Jack Womack – Ambient (Dryco-Zyklus 3)

Miss Liberty mit dem Totenkopf

Seamus O’Malley ist der Leibwächter eines Konzernchefs, der mit seinem Vater abrechnen will. Seamus lässt sich in ein Attentatskomplott verwickeln, das aber anders als geplant ausgeht. Seine Flucht vor dem Seniorchef führt ihn durch ein Endzeit-New-York, in dem das Überleben eine Kunstform ist. „Ein amerikanisches ‚Clockwork Orange'“, ist dieser Science-Fiction-Roman untertitelt. Und wer dabei vor allem an Bilder aus Kubricks genialem Film denkt, liegt in Sachen Inhalt schon halbwegs richtig.

Der Autor

„Jack Womack (* 8. Januar 1956 in Lexington, Kentucky) ist ein US-amerikanischer Autor. Die Thematik seiner Bücher ist im Bereich der spekulativen Fiktion angesiedelt und enthält aber auch häufig Elemente des Cyberpunk. Sein Hauptwerk ist die Ambient-Serie, die bis heute 6 Bände umfasst, in der deutschen Fassung erschienen im Heyne Verlag und bei Bastei-Lübbe. Die Reihenfolge der Veröffentlichung dieser Bücher weicht dabei von der werkimmanenten Zeitlinie ab. Jedes Buch kann aber auch für sich allein gelesen werden, da keine Vorkenntnisse aus einem anderen Band erforderlich sind.“ (Quelle: Wikipedia.de)

Jack Womack, geboren 1956, arbeitete vier Jahre lang in der New Yorker Buchhandlung, die im zweiten Kapitel seines Romans „Ambient“ in die Luft gesprengt wird. Das sagt schon einiges über sein Verhältnis zu diesem Job aus. Danach war er arbeitslos und schrieb 1983 die ersten sechs Kapitel von „Ambient“. Als er wieder einen Job bei einem Buchgroßhändler in Brooklyn bekam, schrieb er „Ambient“ und den Handlungsverlauf der sechs Bände des Dryco-Zyklus nieder. Von „Ambient“ fertigte er nicht weniger als zehn oder elf Überarbeitungen an. Alle seine Romane sind bei Grove Press erschienen, zum Teil auch bei Tor Books, einem renommierten SF-Verlag.

Als 1987 „Ambient“ erschien, hatte er bereits zwei Mainstream-Romane fertig, die er aber niemandem zeigen will. Nach dem Dryco-Zyklus veröffentlichte er einen Mainstream-Roman, dem der Verlag den Titel „Let’s put the future behind us“ (Lass uns die Zukunft hinter uns bringen), obwohl Womack das Manuskript „Picnic in a Graveyard“ (Picknick auf einem Friedhof) betitelt hatte.

Der DRYCO-Zyklus, wie er in Deutschland veröffentlicht wurde:

1) Ambient (Heyne 06/4668)
2) Terraplane (Heyne 06/4790)
3) Heidern (Heyne 06/4994)
4) Zufällige Akte sinnloser Gewalt (chronologisch erster Roman, Heyne 06/5969)
5) Elvissee (bei Bastei-Lübbe)

Werkimmanente Reihenfolge:

1) Zufällige Akte sinnloser Gewalt. (engl.: Random Acts of Senseless Violence. 1993.) Übersetzt von Karl Bruckmaier 1998, ISBN 3-453-13992-5.
2) Heidern. (engl.: Heathern. 1990) Übersetzt von Horst Pukallus. 1993, ISBN 3-453-06217-5.
3) Ambient. (engl.: Ambient. 1987) Übersetzt von Walter Brumm. 1990, ISBN 3-453-03935-1.
4) Terraplane. (engl.: Terraplane. 1988) Übersetzt von Walter Brumm. 1991, ISBN 3-453-04986-1.
5) Elvissey. (engl.: Elvissey. 1993) Übersetzt von Bernhard Kempen. 1994, ISBN 3-404-24181-9. (Philip K. Dick Award, 1993)
6) Going, Going, Gone. 2000, ISBN 0-8021-3866-7.

