John Barnes – Die Mutter aller Stürme

Wetterkapriolen für den Mega-Katastrophenroman

Offenbar verspürt jeder erfolgreiche SF-Autor einmal den unstillbaren Drang, einen richtig großen Roman zu schreiben, der dem Leser eine Krisen-Welt im Panorama zeigt. 1994 reiht sich auch John Barnes ein: „Was geschieht mit der Welt, wenn der Mensch eine natürliche Bombe – willentlich oder unwillentlich – zündet und die Gesetze der Chaostheorie auf die Folgen angewendet werden?“ Im Jahr 2028 löst eine Atomexplosion am Nordpol die Freisetzung der ozeanischen Methanvorräte aus. Diese verändern das Weltklima und die Meeresströmungen dramatisch. Gigantische Wirbelstürme machen die Küsten platt, und nach dem Versiegen des Golfstroms erlebt Europa eine Eiszeit.

Der Autor

John Barnes, geboren 1957 in Angola, Indiana, studierte Politik- und Theaterwissenschaft. Er verfasste viele Einträge für die „Oxford Encyclopedia of Theatre and Performance“. Er arbeitete mehrere Jahre als Systemanalytiker, bevor er 1985 seine erste SF-Erzählung veröffentlichte. Seitdem entstanden neben zahlreichen weiteren Stories und Essays mehr als zwanzig Romane, darunter zwei in Kooperation mit dem Astronauten Buzz Aldrin (der 2. Mensch auf dem Mond!). Dr. John Barnes lebt heute in Denver, Colorado.

Kurz gesagt: John Barnes gilt als einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der neunziger Jahre. Sein Roman „Eine Million offener Tore“ hat mir sehr gut gefallen. Dessen Fortsetzung trägt den Titel „Earth Made of Glass“.

Handlung

Im Jahr 2028 sind praktisch alle Menschen auf der Erde miteinander durch große Mediennetzwerke verbunden, z.T. sogar durch Implantate. So haben etwa 750 Mio. Leute zugeschaut, als ein Raumpilot über dem Nordpol vier Antimaterie-Raketen ins ewige Eis abfeuert – ein echtes Medienspektakel.

Dumm gelaufen

Das Nachspiel jedoch erweist sich auch für den Rest der Welt von erheblicher Tragweite: Die Explosionen setzen den unter dem Meeresboden und dem Eis liegenden Vorrat an Methan frei: rund 173 Mrd. Tonnen. Dadurch steigt innerhalb kürzester Zeit der Methangehalt der Atmosphäre auf das 35fache des Gehalts im Jahr 1996. Die unerbittliche Gesetze der Chemie fordern, dass sich die Atmosphäre und vor allem das Meer erwärmen. Dies wiederum lässt im Pazifik den größten Wirbelsturm entstehen, den die Welt gesehen hat: Er misst mehrere tausend Kilometer im Durchmesser und erreicht die doppelte Wucht der stärksten Orkane.

Verwüstung

Die Reaktion der Regierungen auf die Katastrophe ist erst einmal, die Zuständigkeit abzuklären, sich zu informieren und die Schuldfrage zu stellen. Die fast allmächtige UNO muss den schwachen USA noch ein paar Rechte abtreten, schon kann die Präsidentin auch wieder handeln.

Während der Super-Taifun mit dem Spitznamen „Clem“ Hawaii und zahlreiche US-Inseln plattmacht und laufend neue Ableger zeugt, die Mexiko und die Karibik verwüsten, wird die US-Bevölkerung in die Berge evakuiert. Dennoch kommt es durch Informationslecks zu einem globalen Aufstand, der zu enormen Verwüstungen führt. Hierin hat der aus dem Chaos geborene Orkan sein psychosoziales Gegenstück gefunden.

