Abraham Merritt – Der Drachenspiegel (Gruselkabinett 110)

Durch die Pforte zur Geliebten: Abenteuer & Horror

New York City 1905: Ist der Spiegel mit dem ausgefallen gestalteten Rahmen aus Jade-Drachen mit Rubin-Augen, den der abenteuerlustige Millionär James Hemdon aus einem Geheimraum in einem Palast in der verbotenen Stadt in Peking geraubt hat, wirklich das Tor zu einer anderen Welt…?

Der Verlag empfiehlt das Hörspiel ab 14 Jahren.

Der Autor

Abraham Merritt lebte von 1884 bis 1943 und war als Journalist, Chefredakteur von „The American Weekly“, Immobilienmakler und Schriftsteller tätig. Er verfasste vor allem Fantasy, obwohl er auch SF-Leser und -Autoren stark beeinflusste. Wegen seines Berufs war er sehr beschäftigt, was seinen Ausstoß nicht besonders groß werden ließ. 1917 erschien seine erste Story, 1918 mit „The Moon Pool“ sein erster Roman. Dieser enthielt bereits die Merritt-Standardingredienzien der Aliens und der „Lost Race“, die irgendwo auf unserer Erde im Verborgenen überlebt hat – ähnlich wie King Kong. „The Metal Monster“ (1920) beschreibt ein fremdes Kollektivwesen aus Metallteilchen. „The Face in the Abyss“ erschien zuerst 1923 in „Argosy“ und wurde 1930 um den Teil „The Snake Mother“ erweitert, so dass es 1931 als Fix-up-Novel erscheinen konnte.

Weitere Werke: „The Ship of Ishtar“ (1924/26), „7 Footprints to Satan“ (1928, verfilmt), „The Dwellers in the Mirage“ (1932; dt. bei S. Fischer), „Burn Witch Burn!“ (1932/33), „Creep, Shadow!“ (1934, verfilmt), „The Fox Woman and Other Stories“ (Collection, 1949).

Merritts Einfluss rührte weniger von seinen unoriginellen Handlungsverläufen oder seinem überbordenden Stil her als vielmehr von der wirklich originären Kraft, mit der er sich alternative Welten und Realitäten vorstellen konnte. Sam Moskowitz: „Merritt war das überragende Fantasy-Genie seiner Zeit“ („Explorers of the Infinite, Kap. 12, 1963).

Nichtsdestotrotz war Merritts Prosa wortreich und gefühlsbetont. Wiederholt benutzte er das romantische Frauenbild der Viktorianer (für die eine Frau entweder Jungfrau oder Teufelin war) in den schönen, doch bösartigen Priesterinnen, die bei ihm auftauchen. In seiner Zeit, der Great Depression, drückte er die eskapistische Sehnsucht nach Andersartigkeit und Geheimnissen mit einer emotionalen Kraft aus wie kaum ein anderer.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Peter Lontzek: James Hemdon
Claus Thull-Emden: Mr. Ward
Stephanie Kellner: Santhu
Jürgen Thormann: Rak
Louis Friedemann Thiele: Martin
Benedikt Weber: Wu-Sing

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden bei Titania Medien Studio, Planet Earth Studios und im Fluxx Tonstudio statt.

Handlung

Der merkwürdige Fall beginnt am 12. Februar 1905. Martin, ein Angestellter des Millionärs James Hemdon, ruft bei Mr. Ward an, einem engen Freund Hemdons. Sein Dienstherr sei seit letzter Nacht spurlos verschwunden! Ward eilt sofort an den Ort, an dem sein Freund Jim zuletzt gesehen wurde: das feudale Schlafzimmer, in dem die Laken noch nicht benutzt wurden und die Kleidung immer noch ordentlich daliegt. Die Polizei war natürlich schon da, fand aber nichts. Eine Lösegeldforderung liegt auch nicht vor, so dass eine Entführung wenig wahrscheinlich ist.

Lediglich der große chinesische Spiegel, den Hemdon aus der Verbotenen Stadt in Peking mitgebracht hatte, steht noch wie immer da. Ward bittet Martin, eine Nacht in diesem Gemach verbringen zu dürfen. Der Diener gestattet es ihm gerne. Ward schläft wie ein Murmeltier, bis ihn heftiges Klopfen an der Tür weckt: Der Herr sei wieder zurückgekehrt.