Andere Bücher:

Let’s Put the Future Behind Us. 1996, ISBN 0-8021-3503-X.

Short Stories:

„Audience“ (1997) in The Horns of Elfland (ed. Ellen Kushner, Delia Sherman, and Donald G. Keller)

Sachbuch:

Flying Saucers Are Real! (2016) ISBN 978-1-944860-00-4

Handlung

Seamus O’Malley ist seines Zeichens Leibwächter bei Thatcher Dryden, der mit seinem Vater die Macht im Staate der Welt ausübt und das Wirtschaftsimperium Dryco leitet, das überall seine Finger drin hat und so auch die Regierung kontrolliert. Seamus liebt die derzeitige Gespielin Avalon seines Herrn, und deshalb lässt er sich auf ein gefährliches Spiel ein: Dryden junior will Dryden senior beseitigt wissen und verspricht Seamus dafür die Freiheit mit Avalon. Als er sich darauf einlässt, geht der Sprengstoffanschlag allerdings anders aus als geplant.

Seamus muss erkennen, dass ein Spiel angesagt ist, von dem anscheinend er als Einziger die Regeln nicht kennt – ein Schaukelpartie zwischen Pflichterfüllung, Geschäftsintrigen, mörderischen Familienrivalitäten, perversen Praktiken eines zur Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung unfähigen Militärs und dem furchtbaren Geheimnis eines skrupellosen alten Mannes. Als Avalon von seiner Seite verschwindet, folgt ihr Seamus – erst zu Thatcher, dann zu dessen Vater. Und so landet er schließlich bei Alice, dem Supercomputer, der Mittelpunkt des Geheimnisses ist, mit dessen Hilfe Dryden senior die Welt beherrscht.

Abgesondert von der Gesellschaft leben die so genannten Ambienten. Die Ambienten sind das Ergebnis einer Umweltkatastrophe auf Long Island, die von der Regierung zynischerweise als willkommenes Freilandexperiment für ein neues Medikament missbraucht wurde. Missgeburten aller Art waren die Folge. O’Malleys lesbische Schwester Enid ist so eine Ambient.

Diese Überlebenden bilden in diesem 21. Jahrhundert eine eigene Gesellschaft, die über eine merkwürdig antiquierte Ausdrucksweise, eigene Religion und Bräuche verfügt. Neu-Ambients versuchen immer wieder, sich selbst zu verstümmeln oder verstümmeln zu lassen, um Teil dieser Subkultur zu werden. Die einzige Hoffnung der Ambienten: „Es gab doch eine Wahl; in einer Ambientwelt gab es immer eine Wahl.“

Mein Eindruck

Womack schreibt engagierte Social & Hightech Science Fiction. Seine Vorbilder könnten William Gibson und John Brunner sein, doch beide kannte er gar nicht, wie er zugibt (in einem Interview, das in der deutschen Ausgabe von „Zufällige Akte sinnloser Gewalt“ abgedruckt ist).

Wie der Cyberpunk in der Sciencefiction kreiert er eine von Hightech bestimmte Kultur, an die seine Helden angepasst sind. Aber nicht unbedingt zu ihrem Besten. Und hier setzt Womacks soziale Kritik ein. Die Unmenschlichkeit der Technik und ihres Einsatzes durch die Mächtigen ergänzt sich mit der Vereinsamung und Verrohung ihrer Opfer. Mit knallharten Szenen versucht Womack vor einer Entwicklung unserer Zeit in diese Richtung zu warnen. Denn wir sind auf dem „besten“ Weg dorthin.

