Edmund Crispin – Mord vor der Premiere

Im englischen Kriegswinter 1940 kommt es unter den Mitgliedern einer ebenso verschworenen wie zerstrittenen Schauspielertruppe zu einigen Morden, die ein exzentrischer Oxford-Professor aufklären kann … – Erster der Gervase Fen-Thriller, die zu den letzten ‚echten‘ Vertretern des „Goldenen Zeitalters“ der angelsächsischen Kriminalliteratur gehören; ein inhaltlich vertracktes, stilistisch elegantes und verspieltes, an intelligenten Anspielungen reiches Meisterwerk.

Das geschieht:

Elf Personen reisen im Oktober 1940 mit dem Zug von London nach Oxford. Zwischen einem Professor für Englische Sprache und Literatur, einer sozialistisch angehauchten Theaterregisseurin, einem Dramatiker, drei Schauspielerinnen (von denen zwei auch Schwestern sind), dem Chief Constable von Oxford, einem Kirchenmusiker, einem verkrachten Studenten, einer mausgrauen Studentin und einem bekannten Journalisten scheint es nur marginale Gemeinsamkeiten zu geben. Doch binnen einer weiteren Woche kommen drei dieser elf Männer und Frauen auf gewaltsame Weise ums Leben.

Ausgerechnet eingangs erwähnter Professor ist es, der die Zusammenhänge zwischen den Morden und den Reisenden herstellt. Der Name Gervase Fen hat nicht nur in der Wissenschaft einen guten Klang. As Amateur-Detektiv konnte der etwas zerstreute Sprachforscher schon mehrfach auf sich aufmerksam machen. Dieses Mal erhält Fen Rückendeckung von einem alten Freund, Sir Richard Freeman, besagtem Polizeichef von Oxford.

Robert Warner, der Dramatiker, sieht in Oxford der Aufführung seines neuen Stückes entgegen. In der letzten Zeit hat er ein Pech gehabt, sodass er nun in der Theaterprovinz sein Heil suchen muss. Auch unter den Schauspielern gärt es. Besonders die wenig begabte aber sehr von sich eingenommene und allgemein verhasste Yseut Haskell sorgt für Aufregung. Angesichts ihrer ständigen Intrigen und notorischen Unzuverlässigkeit ist es vielleicht kein Wunder, dass sie einem wahrlich theatralischen Mordanschlag zum Opfer fällt. Die Schar der Verdächtigen ist überschaubar aber groß, und wie das so üblich ist bei einem Verbrechen unter lockeren Künstlern, ist es mit den Alibis nicht weit her.

Gervase Fen ist sich sicher, den Mörder bereits zu kennen. Nur an Beweisen fehlt es noch. Während der Professor und die Polizei eifrig ermitteln, ist der Mörder ebenso fieberhaft damit beschäftigt, seine Spuren zu verwischen. Deshalb kommt der zweite Mord für alle Beteiligten völlig überraschend …

Ein später König des Rätselkrimis

„Mord vor der Premiere“, das Debut des Kriminalschriftstellers Edmund Crispin, erschien noch während des Zweiten Weltkriegs. Der Alltag der Zivilbevölkerung fließt immer wieder und quasi nebenbei in die Handlung ein, die sich dadurch vom typischen britischen „Landhaus-Krimi“, der jeglicher Realität in der Regel enthoben ist, abhebt. Sogar ein Sexleben wird den Protagonisten behutsam zugebilligt: Agatha Christie hätte sich wahrscheinlich eher die Schreibhand abgehackt!

Natürlich wirkt „Mord vor der Premiere“ Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung trotzdem altmodisch. Das dürfte schon 1944 ähnlich gewesen sein. Man bedenke: Zu diesem Zeitpunkt hatten Raymond Chandler und Dashiell Hammett ihre wichtigsten, das Genre Kriminalroman entscheidend prägenden Werke bereits veröffentlicht! Der junge Nachwuchsautor wählte mit dem „Whodunit“ nicht nur eines der ältesten Krimi-Genres überhaupt, sondern trieb dessen Weltfremdheit mit voller Absicht auf die Spitze, ohne eine Parodie zu planen.

Als Debüt lieferte Crispin nicht nur eine achtbare, sondern eine vorzügliche Story, die ihn sogleich in die Reihen der britischen Thriller-Elite katapultierte. Dabei geht er auf Nummer sicher. Die Handlung ist als Kriminalrätsel konzipiert, die den Leser unterhalten und ihm nach und nach dieselben Wege zu einer Lösung eigen soll, die auch Gervase Fen entdeckt. Bis es dazu kommt, schlägt Crispin freilich manchen unerwarteten Haken. Wir erwarten es und freuen uns darüber. Als Bonus gibt es jenen spinnwebfeinen Unterton der Ironie, den in dieser scheinbaren Leichtigkeit offenbar nur die englischen Autoren beherrschen.