Mein Eindruck

Als guter Erzähler führt Barnes die Folgen der globalen Katastrophe anhand des Schicksals von Einzelpersonen vor Augen. Er hat für alle Figuren genügend Sympathie, um auch die abstoßendsten Charakterzüge verständlich erscheinen zu lassen. So ist beispielsweise der engste Berater der US-Präsidentin ein Mädchenschänder und -killer…

Viele Romanfiguren ändern sich, meist zum Besseren. Eine Pornoschauspielerin im Gefühlsmediennetz XV (die „Zuschauer“ erleben ihre Sexspiele live mit) etwa verliebt sich, steigt aus und engagiert sich für ihre Mitmenschen: eine soziale Führerin. Eine andere Frau wandelt sich von der radikalen Ökologin über eine sexhungrige Egoistin hin zur Medienberichterstatterin, die fähig ist, eine andere Frau wirklich zu lieben.

Transhuman

Interessantestes Experiment ist sicherlich die Expedition zu den äußeren Kometen, die schließlich zur Rettung der Welt führt. Astronaut Louis Tynan, in der Mondumlaufbahn stationiert, lässt sich experimentell mit kleinen intelligenten Nanorobotern aufrüsten. Sie schwimmen durch seine Blutbahnen, vermehren sich und steigern Tynans Intelligenz. Diese Entwicklung beschleunigt sich derart, dass ein Tag Erdzeit für ihn mehrere Jahre subjektiver Gehirnzeit bedeuten.

Um die Reise zu den Kometen zu beschleunigen, streift er seine menschliche Hülle ab. Tynan holt einen dieser kosmischen Schneebälle aus seiner Bahn und leitet ihn zur Erde um. Dort schneidet er mit seinen Robot-Gehilfen große Scheiben Schnees ab und wirft sie in die Atmosphäre, wo sie sich in Kristalle auflösen. Diese verdunkeln die Sonne, so dass sich das schon 34° warme Meereswasser (Badewannentemperatur!) abkühlen kann: der Sonnenschirmeffekt. Es dauert eine Weile, bis alle Orkane verschwinden, aber wenigstens gibt es eine Chance für Überlebende.

Klimawandel

Das Szenario des Klimawandels war bereits 1994 nicht allzu weit hergeholt. Immer wieder brechen heutzutage riesige Eisberge von den Antarktis-Gletschern ab – wegen der im Ozonloch erhöhten harten Sonneneinstrahlung. Der Treibhauseffekt setzt jedes Jahr 1 oder 2 cm mehr der Südseeinseln unter Wasser – wie lange noch, bis Holland absäuft? Auch die Hurrikane treten vermehrt und mit größerer Wucht auf. Barnes extrapoliert lediglich Bekanntes. Dabei stellt er beeindruckende Kenntnisse der Wettermechanismen unter Beweis.

Unterm Strich

„Mutter aller Stürme“ ist ein beeindruckender Roman, der stellenweise durchaus zu verblüffen und zu fesseln weiß. Das Problem aller Panorama-Romane kann auch Barnes nicht bewältigen: Der Leser muss kontinuierlich lesen, um den Überblick über das Personal und die Geschehnisse nicht zu verlieren. Eine deutlichere Möglichkeit zu deren Einordnung – Daten, Orte, Personen – hätte nicht geschadet. Larry Niven & Jerry Pournelle hatten dies in „Luzifers Hammer“ – immerhin 765 kleingedruckte Seiten lang – vorbildlich gelöst.

Auch in puncto Spannung könnte sich Barnes dort ein Stück abschneiden – es mangelt an Action. Ansonsten liefert „Mutter aller Stürme“ gute Unterhaltung, mit besagtem Lerneffekt, was die Chaostheorie anbelangt. John Brunner, der Autor des Dystopie-Klassikers „Morgenwelt“ (1969), hätte die Warnzeichen allerdings weitaus deutlicher aufgestellt.

Taschenbuch: 733 Seiten
Originaltitel: Mother of storms, 1994
Aus dem Englischen von Martin Gilbert
ISBN-13: 9783453109063

www.heyne.de

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