Håkan Nesser – Der Tote vom Strand (Van Veeteren 8)

Erstklassiger Schwedenkrimi, mit Überraschung

Was geschah mit Mikaela Lijphart? Was mit ihrem Vater? Beide sind wie vom Erdboden verschluckt – kurz nach ihrem ersten Treffen seit sechzehn Jahren. Und wer ist der Tote vom Strand? Zwei Verschwundene und ein ungelöster Mord: Ewa Morenos Urlaub läuft nicht ganz so wie geplant. Statt zwei Wochen entspannt in der Sonne zu liegen, wird die Polizeinspektorin aus Van Veeterens Truppe in Maardam mit einer Menge mysteriöser Vorfälle, zahlreichen Ungereimtheiten und zwielichtigen Kollegen konfrontiert. Bis sie dahinter kommt, dass die Lösung für alle Rätsel in der Vergangenheit bei einem ungesühnten Verbrechen liegt – und dass Van Veeteren Recht hat, wenn er die Schuldfrage philosophisch sieht… (Verlagsinfo)

Der Autor

Håkan Nesser, Jahrgang 1950, ist neben Henning Mankell der wohl wichtigste Kriminalschriftsteller Schwedens. Wo jedoch Mankell den anklagenden Zeigefinger hebt, weiß Nesser die Emotionen anzusprechen und dringt in tiefere Bedeutungsschichten vor. Außerdem verwendet er eine poetischere Sprache als Mankell und gilt als Meister des Stils. Uns in Deutschland ist er bislang durch seine Romane um Kommissar Van Veeteren bekannt, aber auch „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ erregte Aufsehen. Er lebt in London und auf Gotland.

Manche seiner Romane um Kommissar van Veeteren wurden 2005/2006 in einer TV-Serie verfilmt.

Übersetzte Werke

Die Van-Veeteren-Reihe (chronologisch)

1) Das grobmaschige Netz
2) Das vierte Opfer
3) Das falsche Urteil
4) Die Frau mit dem Muttermal
5) Der Kommissar und das Schweigen
6) Münsters Fall
7) Der unglückliche Mörder
8) Die Tote vom Strand
9) Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod
10) Sein letzter Fall

Die Inspektor-Barbarotti-Reihe

1. 2006 Människa utan hund
o Mensch ohne Hund, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2007. ISBN 978-3-442-75148-8
2. 2007 En helt annan historia
o Eine ganz andere Geschichte, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2008. ISBN 978-3-442-75174-7
3. 2008 Berättelse om herr Roos
o Das zweite Leben des Herrn Roos, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2009. ISBN 978-3-442-75172-3
4. 2010 De ensamma
o Die Einsamen, dt. von Christel Hildebrandt; München: btb 2011. ISBN 978-3-442-75313-0
5. 2012 Styckerskan från Lilla Burma
o Am Abend des Mordes, dt. von Paul Berf; München: btb 2012. ISBN 978-3-442-75317-8

Mehr Infos: https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A5kan_Nesser (Das Werkverzeichnis reicht nur bis 2016.)

Handlung

Auch Polizisten müssen mal Urlaub machen. Das hat auch Kriminalinspektorin Ewa Moreno vor, die in Maardam in der Station Dienst tut, vor bis vor wenigen jahren auch „Der Kommissar“ Van Veeteren arbeitete, bevor er sich als Betreiber eines Buchantiquariats selbständig gemacht hat.

Moreno freut sich auf vier Wochen Auszeit, die vor allem mit dem Psychologen Mikael bau in dessen Ferienhaus an der Küste verbringen will. Aber mal ehrlich: Kann das der Mann fürs Leben sein, wenn er noch einen Trabbi fährt? Aus dem Test, ob das mehr wird als ein Flirt, dürfte kein positives Ergebnis herauskommen.

Zum Abschied von der Maardam-Wache erhält sie noch den Auftrag, einen Verbrecher in Lejnice zu befragen, um Namen von unentdeckten Verbrechern zu erfahren. Na toll, sie freut sich schon auf das Verhör mit „dem Schleimscheißer“. Aber das ist Nebensache.

Im Zug nach Lejnice lernt Ewa nämlich eine weinende junge Frau namens Mikaela Lijphart kennen, die ihren Vater besuchen will. Sie habe erst zu ihrem 18. Geburtstag von ihrer Mutter erzählt bekommen, dass ihr Ziehvater nicht ihr leiblicher Vater sei. Letzterer lebe vielmehr seit 16 Jahren in einer Heilanstalt für Geisteskranke. Doch nachdem Mikaela diesen Arnold Maager besuchte, verschwindet sie, wie Ewa verblüfft herausfindet. Der örtliche Polizeichef Vrommel reagiert jedoch seltsam desinteressiert. Werden in Lejnice keine Vermissten mehr gesucht?