Die sozialen Strukturen und die verknüpfte Gewalt spiegeln sich besonders in der Sprache wider. Die Geschäftsleute wie Dryden reden „Biz“, einen verkürzenden Jargon, bei dem Substantive zu Verben werden und der die Sprecher wie Roboter klingen lässt. Die Ambienten hingegen sind nicht ohne Grund ihr genaues Gegenteil: Sie reden in altertümlichen Wendungen des 17. Jahrhunderts, die viel mit poetischen Ausdrücken versetzt sind und barock klingen. Wer durch diese Verschlüsselung blickt (oder besser: hört), entdeckt, dass die Ambienten die weitaus menschlichere Spezies dieser Menschheit sind.

Zwischen diesen beiden Extremen steht Seamus O’Malley, die Hauptfigur. Er redet bürgerliches und korrektes Englisch (bzw. Deutsch), denn er stammt aus der verschwundenen Mittelschicht, hat seinen Vater ewig nicht mehr gesehen, verliebt sich, wurzellos geworden, in die ebenso entwurzelte Avalon, die als Sklavin seines Bosses anatomisch aufgemotzt ist. Sie neckt ihn immer mit der Anrede „Schamlos O’Malley“ – ein Wortspiel, das auf der Ähnlichkeit in der Aussprache von „Seamus“ und „shameless“ beruht.

Schwächen

Der Kritiker John Clute hat die Nähe dieser linguistischen Eigenheiten zu James Joyce‘ „Ulysses“ und Anthony Burgess‘ „Clockwork Orange“ gleich erkannt. Das ist zwar für ihn ein gutes Mittel, um die soziale Landschaft New Yorks zu beschreiben, allerdings kritisiert er den Mangel an einem überzeugenden Handlungsverlauf. Denn im Grunde besteht die Story aus einem einfachen Kriminalplot: Leibwächter will mit Billigung seines Bosses den Seniorchef umlegen, wird aber nach dem Scheitern des Anschlags zur Flucht gezwungen und muss sich beiden Bossen stellen, um seine Geliebte zurückzubekommen. Dieser Plot ist wirklich hauchdünn.

Hinzukommt, dass die Annahme, dass nur ein einziger Konzern, nämlich Dryco, die Welt beherrschen soll, extrem unplausibel ist. Man kommt sich vor wie in einem James-Bond-Film, in dem es der Schurke geschafft hat, die Weltherrschaft an sich zu reißen. Momentan ist es in den USA so, dass etwa 20 oder 30 Familien den Reichtum des Landes besitzen (mindestens über 80 Prozent) und dass diese Minorität über die Federal Reserve Bank das Finanzssystem des Landes kontrolliert. Das darf natürlich niemand wissen, aber die Bushs gehören dazu – und zufällig auch zu einem der exklusivsten [College-Geheimbünde]http://de.wikipedia.org/wiki/Skull%26Bones der USA.

Der heilige Elvis

Aber die Zuspitzung der Macht auf nur einen Konzern, Dryco, und nur einen Mann, den Senior-Chef, ist ein literarischer Kniff, wie man ihn häufig in alten Kriminalromanen findet, etwa der 1930er Jahre (Chandler, Ostler, Hammett). Womack, das sagt er im oben erwähnten Interview, ist ein Fan von „Citizen Kane“. Und daran erinnert auch sein Dryco-Konzern. Dessen Familieninterna werden somit für die Welt von Belang und umgekehrt. Die Dryden-Familie verehrt in einem bemerkenswerten Gottesdienst den heiligen Elvis (den frühen, nicht den späten) als Heilsbringer. Sie verfügt sogar über ihr eigenes Orakel, den Supercomputer Alice, und ihre Bibliothek von Geheimnissen. Hier zeigt sich Womacks Vorliebe für Spinner und Verschwörungstheorien.

Aber es gelingt Seamus, das wichtigste und bestgehütete dieser Geheimnisse Alice zu präsentieren, sehr zum Entsetzen von Dryden senior. Es kommt zum erhofften Showdown, komplett mit Knarre und Blut und allem Drum und Dran. Und wenn Seamus und seine Avalon nicht gestorben sind, dann findet am Ende des Buches der Weltuntergang statt.

