John Boyne – Haus der Geister

Das geschieht:

Im Winter des Jahres 1867 verliert die Lehrerin Eliza Caine mit ihrem Vater das letzte Familienmitglied. Die junge Frau beschließt einen radikalen Neubeginn und verlässt London, um eine Stellung als Gouvernante auf Gaudlin Hall in der Grafschaft Norfolk anzutreten.

Dort angekommen muss Eliza feststellen, dass sie mit der zwölfjährigen Isabella und ihrem achtjährigen Bruder Eustace allein in dem großen, verfallenden Haus leben soll. Gaudlin Hall steht in einem bösen Ruf, seit hier Santina, die Mutter der beiden Kinder, erst den Verstand verloren, wenig später eine Gouvernante erschlagen und schließlich ihren Gatten James Westerley so verstümmelt hat, dass er seitdem als grässlich anzuschauender Pflegefall bettlägerig vor sich hin vegetiert.

Besorgniserregender findet Eliza allerdings die Tatsache, dass sie in dem einen Jahr, das seither verging, bereits die sechste Gouvernante auf Gaudlin Hall ist: Ihre Vorgängerinnen sind bei zum Teil bizarren ‚Unfällen‘ ums Leben gekommen, Nr. 5 hat kurzerhand die Flucht ergriffen. Es dauert nicht lange, bis Eliza die Ursache entdeckt: Im Haus geht es um!

Offensichtlich will die krankhaft auf die Kinder fixierte Santina auch nach ihrem Tod am Galgen nicht auf die Mutterrolle verzichten. Konkurrenz durch Gouvernanten duldet sie nicht. Auch Eliza kommt bei diversen Zwischenfällen nur zufällig und verletzt mit dem Leben davon. Aufgeben will sie jedoch wegen der Kinder nicht. Während Isabella keine Probleme mit dem Geist der Mutter hat, leidet Eustace unter der Situation.

Ihr Pflichtbewusstsein kommt Eliza teuer zu stehen. Auf Hilfe von außen darf sie nicht hoffen, denn an Geister mag niemand glauben. Immer heftiger werden Santinas Attacken. Dann taucht ein zweiter Geist auf, der ihr Paroli bietet und Eliza schützt, was den Zorn der Hausherrin erst richtig anstachelt …

Die Erschaffung eines Geistes

Ein Geist ist nach uralter Überlieferung ein substanzloses Wesen, das quasi die Projektion eines Verstorbenen darstellt. Nach den Regeln der meisten Religionen bedeutet der Tod den Übergang der unsterblichen Seele ins Jenseits. Allerdings kommt es vor, dass dieser Transit missglückt, weil besagte Seele bzw. deren Eigentümer abgelenkt ist: Sie hat im Leben etwas unerledigt hinterlassen, was sie so stark beschäftigt, dass sie im Diesseits ‚hängenbleibt‘. Da sie ihre irdische Hülle abgestreift hat, gehört diese Person nicht mehr in diese Welt, auf der sie deshalb selbst unter ehemaligen Familienangehörigen und Freunden Angst und Schrecken hervorruft.

Zu allem Überfluss pflegen Geister sich weder deutlich auszudrücken noch zielorientiert zu handeln. Stattdessen spuken sie eher planlos umher und setzen die ratlose Nachwelt unter Druck, bis endlich jemand den Kontakt aufnehmen kann und feststellt, was der Geist eigentlich will. Wird seiner Forderung Folge geleistet, verschwindet er endlich zufrieden im Jenseits, und es wird ruhig im heimgesuchten Haus.

Schlimmer sind Geister mit Rachegedanken. Sie kleben förmlich an ihrer Wut und an dem Ort ihres Spukens, denn hier können sie sich rächen, wobei sie keineswegs differenzieren: Nicht selten sind die ursprünglichen Übeltäter und Verursacher ihres Leidens längst tot. Nun richtet sich ihr Zorn gegen deren Nachfahren oder allgemein gegen Pechvögel, die es in ihr Heim verschlägt. Gegen diese Geister ist mit guten Worten nichts auszurichten. Sie müssen buchstäblich ausgetrieben werden, was mühsam und selten ungefährlich ist.