Da scheint es vor 16 Jahren ein ungesühntes Verbrechen gegeben zu haben, für das man den Lehrer und Familienvater Arnold Maager verurteilen wollte. Er hatte eine seiner Schülerinnen namens Winnie Maas angeblich zuerst geschwängert und dann von einer Brücke gestürzt. Diese Vorgeschichte wird am Anfang jedes Buchteils weiter enthüllt, was doch für einige Spannung sorgt.

Nun verschwindet Arnold Maager wenige Tage nach seiner Tochter, und keinen scheint es zu kümmern. Dann stoßen am Strand zwei ‚Schätzgräber‘ spielende Jungen auf die Leiche eines Mannes. Es handelt sich um einen gewissen Tim van Rippe.

Durch Hinzuziehen ortsfremder Untersuchungsbeamten zur Aufklärung dieses Mordes deckt Ewa eine Verbindung von van Rippe zu Polizeichef Vrommel auf. Zu blöd. Nun bleibt ihr nur ein Weg offen: Sie muss die lokale Presse einschalten, um tiefer in der Vergangenheit zu graben und die Vermisstenanzeigen für Mikaela und ihren Vater zu veröffentlichen.

Doch am Schluss steht wie so oft die Frage, wie man mit der aufgedeckten Wahrheit umgeht. Wie soll Gerechtigkeit aussehen? Da hilft ihr die philosophische Weisheit van Veeterens, den geistigen Übervater der Maardam-Polizisten.

Mein Eindruck

„Der Tote vom Strand“ hat mir noch besser gefallen als „Der unglückliche Mörder“ (siehe Bericht). Die Handlung ist vielschichtiger und bereitet zu jedem Zeitpunkt einiges Kopfzerbrechen, zumal die wichtigen Fakten nur scheibchenweise enthüllt werden. Zum anderen spielt mit Ewa Moreno zur Abwechslung mal eine (für eine Polizistin) recht einfühlsame Frau die Hauptfigur. Eigentlich woltle sie ja Urlaub machen, nicht zwei Mörder jagen. Sie ist eine recht sympathische Figur, ohne dabei ihre Schwächen zu verdecken.

Nesser wird immer besser. Er charakterisiert selbst seine Nebenfiguren, dass man sie sich bildlich vorstellen. Mikael Bau fährt einen Trabbi, Winnie Maas‘ Mutter lebt in einem Saustall, Arnold Maager vegetiert, wiewohl unschuldig, vor sich hin, und Polizeichef Vrommel stählt sich als Single mit Liegestützen, statt auf Verbrecherhatz zu gehen.

Natürlich muss man eine Weile über die im Buch mitgeteilten Fakten grübeln und sie erst einmal zusammensetzen. Der Leser ist von Anfang zur Mitarbeit aufgefordert. Denn Nesser hebt anders als Mankell nie den mahnenden Zeigefinger, führt uns aber weiter in das Labyrinth menschlicher Leidenschaft und Schuldverstrickung.

Am Schluss, wenn man sich vom Schrecken halbwegs erholt hat, wartet kein Richterspruch. Niemand enthebt uns der Verantwortung, selbst Gerechtigkeit walten zu lassen. Und diese Aufgabe stellt sich als schwieriger heraus als erwartet. Allenfalls gibt es so etwas wie „poetische Gerechtigkeit“. Man kann froh sein, wenn es die „Richtigen“ trifft und nicht die „Guten“. Der Übergang ist eh fließend.

Diese Offenheit und Wahlfreiheit hat mich weit mehr für Nessers Buch eingenommen als alle deutlichen Zeigefinger und Anklagen.

Unterm Strich

„Der Tote am Strand“ ist ein von Anfang bis Ende überzeugender Krimi von einem Könner. Eine Ermittlerin ist vielleicht nicht jeder Manns Sache, sorgt aber für eine neue Würze und eine erhöhte Sensibilität bei der Aufdeckung der begangenen Verbrechen. Nesser erzählt ganz anders als seine amerikanischen Kollegen, erklärt nicht alles haarklein und findet eine Zone des (Un-) Rechts, wo die Antwort nicht offensichtlich und vorgefertigt ist.

Kurz gesagt: Dieser Schweden-Krimi ist vom Feinsten und jedem Thrillerfreund zu empfehlen, dem es nicht auf Leichenberge und Blutfontänen ankommt.

Hardcover: 351 Seiten
Originaltitel: Ewa Morenos fall, 2000;
Aus dem Schwedischen von Gabriele Haefs
ISBN-13: 9783442750603

www.heyne.de

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