Doch in welchem Zustand sich Hemdon befindet! Der Arzt behandelt gerade sieben lange blutige Kratzer, die sich den Rücken von Wards Freund hinunterziehen. Eine seidenes Gewand, das der „Ausreißer“ getragen hat, weist ebenso sieben Risse auf dem Rücken auf. Welchem Monster hat er wohl diese Wunden zu verdanken, wundert sich Ward. Hemdon ist keineswegs weggetreten, sondern im Gegenteil hellwach. Er nimmt ein Gewehr aus seinem Waffenschrank, um sich zu bewaffnen. Bloß – gegen wen?

Gegen den Drachenspiegel in seinem Schlafzimmer. Ward ist befremdet, aber noch mehr wundert er sich, als ihn Hemdon vor dem mannshohen, reich mit grünen Drachen verzierten Jaderahmen postiert und ihn auffordert, sich auf sein Spiegelbild zu konzentrieren. Plötzlich keucht Ward auf: Das Bild hat sich bewegt! Er schaut in eine fremde Welt mit einem fliederfarbenen Himmel, über den sieben Monde ziehen – über einen pyramidenförmigen Berg, an dessen Fuß eine elfenbeinfarbene Stadt liegt. Als eine Klaue mit sieben Krallen am Rand auftaucht, wirft Hemdon einen schweren Vorhang über den Spiegel. „Was hat das zu bedeuten?“ will Ward wissen.

Endlich erzählt ihm Hemdon von dieser Welt, der Geliebten, die dort auf ihn wartet, von dem bösen Zauberer, der ihn vertrieben hat – und von dem Drachen, der auf ihn am Durchgang lauert. Ein Durchgang – wohin?

Mein Eindruck

Die abenteuerliche Geschichte verarbeitet den Mythos vom Garten Eden, in dem bekanntlich die Schlange des Widersachers lauert. Aber es gibt weit und breit keinen Baum der Erkenntnis, vielmehr nähert sich Hemdon bei seinem Besuch in der Welt, die der Zauberer Rak schuf, einem paradiesischen Zustand des Einsseins mit seiner Geliebten, der schönen Santhu. Rak indes ist eine Luzifergestalt, ein gefallener Engel und Wunderwirker, der zur Strafe für seine Überheblichkeit von der Obergottheit verbannt wurde.

Doch Rak hat heimlich seine eigene Welt geschaffen, und die ist mit Abstand das Interessante an dieser klischeereichen Geschichte. Hier hat der Autor nämlich etliche Ideen der Philosophie und Theologie verarbeitet. Dass der Satan über die Welt herrscht, ist der Grundgedanke der Gnosis, eine als ketzerisch geächteten Richtung des Christentums. (Die bedeutendsten Anhänger der Gnosis, die Katharer in Südfrankreich, wurden vom Papst in einem „Kreuzzug“ blutig ausgerottet.)

Die Welt des Widersachers

Dieser Satan ist indes schön wie Apoll, der Sonnengott, betont der Erzähler zweimal. Er ist Verführer, Erschaffer und Zerstörer in einem. Er verführt, um immer weitere Seelen in sein Reich zu locken und es zu bevölkern. Was er davon hat, bleibt unklar, aber jeder Übertritt dürfte dem Obergott einen Stich versetzen. Letzten Endes geht es nämlich um Seelen: Die fremde Welt, das in eine Verkörperung der Hölle. Hier verbrennen die Körper der Seelen regelmäßig, um dann in neuer Gestalt wieder aufzutauchen. Aber: Beim letzten Mal verirrte sich Hemdons Seele in unsere, (gemäß Gnosis) gefallene Welt. Deshalb ist es ihm bei seiner Rückkehr, als gelange er endlich in die eigentliche Heimat seiner Seele – und in die Arme seiner Santhu.

Das ist also ein recht interessanter, wenn auch aus dem Alten Testament reich gut bekannter Entwurf. Indem er diese Welt garniert mit Ideen aus John Miltons Versepos „Paradise Lost“ und aus der Gnosis, verlegt sie der Autor in die mythische chinesische Vergangenheit. Doch die Geschichte von Rak, dem Zauberer, ist selbst noch Wu-Sing bekannt, dem chinesischen Diener an Bord von Hemdons Yacht.

Der Fluch

Hemdon hat mit Martin den Drachenspiegel aus der Verbotenen Stadt geraubt, nachdem der Boxer-Aufstand anno 1900 von den westlichen Besatzungsmächten, besonders von den Deutschen, blutig niedergeschlagen worden war. Die Geschichte des Spiegels ist also mit Gewalt und Verbrechen verknüpft. Kein Wunder, dass Wu-Sing seinen Dienstherrn eindringlich warnt, den Spiegel nach Amerika zu bringen. Er gehört rechtmäßig nach China. Sein Raub ist ein weiteres Symbol für den westlichen Imperialismus.