Santina Westerley ist der Archetypus eines bösen Geistes. Nicht nur in diesem Punkt hält sich Autor John Boyne exakt an das Vorbild der klassischen Gruselliteratur. Allerdings lässt er ein Spuk-Motiv einfließen, das zeitgenössische Schriftsteller ganz sicher nicht in Worte gefasst hätten: Santina ist ein gebranntes Kind, das sowohl vom Vater als auch vom Onkel missbraucht wurde. Die nie aufgearbeiteten und aufgestauten Ängste kehrten zurück, als sie selbst Mutter wurde und die Kinder um jeden Preis vor ihrem Schicksal bewahren wollte. Da die überforderte Umgebung darauf keine Rücksicht nahm, verfiel Santina einem Wahnsinn, der auch den Tod überdauerte.

Böse Geister der Gesellschaft

Boyne legt mehr als das reine Pastiche einer klassischen Geistergeschichte vor, wie sie auch Charles Dickens – dem er einen Gastauftritt gewährt – geschrieben haben könnte. Für einen Schriftsteller seines Talentes wäre eine Nachschöpfung wohl auch eine zu geringe Herausforderung bzw. eine überflüssige Mühe. Stattdessen webt Boyne immer wieder Gedankengut ein, das man in der viktorianischen (Unterhaltungs-) Literatur eher selten fand, um auf diese Weise Brüche und Verwerfungen einer Gesellschaft zu betonen, die durch soziale Ungerechtigkeiten und emotionale Unterdrückung geprägt und dadurch förmlich eine Brutstätte für unzufriedene Geister war.

Zwar ist Eliza Caine keine frühe Streiterin für das Frauenrecht. Doch sie wird sich ihrer allein durch ihr Geschlecht unverdient unterprivilegierten Position mehrfach und zunehmend stärker bewusst: Eliza ist intelligent und ehrgeizig, doch mit der Stellung einer Grundschullehrerin hat sie bereits erreicht, was eine patriarchalisch geprägte Gesellschaft ihr außerhalb des Dreiecks Kinder – Küche – Kirche zuzugestehen bereit ist. Auch im Detail wird Eliza bevormundet. Um sie nicht durch ‚schreckliche Dinge‘ unziemlich aufzuregen, verschweigt ihr Anwalt Ransin einfach, was auf Gaudlin Hall vorgefallen ist, und lässt Eliza dadurch ebenso in Santinas offenes Messer laufen wie ihre unglücklichen Vorgängerinnen.

Auch sonst behandeln die Männer, mit denen Eliza es zu tun bekommt – der Pfarrer, der Dorfarzt, selbst Heckling, der Kutscher und Hausdiener – sie wie ein minderbemitteltes Kind. Echte Hilfe kann sie nicht erwarten, ihre offen geäußerte Meinung, deutliche Nachfragen oder Wutausbrüche werden schockiert als „typisch weibliche“ Hysterie, Unverschämtheit oder latente Gotteslästerung gewertet. Eliza begreift, dass sie sogar Glück gehabt hat. Wenigstens ein liebevolles Elternhaus mit einem verständnisvollen Vater war ihr vergönnt, weshalb sie sich nicht kampf- und widerspruchslos auf ihren Platz zurücktreiben lässt: eine echte Stärke in einer Welt, in der sogar die meisten Frauen freiwillig weil von seiner Rechtmäßigkeit überzeugt auf den Status quo pochen!

Unschuld und Verworfenheit

Den Kontrast zur durch einschlägige Erfahrungen verdorbenen Welt der ‚Erwachsenen‘ bildet traditionell der kleine Kosmos der ‚unschuldigen‘ Kinder. Umso stärker ist die Betroffenheit, wenn das Böse genau hier nistet – ein Stilmittel, dessen sich Schriftsteller immer wieder bedien(t)en. Boyne beruft sich hier nicht auf Dickens, sondern auf Henry James (1843-1916) und dessen Meisterwerk „The Turning of the Screw“ (1898, dt. „Das Durchdrehen der Schraube“), obwohl James seine Gespenster deutlich subtiler spuken ließ.

Kinder lassen sich leichter manipulieren als Erwachsene. Deshalb sind Isabella und Eustace dem Geist der Mutter naturgemäß ausgeliefert. Eliza drängt sich zwischen sie und wird dadurch zum gemeinsamen Gegner – eine Konstellation, die sie nicht völlig durchschaut, was zu einer bösen Überraschung nach dem zwar dramatischen aber vorgeblich glücklichen Finale führt.

