Ralf Isau – Das gespiegelte Herz (Die Chroniken von Mirad 1)

Ergil ist ein ruhiger, nachdenklicher Junge mit einer unerschöpflichen Wissbegierde. Stunden kann er damit verbringen, das Leben im Wald zu beobachten, und wenn er damit fertig ist, fragt er seinen Ziehvater Falgon Löcher in den Bauch. Diese Eigenschaften resultieren aus dem tief verwurzelten Wunsch, die Welt und ihre Wesen zu verstehen. Wenn er sich nur selbst verstehen könnte! Einiges an ihm selbst scheint ziemlich merkwürdig zu sein, und er träumt immer so seltsam …

Twikus ist ein Wildfang und immer in Bewegung. Er scheint vor nichts Angst zu haben, das Wort Vorsicht existiert in seinem Wortschatz gar nicht. Sein Lieblingszeitvertreib ist die Jagd. Twikus ist ein exzellenter Bogenschütze. Umso mehr wundert er sich immer wieder über die Träume von einem jungen Burschen, der offenbar ein totaler Weichling ist …

Falgon ist ein Mann mit viel Geduld, und die braucht er auch! Trotz aller Geduld gibt es aber ganz offenbar etwas im Leben der Jungen, worüber er auf keinen Fall reden will, und das ist genau der Punkt, nach dem selbst der unbekümmerte Twikus immer wieder fragt: Wer waren meine Eltern? Falgon weiß, dass er diese Frage nicht beantworten kann, ohne die beiden in Gefahr zu bringen, denn das Geheimnis ihrer Herkunft ist mit dem Geheimnis um ihre Träume verbunden und mit besonderen Fähigkeiten. Erst müssen die beiden das unmittelbare Rätsel ihrer selbst lösen.

Da platzt plötzlich eine Schar heruntergekommener Ritter in die stille Einsamkeit ihres Waldes und versucht, die Jungen zu entführen. Der Wald ist nicht mehr sicher. Falgon beschließt, die beiden nach Seltensund zu bringen, wo Inimai, die Kräuterhexe, lebt, denn sie allein ist noch in der Lage, die Jungen im Gebrauch ihrer Fähigkeiten zu unterweisen. Eine lange und gefahrvolle Reise beginnt, die auch an Inimais Haustür noch nicht zu Ende ist …

Ralf Isau erzählt seine Geschichte von den ungleichen Brüdern mit viel Fingerspitzengefühl. Die besondere Situation der beiden, ihre enge Verbindung zueinander, und das bei so großen charakterlichen Unterschieden, macht es nicht unbedingt einfacher für sie, sich zusammenzuraufen. Der heißblütige Twikus hat gelegentlich schwer mit seinem Stolz zu kämpfen, während dem nachdenklichen Ergil seine Angst zu schaffen macht. Es dauert eine ganze Weile, bis die beiden lernen, ihre unterschiedlichen, im Grunde ergänzenden Begabungen zu einer Einheit zusammenzufügen, anstatt sie konkurrierend nebeneinander zu stellen.

Unterstützt werden sie dabei vor allem von Inimai, der sogenannten Hexe. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter eine Frau namens Múria, die die Wege und Fähigkeiten der Sirilim studiert hat, des alten Volkes, das inzwischen so gut wie ausgestorben ist. Obwohl sie selbst nur ein Mensch ist, der diese Fähigkeiten nur unvollkommen beherrscht, da ihm die angeborenen Begabungen der Sirilim fehlen, kann sie den Jungen doch die Grundbegriffe dieser Kunst weitergeben. Abgesehen davon lernen die beiden von ihr auch noch manches andere, was nichts mit den Sirilim zu tun hat. In gewisser Weise nimmt Múria die Stelle einer Art Ziehmutter ein, obwohl die Jungen bereits Teenager sind.

Der Bösewicht der Geschichte ist eine erstaunlich unspektakulärere Person, weder besonders finster noch in irgendeiner Weise übermächtig oder unbesiegbar. Zwar ist ihm auf irgendeine Weise eine böse Macht zu Willen, sie hat ihn aber nicht zu einem Ungeheuer voll schwarzer Magie gemacht. Wikander ist immer noch ein Mensch, ein Mann mittleren Alters, der den Jungen einfach deshalb im direkten Zweikampf überlegen ist, weil er stärker und im Kriegshandwerk ausgebildet ist.