Wu-Sing warnt vergebens, wie man weiß. Auf dem Spiegel liegt nach Wu-Sings Überzeugung ein uralter Fluch, doch Hemdon entdeckt den vermeintlichen Segen, der in der anderen Welt auf ihn wartet. In dieser Zweideutigkeit liegt die Natur des Drachenspiegels begründet: Er ist das Symbol für Gut und Böse in der Seele des Menschen. Dieser Aspekt lässt sich aber, wie angedeutet, auch ganz konkret auf die Lage in China anwenden. (Mehr Infos zum Boxer-Aufstand anno 1900 in der Wikipedia.)

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Inszenierung ist angemessen dramatisch und voller Wendungen. Diese folgen allerdings stets dem gleichen Muster, das der Kenner von Merritt kennt: Abenteurer mit seelischem Manko verirrt sich in die Welt eines Mythos oder eines Zauberers, lernt die Liebe seines Lebens kennen und wird dafür von einer Vaterfigur bestraft und verfolgt. Soweit, so schlecht: Es ist die Queste des helden, wie Joseph Campbell sie skizziert hat. Ewas noch fehlt: Der jugendliche Held erschlägt à la Ödipus den Vater und reitet mit seiner Liebsten in den Sonnenuntergang. Dass Ödipus stattdessen mit seiner Mutter schläft, ist ein fieser Trick der antiken Tragödien-Autoren.

Die Sprecher

Die Sprecher tun so, als hätten sie noch nie von Indiana Jones und „Stargate“ gehört, aber ist völlig in Ordnung. Denn nur so können sie echte Gefühle der Verwunderung und des Schreckens ausdrücken, ohne lächerlich oder gar peinlich zu wirken. Immerhin sollen sich ihre Figuren ja im Jahre 1905 befinden.

Peter Lontzek trägt die Hauptlast der Darstellung. Sein James Hemdon ist der Abenteurer, der jedoch nicht Indy nacheifert, sondern der die Heimat seiner Seele in der Ferne sucht – ein Hans-guck-in-die-Luft auf einer Queste um die Geliebte. Claus Thull-Emden ist sein warnender, wohlmeinender und sehr häufig Bauklötze staunender Freund, ein treuer Samweis Gamdschie für diesen Frodo.

Jürgen Thormann verkörpert seinen bösen Zauberer Rak mit Gusto und viel fiesem Gelächter. Das fand ich reichlich übertriebenes Kasperltheater. An einer Stelle sprechen Thormann und der Darsteller des Wu-Sing synchron – die Wirkung ist sehr verstörend, denn damit wird angezeigt, dass Rak den Geist des kleinen Chinesen für einige Minuten übernommen hat. Wie auch immer: Dafür ist Stephanie Kellner als sanfte, liebevolle Santhu umso bezaubernder.

Geräusche

Eine gute Geräuschkulisse ist für jedes Abenteuergarn von größter Bedeutung. Dementsprechend ausgefeilt ist die Vielfalt der eingesetzten Geräusche, aber vor allem der Klangeffekte. Das Titania Studio verfügt seit ein paar Jahren über ausgefeilte Soundtechnik, die einen kompletten Tonmeister ersetzt – nur die Abmischung von Ton und Dialog muss noch hundertprozentig hinhauen.

Klopfgeräusche, Telefonklingeln, Rufe, Gewehrklicken, das ist ja noch harmlos. Aber wie stellt man einen Drachen dar, der, anders als Smaug, nicht sprechen kann? Nun, das geflügelte Monster, das Hemdon jagt, faucht, brüllt und braust, das es eine wahre Pracht ist. Auch der Übergang selbst hat seinen eigenen Soundeffekt, ein splitterndes Krachen, das einem durch Mark und Bein geht. Hallgeräusche und Tonfilter runden die Effekteskala ab.

Musik

Eine klassische Instrumentierung gibt es hier nicht, aber dafür jede Menge Klänge und Soundeffekte aus dem Rechner. Mit diesen akustischen Mitteln lässt sich durchaus ein ganzes Hörspiel bestreiten. Die „Musik“ steuert die Emotionen des Zuhörers, beispielsweise durch sehr tiefe Bässe, die Furcht und Beklemmung auslösen.