Theater, Theater …!

Die Figurenzeichnung passt sich dem Plot an. Selbstverständlich sind die Charaktere überzeichnet und angemessen skurril, wie wir es aus unzähligen britischen Komödien kennen. Nicht überraschend dürfte sein, dass gerade diese Künstlichkeit sie für den heutigen Leser so nostalgisch-lebendig wirken lässt. Da sich die Ereignisse in einem Theater abspielen, kann Crispin dem Thespis-Affen ordentlich Zucker geben: Bekanntlich sind Künstler lockere und exzentrische Zeitgenossen, die in Wort und Tat zu (theatralischen) Übertreibungen und Gefühlsausbrüchen neigen.

Die Figur des berühmten aber menschlich widerwärtigen Hauptdarstellers, den wenig betrauert des Mörders Instrument trifft, ist ein besonderes Klischee, das Crispin zwar mit Wonne einsetzt, dann aber plötzlich bricht: Die Handlung nimmt eine gänzlich unerwartete Fortsetzung, die Spannung steigt erneut. Der Autor hat noch Reserven, die er ins Feld führen kann.

Ansonsten geht es recht gemächlich zu in diesem Krimi; dem ehrwürdigen Schauplatz Oxford angemessen, möchte man meinen. Die Welt des Theaters, die auf mehr auf Schein als auf Sein, über Falltüren und unter künstlichen Himmeln aufgebaut ist, war immer sehr beliebt als Schauplatz literarischer Verbrechen. Die Kulissen sind übersichtlich, das Ensemble ist es auch, und so kann der Schriftsteller-Novize leichter die Übersicht behalten.

Der Kreis schließt sich klassisch

Des Rätsels Lösung ist angemessen vertrackt, sie wird standesgemäß vom Amateur-Detektiv im Beisein aller Verdächtigen präsentiert, während sich die Polizei bescheiden im Hintergrund hält, und endet in einer großen Verfolgungsjagd, die den Täter mit der Unterstützung eines auf dramatische Wirkung bedachten Schicksals der schnöden irdischen Gerechtigkeit enthebt.

Was einem weniger gewandten Schriftsteller zum plumpen Gottesurteil hätte gerinnen können, fügt sich bei Crispin harmonisch in die Handlung. Dies gilt auch für die zahlreichen Anspielungen und Zitate auf und aus der antiken und der englischen Literatur. Auch an diesem Subtext erkennt man die Krimi-Kunst einer vergangenen Epoche. Crispin war ein gelehrter Mann, ein wahrer „Oxford-Don“, der sein Wissen gern spielerisch einfließen ließ. Man kann diese akademischen Anwandlungen bei der Lektüre ignorieren – die Geschichte bleibt dennoch verständlich -, aber sie steigern natürlich das Vergnügen an diesem (endlich auch in Deutschland neu und ungekürzt übersetzten) Krimi-Klassiker!

Autor

Edmond Crispin (1921-1978), der eigentlich Robert Bruce Montgomery hieß, gehört trotz seines schmalen Werkes zu den großen Autoren des klassischen englischen Kriminalromans. Eigentlich war er Musiker; zunächst Organist und Chorleiter am St. Johns College in Oxford, wo er auch moderne Sprachen studiert hatte, später Komponist, der neben Oratorien, Orchesterstücken und einer Kinderoper 38 Filmmusiken schuf.

Zwischen 1944 und 1951 verfasste Montgomery/Crispin in rascher Folge acht Romane um den detektivisch begabten Professor Gervase Fen. Nach 1951 widmete sich Montgomery zunächst seiner musikalischen Laufbahn und später zunehmend dem Alkohol, bevor er nach 26 Jahren Fen noch einmal zurückkehren ließ, womit er ihm und den Lesern nach Ansicht der Literaturkritik keinen Dienst erwies. Zu diesem Zeitpunkt war Montgomery längst ein ausgebrannter, von Krankheit gezeichneter Mann. Er starb 1978.

Über Leben und Werk informiert u. a. diese Website.

Taschenbuch: 277 Seiten
Originaltitel: The Case of the Gilded Fly (London : Victor Gollancz 1944)/Obsequies at Oxford (Philadelphia – New York : J. B. Lippincott Co. 1945)
Übersetzung: Barbara Sibold
http://www.dumont-buchverlag.de/

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