Als Paläontologen auf rätselhafte Gebeine stießen, für deren Ursprung sie keine Erklärung fanden, war die wissenschaftliche Sensation perfekt. Dieses Geschöpf konnte unmöglich und zu keiner Zeit am Mississippi gelebt haben. Der unglaubliche Fund wies in eine Vergangenheit zurück, in der es noch keine Menschen auf der Erde gegeben hatte, und die Spur führte in die dichten Wälder Westafrikas, wo die Forscher mit Dingen konfrontiert wurden, die sie niemals für möglich gehalten hätten. (Verlagsinfo)
Was wäre, wenn es in Nordamerika nicht nur Ureinwohner, weiße Einwanderer und schwarze Sklaven, sondern noch eine vierte Gruppe gegeben hätte? Und wenn dies Affenmenschen wären, die bereits seit einer Million Jahren ausgestorben sein müssten?
Mit den wissenschaftlichen Mitteln der Paläanthropologie spürt der Autor seinem kühnen Entwurf nach, wobei die Spur nach Westafrika führt. Er zeigt auf, was diese Entdeckung für die heutige US-amerikanische Gesellschaft bedeuten würde – und was für die Entdeckten.
Der Autor
Roger MacBride Allen, geboren 1957 und in Washington, D.C., lebend, begann 1985, Space-Operas zu veröffentlichen, die bis heute den Großteil seines Oeuvres ausmachen. Leider gab er sich zunächst als Heinlein-Jünger zu erkennen, was ihm in Europa nicht gerade Freunde schaffte. Leider ist Militär-Science-Fiction auch hier wieder en vogue.
Das änderte sich ein wenig mit der „Heimgesuchte Erde“-Sequenz, von der ab 1991 zunächst „Der Ring von Charon“ und „Die zerschmetterte Sphäre“ erschienen. Die Erde wird wegen einer Bedrohung vom Mond per Wurmloch in ein weit entferntes Sonnensystem transferiert, wo Aliens in einer Dyson-Sphäre leben. Man muss sich arrangieren.
Nach einigen Star-Wars-Romanen hat Allen inzwischen eine Aufsehen erregende Science-Fiction-Trilogie vorgelegt: „Die Tiefen der Zeit“ (2000, deutsch 2002) und „Der Ozean der Jahre“ (2002, deutsch 2004) schildern ein Universum, in dem sogenannte „Zeitschächte“ aus Wurmlöchern riesige Distanzen überbrücken, über die sich die Menschheit ausbreiten kann. Die Enden der Schächte werden von einer Art Raum- und Zeitpatrouille bewacht und geschützt. Denn der Durchgang durch ein solches Wurmloch hat gemäß Einstein auch schwere zeitliche Konsequenzen …
Handlung
Barbara Marchando, geborene Jones, 32, ist eine neugierige Paläanthropologin, die auf dem Dachboden ihres Elternhauses in Gowrie, Mississippi, eine bemerkenswerte Entdeckung macht, die ihr Leben auf den Kopf stellt: das verschollene Tagebuch des verehrten Gründers ihrer Sippe. Zebulon Jones, geboren 1835 als Sklave auf der Gowrie-Plantage, floh 1860 in die Nordstaaten, kehrte nach dem Bürgerkrieg zurück, um die herrenlose Gowrie-Plantage zu übernehmen, später Kongressabgeordneter zu werden und als hochgeachter Mann gegen Kukluxer und andere Negerfeinde zu kämpfen.
Und nun das! Hat er phantasiert und Märchen erzählt? Barbara wundert sich ebenso wie ihre Großtante Josephine, die Matriarchin des Clans: Zebulon will um 1850 herum neue Sklaven beobachtet haben, die weder Mensch noch Tier waren, sondern so eine Art Zwischending: Affen mit menschlichem Verhalten. Weil sie rasch unter den harten Bedingungen starben, wurden sie bald begraben – aber keineswegs auf dem Friedhof für die Negersklaven, sondern an einem unbezeichneten und ungeweihten Fleck an einer Kreuzung. Diese Bestien sollten die gläubigen und verehrten Ahnen nicht stören.
