereits zwei Männer tot. Brutal mit einem superscharfen Schlachterbeil erschlagen und beinahe geköpft. Ob der Herr Hauptkommissar wohl mal sein Können in diesen Fall, den die Kripo Kaalbringen offensichtlich nicht lösen kann, einbringen kann? Der Hauptkommissar kann, aber besteht darauf, dass ihn Münster unterstützt, so in ein, zwei Wochen oder so. Geht klar.

Kaalbringen ist ein beschaulicher Ferienort an der Küste. Doch jetzt leben die Einwohner in Furcht und Schrecken, die Presse verfolgt mit Argusaugen jede Bewegung der Kripo und hängt an den Lippen von Kommissar Bausen, der kurz vor der Pensionierung steht. Den besucht Van Veeteren als ersten. Bausen lebt in einem Haus, das in einer Art Dschungel verborgen ist, als solle keiner ihn sehen. Aber man kann sich mit ihm gut und qualitätsvoll betrinken: Bausen nennt mehrere tausend Flaschen bestens Weins sein Eigen. Das Tüpfelchen auf dem i: Er spielt ebenfalls Schach. Genussvolle Abende sind gesichert, erkennt Van Veeteren dankbar an – und zieht in ein Hotel.

Die Kripo macht nicht viel her. Kropke ist der Computerexperte und soll bald Bausens Nachfolger werden. Inspektorin Moerk ist intelligent und die Stimme der Intuition, wie sich Bausen seltsam ausdrückt. Zwei Polizeianwärter ergänzen das „stolze“ Ensemble. Kein Wunder, dass es seit den ersten zwei Morden, die „der Henker“ verübt hat, noch keinen Zentimeter weitergekommen ist.

Die Opfer

Heinz Eggers, das erste Opfer, war mal Junkie und wurde am 21. August aufgefunden. Am 31. August folgte ihm Ernst Simmel, ein zwielichtiger Geschäftsmann und Immobilienmakler, in die Ewigen Jagdgründe. Beide wurden mit dem Schlachterbeil erschlagen. Zeugenaussagen grenzen die jeweilige Tatzeit genauestens ein, es gibt sogar eine diffuse Täterbeschreibung, aber mehr auch nicht. Kein hat das Gesicht des Henkers gesehen. Was Van Veeteren bald mit Moerk und Co. herausfindet: Die beiden Männer waren erst vor kurzer Zeit, im Frühjahr, nach Kaalbringen zurückgekehrt.

Beatrice Linckx, eine Chirurgin, findet die Leiche ihres Lebensgefährten Maurice Rühme in seiner Wohnung vor, aber der Anblick so grauenvoll, dass sie erst wie erstarrt stehenbleibt und dann wieder in ihr Auto zurückkehrt. Nach geschlagenen zwei Stunden rappelt sie sich auf, um endlich die Polizei zu verständigen.

Was Bausen und Van Veeteren als erstes auffällt: Der Henker hat sein Beil zurückgelassen. Es steckt im unteren Rückgrat seines dritten Opfers. Bedeutet dies, dass die Mordserie vorüber sei, wollen die versammelten Reporter in der eilends anberaumten Pressekonferenz wissen. Weder Bausen noch Van Veeteren wollen sich dazu äußern, aber Bausen vergattert die Journalisten dazu, keine Panik zu verbreiten, sondern sich an die Fakten zu halten.