Überhaupt ist die Geschichte für moderne Fantasy schon fast ungewöhnlich. Keine blutigen Gemetzel, keine datailliert beschriebenen Folterqualen, keine albtraumhaften, abartigen Ungeheuer. Die Auswirkungen des Bösen wirken eher unspektakulär. Der Autor hat sich eine Menge interessanter Geschöpfe ausgedacht, von denen einige auch durchaus nicht ungefährlich sind. Das Böse an ihnen ist allerdings ein Fremdkörper, nichts, was ihrem eigenen Wesen entspräche. Was immer die Gefährten attackiert, ist einfach in der Wahl seines Ziels irregeleitet. Das Bedrohliche daran ist die schleichende Ausbreitung des Missbrauchs der gesamten Natur, die in den Dienst eines Einzelnen gezwungen wird, und gegen die keiner ein Mittel weiß. Das Unaufhaltsame, Unausweichliche an dieser Entwicklung ist es, das hier die Spannung erzeugt. Denn die Handlung insgesamt verläuft eher linear und einfach, Hindernisse werden mit mehr oder weniger Mühe doch immer überwunden, Kämpfe mit nur geringen Verlusten überstanden.

Aber Isaus Geschichten sind selten einfach nur pure Unterhaltung. Immer lässt er auch ein wenig von seiner eigenen Lebensauffassung einfließen, behutsam und unaufdringlich, aber dennoch wirksam, fast schon pädagogisch. Geradezu beiläufig eingeflochtene Sätze nisten sich in der Erinnerung ein und entlocken dem Leser früher oder später ein erkennendes Nicken. So dienen die diversen Kämpfe und Hindernisse nicht unbedingt nur dem Aufbau von Spannung, sondern auch immer ein wenig der Entwicklung seiner beiden jungen Helden und letztlich auch seiner Leser. Denn obwohl der Autor seine Bücher nicht ausschließlich für Jugendliche schreibt, spürt man doch, dass seine Erzählungen hauptsächlich in diese Richtung zielen.

Die Chroniken von Mirad spielen zwar in ihrer eigenen Welt, sind aber nicht völlig losgelöst von Isaus anderen Werken. Gelegentlich stolpert man beim Lesen seiner Bücher über unerwartete Verbindungen, zum Beispiel im |Kreis der Dämmerung|, wo während Davids und Rebeccas Hochzeit der Trauerzug für Jonathan Jabbok vor dem Haus vorbeizieht, oder eben in Mirad, wo die Erwähnung von Melech-Arez sämtliche Kenner der Neschan-Trilogie aufhorchen lässt.

Alles in allem ist „Das gespiegelte Herz“ eine gelungene Mischung aus Fantasy, Abenteuer und Erwachsenwerden, angereichert mit sympathischen, stimmigen Charakteren, vielen originellen Ideen und gewürzt mit einer Prise Humor. Zwar scheint dieser erste Band der Trilogie in sich abgeschlossen, der Titel des zweiten Bandes, der im Frühjahr 2006 erscheinen soll, trägt allerdings den Titel „Der König im König“ und legt damit die Vermutung nahe, dass es auch in diesem Teil wieder um die beiden Brüder gehen wird. Der dritte Band ist bereits für Herbst 2006 geplant.

Ralf Isau, gebürtiger Berliner, war nach seinem Abitur und einer kaufmännischen Ausbildung zunächst als Programmierer tätig, ehe er 1988 zu Schreiben anfing. Aus seiner Feder stammen außer der Neschan-Trilogie und dem Kreis der Dämmerung unter anderem „Der Herr der Unruhe“, „Der silberne Sinn“, „Das Netz der Schattenspiele“ und „Das Museum der gestohlenen Erinnerungen“. In der Reihe Die Legenden von Phantásien ist von ihm „Die geheime Bibliothek des Thaddäus Tillmann Trutz“ erschienen, und diesen Monat ganz neu „Die Galerie der Lügen“.

Gebundene Ausgabe 638 Seiten
ISBN-13: 978-3-522-17745-0

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