Sofort ist Barbara Feuer und Flamme für ihr neues Ausgrabungsprojekt. Mit Tante Jo’s Erlaubnis und einem kräftigen Vetter buddelt sie unter Anwendung wissenschaftlicher Methoden die längst versunkene Kreuzung in Tantchens Hof um, bestaunt und befragt von der ganzen Kinder- und Verwandtenschar, die zum Erntedankfest zusammengekommen ist. Da stößt sie auf eine Segeltuchplane, in der sich ein Skelett befindet. Zunächst ist sie schwer enttäuscht darüber, dass es sich um die Knochen eines hundsgewöhnlichen Homo sapiens sapiens handelt, doch dann fallen ihr die zahlreichen Abweichungen auf: Es ist ein Australopithecus. Und statt der normalen eine Million Jahre starb dieses Wesen gerade mal 150 Jahre zuvor!
Die Sensation dieses Fundes erschüttert nicht nur die Paläanthropologie in ihren Grundfesten, sondern auch die US-Gesellschaft, ja, die gesamte Gemeinschaft des Homo sapiens. Schon bald wird ein Lokalreporter auf die Vorgänge in Gowrie aufmerksam und schießt Fotos von den Funden und ihren Ausgräbern: Die Fachwelt schüttelt den Kopf.
Schwere Zeiten brechen für die mutige Frau an, in denen ihr nur ihre Kollegen Rupert Maxwell, Professor Grossington und Livingston Jones zur Seite stehen. Des Rätsels Lösung kann nur eine Reise zum Herkunftsland der modernen Australopithecinen liefern: Westafrika.
Mein Eindruck
Die weitere Handlung ist spannend, bewegend und sehr flott erzählt, ohne sich in irgendwelchen Sentimentalitäten oder Nebenhandlungen zu verlieren. Immer bleibt die Story eng am Thema: Was ist der rechtliche Status der modernen Australopithecinen in der heutigen Gesellschaft des Homo sapiens: Sind es Tiere oder Personen? Tiere haben keinerlei Selbstbestimmungsrechte, genau wie Sklaven. Würde man sie also als Tiere einstufen, würde sich der Homo sapiens zum Sklavenhalter erklären.
Und doch gibt es schon Bestrebungen, genau dies zu tun – wiederholt sich die Geschichte? Denn wie könnte ein fellbedecktes Wesen, das aus dem Urwald kommt, nicht sprechen kann und im Gesicht ganz anders aussieht als ein Homo sapiens, eine „Person“ sein? Da liefert die Molekularbiologie ein erstaunliches Untersuchungsergebnis, das Aussagen mit weitreichenden Folgen für die Verwandtschaft zwischen den beiden Spezies hat. Barbara, wie stets unverzagt, macht ein gewagtes Experiment, das sie ihre Karriere und ihre Ehe kosten wird.
Aliens auf der Erde?
Der Autor ist sonst eher in den Welten der Astronomie und Quantenphysik zu Hause. In „Waisen der Schöpfung“ wendet er sich mit Verve der Wissenschaft vom Frühmenschen zu, der Paläanthropologie. Die Ähnlichkeit zur Entdeckung von Aliens ist offensichtlich. Aber die Folgen dieser Begegnung des Menschen mit Andersartigen sind ganz andere und viel aktuellere.
Darwin war ein Verräter!
Denn die Existenz eines Frühmenschen, der vor einer Million Jahren ausstarb, ist eine Theorie der Evolutionslehre, die Charles Darwin aufstellte. Sie wird von den bibelfesten Vertretern der Schöpfungslehre, die sogar eine „Schöpfungswissenschaft“ gegründet haben, vehement bestritten. Und zwar nicht nur mit Worten. Diese „Kreationisten“, die die Entstehung der Welt auf das Jahr 4004 v.Chr. festgelegt haben, sorgen in den USA dafür, dass alle Verweise auf Evolution und Fossilien etc. aus den Schulbüchern und sonstigem Lehrmaterial getilgt werden. Und der US-Bundesstaat Mississippi ist nun mal einer der bibelfestesten Landstreifen, in denen die Kreationisten, aber auch der Ku-Klux-Klan, die Oberhand haben. Sie unternehmen alle Anstrengungen, um Barbaras Entdeckung als Widerlegung der Evolutionslehre zu missbrauchen.
