Buzz Aldrin / John Barnes – Begegnung mit Tiber

Mit Buzz Aldrin wagte sich wieder einmal ein Fachmann der bemannten Raumfahrt an einen SF-Roman – das kann ein Vor- oder ein Nachteil sein. Aldrin betrat nach Neil Armstrong als zweiter Mensch den Mond. Nach dieser Apollo-11-Mission promovierte er über Astronautik und gilt auch als Experte für Raumfahrtpolitik. Bereits auf den ersten Seiten merkt der Leser, dass hier jedes einzelne Detail, jeder Handgriff im Umgang mit einem Raumfahrzeug bekannt und belegbar ist. Man kann sich beruhigt zurücklehnen und genießen, wenn man ein Technikfan ist. Andere Leser dürfte eher anöden, wenn sich der Experte seitenlang über eine Unzahl von Raumfahrzeugen und Flugmanöver auslässt.

John Barnes gilt als einer der wichtigsten Science-Fiction-Autoren der neunziger Jahre. Seine Romane, wie zum Beispiel „Eine Million offener Tore“, fanden bereits eine begeisterte Leserschaft. Von ihm dürften die geschickte Handlungsstruktur, die Aliens und stilistische Feinheiten stammen.

Handlung

Wie in einer Zwiebelschale sind die Handlungsebenen angeordnet. Ebene 1 spielt in der fernen Zukunft, nämlich 2069-2082. Am 20. Juli 2069 – auf den Tag genau 100 Jahre nach der ersten Mondlandung – startet das Raumschiff |Tenacity| (engl.: Hartnäckigkeit) in Richtung Alpha Centauri, eine Reise von 4,3 Lichtjahren. Unter den 30 Personen an Bord befindet sich auch die Historikerin Clio (die Muse der Geschichtsschreibung) Trigorin, Tochter eines Amerikaners und einer Russin, beides Astronauten. Im Laufe der 12-jährigen Reise beschäftigt sie sich mit den alten Quellen, die dem Leser erklären, wie es zu dieser Expedition kam.

Rückblende auf Ebene 2, die nahe Zukunft: Anfang des 21. Jahrhunderts ist das Interesse an der Raumfahrt auf einem Tiefpunkt angelangt. Die nationalen Behörden wie die NASA sind von Geldnöten geplagt. Hinzu kommt die Katastrophe des abgestürzten Space Shuttles Endeavour, die das Projekt der internationalen Raumstation fasst scheitern lässt. Das ändert sich schlagartig, als die Besatzung eben dieser Raumstation Funksignale einer außerirdischen Zivilisation auffängt. Man stellt schnell fest, dass die „Tiberianer“, wie die Aliens getauft werden, den Menschen in der technischen Entwicklung weit voraus sind. Ihre Nachricht weist auf zwei Datenbanken hin, von denen sich eine auf dem Mond, die andere auf dem Mars befindet – eine Art Schnitzeljagd?

Der Versuch, die erste Enzyklopädie in der Südpolregion des Mondes zu bergen, endet jedoch in einem Fiasko. Jetzt setzt man auf der Erde alles daran, den zweiten Speicher auf dem Mars zu finden – und hat im Jahr 2035 Erfolg. Die Datenbank enthält nicht nur technische Pläne, die der Raumfahrt (und der Technik auf der Welt allgemein) einen großen Aufschwung verleihen, sondern auch die Geschichte der Tiberianer selbst sowie ihrer Expeditionen – dies ist die dritte Handlungsebene.

Als sie merkten, dass ihr Planet durch eine kosmische Katastrophe bald zerstört werden würde, schwärmten die Tiberianer (die von einem patriotischen Römer so genannt worden waren) mit ihren Schiffen in alle Richtungen aus, um geeignete Planeten für neuen Siedlungsraum zu finden. Dabei landeten sie auch auf der Erde – vor fast 10.000 Jahren, etwa im Jahr 7300 v. Chr.