Kontext

Tja, die Fakten. Gibt es denn welche, fragt sich Van Veeteren. Denn mal abgesehen von drei blutig zugerichteten Leichen hat die Kripo nichts vorzuweisen. Wie üblich werden natürlich Zeugen usw. befragt, aber das ergibt das gleiche Ergebnis wie bei den ersten Opfern: huschende Schatten in der Nacht, aber kein Gesicht. Klar, dass auch Maurice Rühme erst vor kurzer Zeit in Kaalbringen lebte: Er war Chefarzt in einer Klinik. Erstaunlich ist allerdings, dass bei seiner geringen Qualifikation ein solch hoher Posten zufiel. Hier hat offenbar der Vater, eine Art Magnat, seine zahlreichen Verbindungen spielen lassen. Nach einigen Graben und Bohren findet die Kripo heraus, dass auch Rühme in der Drogenszene kein Unbekannter war: Er kokste. Kannte er zumindest Eggers? Van Veeteren und Bausen geben bei Kommissar Melnik in Aarlach einen Bericht in Auftrag, um mehr Licht in entferntere Hintergründe zu bringen. In Aarlach hatte Rühme eine Zeitlang gewohnt, bevor er nach Kaalbringen zog.

Münster und Moerk

Kommissar Münster hat seine Frau Synn und die beiden Kinder im Streit zurückgelassen und macht sich deswegen Vorwürfe. Doch als der September ins Land zieht und eine Woche um die andere verstreicht, findet er nicht nur Gelegenheit, sich wieder mit Synn zu versöhnen, sondern auch Inspektorin Beate Moerk näher kennenzulernen. Moerk ist ja erst 31 Jahre alt und sehr ansehnlich, zudem ledig und ohne Freund. Sie kommen einander näher und näher…

Das vierte Opfer

Es dauert eine Weile, bis den Beamten der Kripo dämmert, dass Moerk verschwunden ist. Sie war wie fast jeden Tag auf ihrer Lieblingsstrecke über den Strand, wo Van Veeteren sie gesehen hatte, in den Wald und zurück zu ihrem abgestellten Wagen gelaufen. Sie hielt sich in Form, erkennt Münster bewundernd. Doch der Bericht, den Kommissar Melnik aus Aarlach tags zuvor geliefert und den Moerk für alle fotokopiert hatte, ist weg – weder in ihrem Auto noch in ihrer Wohnung findet sich auch nur ein Fitzelchen davon. Ist ihnen jetzt der Henker auf der Spur?

Nur eine rätselhafte Nachricht hat Moerk vor ihrem Verschwinden für Münster hinterlassen: “ Hallo! Ich habe mir gerade den Aarlachbericht angeguckt. Dabei ist mir was aufgefallen. Ziemlich bizarr, aber ich muss das erst nochmal überprüfen.“ Van Veeteren und Münster lesen den Bericht immer und immer wieder, aber auf etwas „Bizarres“ stoßen sie nicht. Dann stellt sich heraus, dass Moerk den Bericht gar keine Zeit gehabt hatte, um den Bericht gelesen haben zu können. Was also sah die Frau, was jedem ihrer männlichen Kollegen entging?

Mein Eindruck

Wie so häufig bei den Van-Veeteren-Krimis verläuft auch hier die Handlung alles andere als geradlinig. Drei Opfer – das war’s. Danach kommt lange nichts, denn in welche Richtung das Kripo-Team auch ermittelt, es findet sich keine handfeste Spur, kaum ein Hinweis auf den Täter. Dann sieht es sich gezwungen, sich an die Öffentlichkeit zu wenden – ein gefundenes Fressen für die TV-Heinis und Pressefritzen. Und das alles nur drei Tage vor Bausens Pensionierung.

Der Leser muss sich in Geduld fassen und hoffen, dass Van Veeteren und Münster, die noch die fähigsten der männlichen Beamten und, vorankommen. Sie finden den Schlüssel zur Vergangenheit, der die drei Mordopfer miteinander verbindet: ein Motiv? Aber da der Zeuge ein klares Alibi hat, lässt Van Veeteren ihn laufen. Bis dann schließlich Moerk spurlos verschwindet. Buchstäblich spurlos, denn weder ein Kleidungsstück noch eine Blutspur sind irgendwo auszumachen. Selbst ihr letzter Jogginglauf lässt sich komplett anhand von Zeugenaussagen rekonstruieren, ja, sogar ihr ganzer Tag. Er ist, als wäre die Leerstelle die bestimmende Metapher dieses Falls.