In seinem langen Nachwort macht der Autor kein Hehl aus seinem Anliegen, diese verbohrten Schwindler zu widerlegen. Und wenn man weiß, dass der aktuelle US-Präsident von den christlichen Fundamentalisten (u. a. von Kreationisten) massiv unterstützt wird, so kann man sich gut vorstellen, dass auch ein solches Buch eine Rolle spielen kann im Kampf gegen jene Volksverdummer. Vielleicht wird sich Michael Moore einmal dieses Themas annehmen.
Mein Leseerlebnis
Mir hat dieser flotte Roman über eine Entdeckung von Vettern des Homo sapiens ausnehmend gut gefallen. Die Story ist, wie gesagt, spannend, schnell, bewegend und berücksichtigt damalige wissenschaftliche Erkenntisse wie auch den großen Einfluss der Medien.
Wie der Autor erwähnt, war sein Vater für das Redigieren des Manuskripts zuständig. Hut ab vor diesem Könner! Unnötigen Firlefanz und selbstverliebte Beschreibungen sucht man hier vergeblich. Auffällig sind jedoch besonders in der zweiten Hälfte seitenlange Monologe und Zeitungsartikel. Das sind keine besonders erfolgreichen Stilelemente. Aber sie komprimieren das, was gesagt werden soll, auf engstem Raum.
Die Wälder Gabuns waren vielleicht 1988, als das Buch in USA erschien, noch richtige Dschungel. Aber es wird schon der Bau der ersten Nebenstrecke der Eisenbahn, die ins Hinterland der ehemals französischen Kolonie führt, geschildert. Von da ab dürfte mit dem Abholzen des Dschungels, vor allem wegen der Edelhölzer, begonnen worden sein. Ich bezweifle, dass es heute noch unentdeckt lebende Volksgruppen oder gar Spezies geben kann.
Das tut aber dem Anliegen des Autors keinen Abbruch. Denn die Analogie mit den Aliens erlaubt es, das Problem „Tier oder Person?“ auch auf eventuell vorgefundene Fremdwesen auf anderen Welten zu übertragen. Und dann muss der Homo sapiens stets erneut unter Beweis stellen, ob er ein Sklavenhalter oder ein Humanist ist.
Unterm Strich
Was wäre, wenn Robinson Crusoe am Strand seines einsamen Inselkönigreichs nicht auf die Fußspuren von Freitag, seinem späteren Sklaven, gestoßen wäre, sondern auf die eines Australopithecinen? Hätte er diesen ebenso für Arbeiten eingespannt und zu „zivilisieren“ versucht? Mit diesem interessanten Szenario konfrontiert der Roman die Hauptfiguren – und natürlich den Leser.
Gab es die Evolution überhaupt? Sind Homo sapiens („kluger Mensch/Mann“) und Australopithecus („südlicher Affe“) überhaupt nicht miteinander verwandt? Wenn die amerikanischen „Schöpfungswissenschaftler“ Recht haben, dann wurde die Welt vor etwa 6000 Jahren erschaffen – Terra hat Geburtstag!
Dies sind nur einige der reizvollen Fragen, die das Buch stellt. Ich habe es in wenigen Tagen gelesen, denn es ist interessant, gut informiert bzw. informativ, sehr spannend, flott erzählt und stellenweise sehr bewegend. Und wenn man eine Hauskatze beobachtet, kann man sich des Verdachts nicht erwehren, dass sie nicht nur ein Tier, sondern auch eine Person ist …
Lesetipps
Michael Bishop: Nur die Zeit zum Feind (Heyne)
Michael Bishop: Das Herz eines Helden (Heyne)
Greg Bear: Das Darwin-Virus (Heyne)
Jens Lubbadeh: Neanderthal (Heyne)
Taschenbuch: 447 Seiten
Originaltitel: Orphan of Creation, 1988
Aus dem US-Englischen übersetzt von Walter Brumm
ISBN-13: 9783453139985
www.heyne.de