Die erste Expedition wird von einem kleinen Kreis durchgeführt, der genau charakterisiert wird, so dass es dem Leser leicht fällt, sich in die Crewmitglieder einzufühlen – diese Aliens sind sehr menschlich. Ebenso wie ihre Technik: Computer zum Beispiel spielen eine wichtige Rolle. (Das Einzige, was fehlt, ist eine Windows-Oberfläche.) Die Aliens haben ein Rassenproblem: Ähnlich wie Weiße und Schwarze in den USA keine Mischehen eingehen sollten, ohne dafür geächtet zu werden, so sollten Palathier, die herrschende Rasse, sich nicht mit Shulathiern, den Schwächeren, einlassen. Hinzukommt Sexismus: ein shulathische Frau in einer Mischverbindung wird lediglich als Schlampe betrachtet, im umgekehrten Fall – shulathischer Mann – wird jedoch Hass erzeugt, denn die palathische Frau „erniedrigt sich“. Das Rassenmotiv spielt beim Aufenthalt auf der Erde eine große Rolle.

Finale

Die Expedition endet in einer Kette von Katastrophen: Durch den Rassenhass provozierter Streit führt zum Tod eines angesehenen weisen alten Mannes. Die gelandete Crew übernimmt die brutale Herrschaft über ein vorderasiatisches (assyrisches?) Volk und führt sich als Götterpantheon auf. Leider werden sie durch Eiweißunverträglichkeit und Viren krank, was sich die Einheimischen zunutze machen: Sie überwältigen die Crew im Handstreich, töten den Stärksten unter den Aliens und versklaven den Rest. Die Frauen müssen als Zuchtmaterial dienen, die Männer als Lehrer, um durch ihr Wissen die Herrschaft des Königs zu unterstützen. Erst als eine zweite Expedition diesem Zustand ein Ende macht, können die Tiberianer die Erde wieder verlassen. Sie beginnen, den Mars zu „tiberformen“.

Die Mars-Enzyklopädie enthüllt diese Geschichte, doch verrät sie weder das Ende der Mars-Kolonie (das wird 2035 enträtselt) noch erzählt sie von den anderen von Tiber besiedelten Welten. Erst als Clio Trigorin auf Tiber landet, erkennt sie die Wahrheit – eine Überraschung und ein neuer Anfang.

Unterm Strich

„Begegnung mit Tiber“ ist eine Chronik im doppelten Sinne: Neben der Chronik der gescheiterten Kolonisierung von Erde und Mars durch die Tiberianer besticht das Buch vor allem durch die stets an der heutigen Realität orientierte Vision von der Entwicklung der irdischen Raumfahrt in naher Zukunft. Die Beschreibungen der verschiedenen Expeditionen versteigen sich nie ins Phantastische – Barnes und vor allem Aldrin bleiben immer auf dem Teppich, gottlob! Allerdings wird hier aus einem amerikanisch-patriotischen Blickwinkel berichtet und gewertet. Nicht nur die Namen der Schiffe – Collins, Aldrin (!) usw. -, auch die Abflug- und Ankunftsdaten feiern das amerikanische Raumfahrtprogramm, besonders den 20. Juli 1969.

Die Tiberianer sind richtig sympathisch – was bei ihrer Menschenähnlichkeit nicht schwer ist. Sie haben sogar einen Politischen Offizier à la Sowjetkommunismus. Ihre Ankunft auf der Erde – so suggeriert es das Autorenteam – ist verantwortlich für die Sintflut, die Licht- und Feuersäulen, die ihr vorausgingen (Genesis), und die Sagen von Göttern (Buch Hesekiel). Der Politische Offizier hat es schwer, die Einheimischen „umzuerziehen“ – er ist schlicht verblendet. Die amerikanischen Autoren schieben ihm denn auch – weltfremd und technikfeindlich, wie er ist – die Schuld an einer sträflich aufgeschobenen Reparatur zu. Die Folge: Sein Schiff stürzt in die Atmosphäre der Erde und explodiert. Daher, so ist zu schließen, sollte man die Leitung der Welt in die Hände von Ingenieuren und anderen Fachleuten legen. Q.e.d. – was im Roman zu beweisen war.

Taschenbuch: 895 Seiten
Originaltitel: Encounter with Tiber, 1996
Aus dem US-Englischen von Irene Holicki
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