An mehreren Stellen erklingt jedoch traditionelle chinesische Musik. Das erste Mal werden Flöten mit Gongs kombiniert, um die Fremdartigkeit von Raks Welt anzudeuten. Das zweite erklingen sanftere Gongs, ein Zupfinstrument à la Koto und etliche Flöten, die Hemdon einlullen.

Musik, Geräusche und Stimmen wurde so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Ertugrul Edirne fand ich diesmal passend und stimmungsvoll. Der längst verblichene Cover-Künstler Firuz Akin macht immer noch Werbung für sein Buch „Illustration“, das im Heider Verlag erschien.

Diesmal sind im Booklet Hinweise auf die nächsten Hörspiele zu finden:

Nr. 111: Poe: Die Grube und das Pendel
Nr. 112: Edith Nesbit: Der Ebenholzrahmen
Nr. 113: Amelia B. Edwards: War es eine Illusion?

Ab Herbst 2016

Nr. 114/115: Lovecraft: Der Ruf des Cthulhu 1+2
Nr. 116: R.E. Howard: Der schwarze Stein
Nr. 117: Ewige Jugend
Nr. 118/119: Verne: 20.000 Meilen unter dem Meer

Ab Frühjahr 2017:

Nr. 120/121: Wells: Der Unsichtbare
Nr. 122: Wells: Die Insel des Dr. Moreau
Nr. 123: Wells: Die Zeitmaschine
Nr. 124/125: Wells: Der Krieg der Welten


Unterm Strich

Viele der Fantasy- und Schauergeschichten Abraham Merritts faszinieren den Leser durch den Zauber der Exotik. Darin setzt er die Liebe der westlichen Kolonialimperien für den Orient, China und Afrika fort: Es ist eine weitere Art der Aneignung dieser Weltgegenden. Nahmen die Kolonialisten noch die physische Welt in Besitz, so tat es Merritt für seine Leser auf der Ebene der Imagination.

Wer würde nicht gerne eine sanfte, liebliche Geisha wie Santhu in die Arme schließen und sich von ihrem Duft in den Schlaf wiegen lassen? Der Weg zu ihr ist allerdings mit Sünden gepflastert, und dies zeigt die dunkle Seite solcher erotischen Phantasien. Zuerst raubt Hemdon den Spiegel aus der verbotenen Stadt, nachdem er sich an der Niederschlagung des Boxer-Aufstandes 1900 beteiligt hat. Es ist davon auszugehen, dass er mit seinem Gewehr jede Menge Chinesen umgelegt hat – genau wie damals die Deutschen.

Doch auf dem geraubten Spiegel liegt ein Fluch: Es ist das Tor zu einer Anderswelt, die ein abtrünniger, verbannter Chinese erschaffen hat. Weil Hemdon alle Warnungen in den Wind schlägt, wird er willentlich Opfer dieses Fluches. Beim ersten Besuch, der ihm die Gunst Santhus einbringt, kommt er noch mit dem Leben und ein paar Schrammen davon. Doch das hält ihn nicht vom zweiten Durchgang ab.

Der Zauber des Exotischen hat hier eindeutig religiöse Untertöne. Raks Welt ist der Garten Eden – geschaffen von einer Mischung aus Satan und Sonnengott. Dass entbehrt nicht einer gewissen Ironie, bietet aber dem kolonialen Eroberer Hemdon den willkommenen Anlass, es mit Rak und seinen Monstern noch einmal aufzunehmen. Anhand des weiteren Geschichtsverlaufs in China – oder anderen Kolonialländern – wissen wir, wie diese Sache in unserer Welt letzten Endes ausging. Wie sie für Hemdon ausgeht, darf hier nicht verraten werden.

Das Hörspiel

In mehreren Rückblenden führt uns die Handlung zurück in die großartigen, spannenden Abenteuer James Hemdons. Er ist Schatzjäger und sehnsuchtsvoller Träumer in einem, auf der Suche nach seiner Liebsten und in ewigem Kampf mit ihrem Wächter, dem Zauberer Rak. In dieser Hinsicht ähnelt die Geschichte dem Hörspiel „Das Feuer von Asshurbanipal“ (Gruselkabinett-Folge 77). Jenes ist aber sehr viel actionorientierter.

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und Stimmen von Hollywoodstars einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen.

Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling.

Audio-CD: 57 Minuten Spieldauer
Info: 1917, erweitert 1932
ISBN 978-3-7857-5253-1
www.titania-medien.de

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