Die Übersetzung

Auf Seite 222 fehlt unten auf der Seite ein Satz. Auf Seite 239 ist ein Buchstabendreher in dem spanischen Wort „desperia“, so dass die Anspielung auf Dantes „Inferno“-Begrüßungssatz „Die ihr hier eintretet, lasst alle Hoffnung fahren“ unkenntlich wird.

Auf Seite 282 verdeckt der Übersetzer Walter Brumm noch einmal eine Anspielung, indem er einfach „Habgier. Spulen 1 bis 42“ schreibt statt „Greed“ stehenzulassen. Denn [„Greed“]http://de.wikipedia.org/wiki/Gier%28Film%29 ist jener epochale Film von Erich von Stroheim, von dem es angeblich nicht die kompletten 42 Spulen gibt. Aber Dryden senior hat sie alle.

Diese wenigen Beispiele machen deutlich, dass Jack Womack ein sehr belesener Mann ist, kein Wunder bei einem Buchhändler. Sinnvoll wäre es daher gewesen, die entsprechenden Anspielungen durch kurze Fußnoten aufzuzeigen.

Unterm Strich

Exzessive Gewaltanwendung ist in den Straßen Manhattans allenthalben zu finden. Daher ist die Lektüre an etlichen Stellen ziemlich abstoßend. Ein chaotisches, moralisch verkommenes Universum – hier sind die Ambients genau richtig und sein wichtigstes Symbol. Insofern ist „Ambient“ die konsequent zu Ende gedachte Burgess-Vision aus „Clockwork Orange“, ohne jede Hoffnung. Das Titelbild zeigt eine New Yorker Freiheitsstatue, die ein Totenkopfgrinsen aufgesetzt hat …

„Ambient“ zu lesen, ist sowohl faszinierend als auch abstoßend, etwas für starke Nerven. Aber die Lektüre an sich ist leicht, weil die Sätze kurz und einfach gehalten sind. Es handelt sich hierbei nicht um einen genretypischen Weltuntergangsroman, sondern eher um einen Kriminalroman in einem Science-Fiction-typischen Setting. Daher könnten literarisch gebildete Leser dem einen oder anderen Aspekt – etwa der Sprache – doch noch einiges abgewinnen.

Zudem gilt aber auch, was John Clute über die Schwächen des Plots und der Charakterisierung aufgezeigt hat. Für SF-Leser ist dies aber ein Vorteil, sind sie doch gar nicht daran gewöhnt, komplexe Charaktere vorgesetzt zu bekommen. Man sollte auch bedenken, dass der Dryco-Zyklus aus sechs Romanen besteht und jeder dieser Romane aus einer anderen Perspektive erzählt ist.

Zusammengenommen bildet die Hexalogie also doch noch ein vielgestaltiges Bild von einer erschreckenden Zukunft, die mit jedem Tag glaubwürdiger erscheint. 1992 beteuerte Womack seinen Lektoren, dass die geschilderten Zustände aus „Ambient“ schon „in 25 Jahren“ möglich seien, also anno 2017, doch sie bestanden darauf, dass es erst in 50 Jahren so weit sein könne. Dabei verschwieg Womack, dass er auf seinem Weg zur Arbeit in Brooklyn schon 1983 verfallende Viertel gesehen hatte, in denen der Kriegszustand herrschte.

Literaturhinweis

Wie der Schluss des Buchs andeutet, hat der Autor seine Dryco-Welt noch mehrmals besucht, so etwa in „Terraplane“ und „Zufällige Akte sinnloser Gewalt“. Dieser letzte Titel ist eine treffende Beschreibung für die Zustände im New York City dieser Zukunft – daher auch die Assoziation zu „Uhrwerk Orange“. Das Interview in „Zufällige Akte sinnloser Gewalt“ liefert wertvolle Hinweise zum Verständnis dieses Weltentwurfs und der Aussagen seines Autors darüber.

Taschenbuch: 318 Seiten
Originaltitel: Ambient, 1987
Aus dem Englischen von Walter Brumm.
ISBN-13: 978-3453039353

www.heyne.de