Münster beobachtet seinen Chef unausgesetzt und mit einer Eselsgeduld. Sieht, wie der sich immer weiter zurückzieht und erst am Tag nach Moerks Verschwinden mit einer geradezu geladenen Energie wieder zum Vorschein. Als er in einer Schachpartie eine neue Art von Eröffnungszug entdeckt hätte. Dann ist alles ganz klar. Van Veeteren weiht die entsprechenden beamten ein, instruiert sie, schickt sie, wohin sie müssen und wartet auf das Ergebnis, das er sich bereits ausgerechnet hat. Die Schachpartie ist fertig, der Henker gefunden.

Die Auflösung trifft den Leser wie ein Schock, insbesondere wenn sie so sachlich und ruhig vorgetragen wird. Aber er ist vorbereitet worden: Der Henker hat der gefangenen Moerk alles gestanden, was notwendig war. Er ist bereit zum letzten Akt, dem Schachmatt. In diesen Szenen ihrer Folter gemahnt der Roman an einen der ersten Dezernat-Q-Thriller von Jussi Adler-Olsen. Doch bis zur letzten Szene bleibt die Identität des Henkers verborgen. Wohl dem, der besser kombinieren kann als ich, denn ich war von der Enthüllung ziemlich überrascht. Dass es einen Insider geben könnte, war mir lange klar (ich hatte die beiden Polizeianwärter im Verdacht), aber dann…

Die Übersetzung

Die Übersetzung von Christel Hildebrandt ist außerordentlich gut gelungen. Ich fand zudem keinerlei Druckfehler.

Unterm Strich

Ich habe das Buch in nur zwei Tagen gelesen, hauptsächlich auf einem Transatlantikflug. Wie immer verbirgt sich hinter der scheinbar luziden, intuitiv erfassbaren Prosa Nessers eine philosophisch begründete Tiefe, der man selbst folgen muss. Diese Arbeit nimmt einem der Autor nicht ab, und man tut gut daran, es wie Van Veeteren zu machen und sich quasi meditativ in den Fall zu versenken. Warum kann es beispielsweise nicht gelingen, den Täter zu finden? Weil es eine geradezu biblische Blindheit (den Splitter im Auge) gibt, die verhindert, dass jeder unvoreingenommen denkt. Nach dem Motto: „Es kann nicht sein, was nicht sein darf.“ Wohl dem Leser, der dieses Scheuklappendenken überwindet.

Der O-Titel lautet „Borkmanns Punkt“. Borkmann, der hier nur in der Erinnerung der Figuren auftritt, war offenbar eine Art Übervater der kriminologischen Denkweise. Da seine Lehre – eben der „Punkt“ – hier als These auf den Prüfstand gestellt wird, untersucht der Autor implizit, nach welchen Denkweisen die Kripobeamten eigentlich ihre Fakten, Indizien und Annahmen auf die Reihe kriegen, sortieren und interpretieren. Wie sich zeigt, schneidet Borkmann letzten Endes nicht besonders gut ab. Das ist einer der Gründe, warum die Aufklärung dieses scheinbar einfachen Falls so verdammt lange dauert.

Schachspieler, die viel Geduld aufbringen, sind bei diesem Krimi klar im Vorteil. Sie können auch mit den zahlreichen, für Nichtkenner kryptischen Angaben zu Schachspielergrößen und ihren Finessen etwas anfangen, kennen den Unterschied zwischen der russischen und der sizilianischen Eröffnung und viele einschlägigen Phänomene mehr. Am Ende schaut der Leser auf diese vielen Schachpartien, die bei einem edlen Tropfen gespielt wurden, mit einem gewissen Schaudern zurück…

Taschenbuch: 288 Seiten
Originaltitel: Borkmanns punkt, 1994
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
ISBN-13: 9783442742738

www.btb-verlag.de

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