„Haus der Geister“ bietet in der Tat „Eine unheimlich gute Geistergeschichte“, wie es auf dem Cover heißt. Mehr ist dem Verfasser freilich nicht gelungen, auch wenn er es sichtlich versucht hat. Dem Roman fehlt es an innerer Struktur. Die Einführung zieht sich, das Gewicht verlagert sich allzu zentral auf Eliza Caine, deren Lebensgeschichte später beinahe störend von der „Ghost Story“ übernommen wird. Boyne kann sich nicht wirklich zwischen gesellschaftskritischem Frauenbild und Spuk entscheiden. Vor allem im Mittelteil beschränkt sich Santina auf gelegentliche Kopfnüsse aus dem Hintergrund, um nicht in Vergessenheit zu geraten.

Alles, was unheimlich sein könnte

Zudem ist das Geistertreiben alles anderes als subtil. Kaum ist Eliza auf Gaudlin Hall eingetroffen, wird sie unsichtbar aber recht handfest in die Mangel genommen. Es besteht nie ein Zweifel, dass es hier umgeht, weshalb der Unglauben der Anrainer wenig glaubhaft wirkt: Wieso hat Santina beispielsweise nicht das Ehepaar Raisin bespukt, als es die Kinder kurzfristig unter ihre Fittiche nahm? Das große Finale als Konfrontation jetzt zweier Geister, die fauchend wie raufende Katzen durch Gaudlin Hall rollen und dabei die morschen Wände eindrücken, sorgt gleichfalls für Stirnrunzeln. Es kommt allzu plötzlich und heftig über die Leser und straft den sorgfältigen Spannungsaufbau Lügen.

Boyne verzichtet auf Überraschungen. Nie besteht ein Zweifel an der Identität des Spuks. Auch die ‚Erklärung‘ für Santinas Zorn wird in die Welt gesetzt und bleibt ohne Differenzierung. Wer hinter Geist Nr. 2 steckt, ist ebenso klar. Reiner Grusel-Effekt bleibt die Figur des James Westerley, der einfach nur scheußlich anzusehen sein soll.

Das simple Geschehen wird in etwa durch die Kunstfertigkeit ausgeglichen, mit der Boyne die typische „Ghost-Story“-Atmosphäre aufleben lässt. Auch hier regiert im Grunde das Klischee, das jedoch der Leser liebt, wenn es ihm gut präsentiert wird. Nebel, Regen, Nacht, verwunschene Kirchen, Friedhöfe, Geheimgänge: Das gesamte Arsenal des Grusels wird aufgefahren und zum Einsatz gebracht.

So liegt zwar ausgerechnet die altehrwürdige „Times“ falsch, wenn sie „Haus der Geister“ so beurteilt: „Boyne zündet ein Feuerwerk. Grandios!“. Das ist nichtssagende Werbung, die stets das Optimale behauptet. Stattdessen ist „Haus der Geister“ ein Potpourri klassischer bzw. bewährter Elemente des Horrors, die mit einigen ‚modernen‘ Einsprengseln für die Gegenwart tauglich gemacht wurden.

Autor

John Boyne, geboren am 30. April 1971 im irischen Dublin, studierte Englische Literatur am Trinity College ebendort sowie Kreatives Schreiben an der University of East Anglia in Norwich.

Schon früh folgten erste Veröffentlichungen, wobei Boyne sich zunächst auf Kurzgeschichten konzentrierte, die in zahlreichen Magazinen und Story-Sammlungen erschienen und mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet wurden.

2000 erschien mit „The Thief of Time“ ein erster Roman, dem in rascher Folge mindestens ein neues Werk pro Jahr folgte. Boyne ist weder auf Genres noch auf ein Zielpublikum festgelegt. Viele seiner Romane richten sich an ein jugendliches Publikum, das er unterhält, ohne sich ihm anzubiedern.

Auch sein bisher erfolgreichstes Buch entstand ursprünglich für jüngere Leser. „The Boy In The Striped Pyjamas“ (2006; dt. „Der Junge im gestreiften Pyjama“) schildert eine tragische Freundschaft im Deutschland des Dritten Reiches. Es wurde in 47 Sprachen übersetzt, wiederum mehrfach ausgezeichnet und 2008 verfilmt. John Boyne lebt weiterhin in Dublin.

Paperback: 333 Seiten
Originaltitel: This House Is Haunted (London : Doubleday 2013)
Übersetzung: Sonja Finck
www.www.piper.de
www.johnboyne.com

eBook: 1276 KB
ISBN-13: 978-3-492-96779-2
http://www.www.piper.de

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