Natasha Pulley – Der Uhrmacher in der Filigree Street

Bombenanschlag auf Scotland Yard

„Der Uhrmacher in der Filigree Street“ erzählt eine mitreißende, phantastische Geschichte um eine rätselhafte Uhr und einen ebenso spektakulären wie unmöglich aufzuklärenden Bombenanschlag auf Scotland Yard. Das Buch nimmt die Lesenden mit auf eine Reise durch das viktorianische England und das Japan des 19. Jahrhunderts und es eröffnet Türen in eine ganz andere, seltsame und magische Vergangenheit.“ (Verlagsinfo)

Die Autorin

Natasha Pulley, geboren 1988, studierte in Oxford Englische Literatur. Nach Stationen im Buchhandel und bei der Cambridge University Press in den Bereichen Astronomie und Mathematik setzte sie ihre Studien in Tokio fort. Sie erhielt ein Stipendium der Gladstone’s Library als Writer in Residence. Gegenwärtig hat sie Lehraufträge an den Universitäten von Bath und Cambridge. Ihr Debütroman „The Watchmaker of Filigree Street“ (2015) gewann den Betty Trask Award und wurde ein internationaler Bestseller. Die Autorin lebt in Bath, Großbritannien. (abgewandelte Verlagsinfo)

Romane

The Watchmaker of Filigree Street (2015)
The Bedlam Stacks (2017)
The Lost Future of Pepperharrow (2019)
The Kingdoms, 2021 (deutsch 2022 als „Der Leuchtturm an der Schwelle der Zeit“)

Handlung

Nathaniel Steepleton arbeitet als Telegrafist im britischen Innenministerium, London. Elf Stunden am Tag, sechs Tage die Woche, dennoch verdient er nur einen Hungerlohn. Früher war er mal Pianist, doch um seine verwitwete Schwester Annabel in Edinburgh zu ernähren, schickt er ihr die Hälfte seines Monatslohns. An Aufmucken gegen die seit vier Jahren erduldete Ausbeutung ist daher gar nicht zu denken.

Eines Tages im Herbst liegt eine goldene Taschenuhr auf seinem Bett, vermutlich ein Geschenk. Aber von wem? Da Thaniel Klänge als Farben wahrnimmt, scheint das Gold der Uhr, die sich seltsamerweise nicht öffnen lässt, rosa zu glühen. Das gefällt ihm und so behält er sie. Er beschließt, sie dem Kollegen, Superintendent Dolly Williamson, zu zeigen. Vielleicht weiß der mehr.

Die Dinge ändern sich, als die Regierung im November 1883 das Drohschreiben einer irischen Freiheitskämpfermiliz namens Clan na Gael erhält. Ein verheerender Bombenanschlag im Victoria-Bahnhof ist ein erster Warnschuss, auf den Premierminister Gladstone jedoch verachtungsvoll nicht reagiert. Bloß keine Angst zeigen! Trotz erhöhter Wachsamkeit geht ein weiteres Drohschreiben ein, das den nächsten Anschlag für den 30. Mai 1884, 21 Uhr ankündigt.

30. Mai 1884

Thaniel hat seine Schicht ohne Zwischenfall bewältigt. Er merkt, wie alle Mitarbeiter im Innenministerium jetzt, kurz vor neun Uhr abends, angespannt verharren. Doch nichts passiert, und der Aufseher schickt alle nach Hause, um der nächsten Schicht Platz zu machen. Natürlich geht Thaniel mit Dolly Williamson in den Pub „Rising Sun“, um einen zum Feierabend zu heben. Der Pub liegt ganz in der Nähe von Scotland Yard.

Um 21:30 Uhr beginnt sich die Taschenuhr zu öffnen und einen sirenenartigen Ton aus Thaniels Jacke von sich zu geben. Wie peinlich! Thaniel eilt hinaus und weicht dem Verkehr in eine Gasse aus. Das rettet ihm das Leben. Eine gewaltige Explosion zerfetzt das Gebäude des Yard, lässt alle Fensterscheiben bersten und fegt schwere Tische wie Spielzeug um. Als er wieder hören kann, ist er von Staub und Asche bedeckt, doch scheinbar unverletzt. Seinen Kollegen Dolly Williamson hat es jedenfalls so bös erwischt, dass er ins Krankenhaus muss.

Mr. K. Mori

Als ihm klar wird, dass ihm die Uhr das Leben gerettet hat, liest Thaniel den kleinen Zettel des Herstellers: K. Mori, Filigree Street 27, Knightsbridge. Er will sich irgendwie bedanken, aber auch herausfinden, wie dieses Wunder stattfinden konnte. K. Mori entpuppt sich nicht nur als ein freundlicher und BLONDER Engländer japanischer Herkunft, sondern entdeckt auch den Glassplitter in Thaniels Arm. Nach Reinigung und Behandlung der Wunde kommen sie bei einem Tässchen Tee ins Gespräch und beobachten Katsu, den mechanischen Oktopus von Mr. Mori, wie er über die Möbel wandert. In Moris Gästezimmer verbringt er die Nacht, in einem frischen Hemd und mit einem verbundenen Arm.

Verdächtig

Doch die Rückkehr ins Telegrafenamt hält eine Überraschung bereit. Dolly Williamson ist wieder auf dem Damm und befragt Thaniel nach Mr. Mori, dem Hersteller der Wundertaschenuhr. Da offensichtlich die Bombe, die Scotland Yard zerfetzte, mit einem Zeitzünder versehen gewesen sein muss, kommt der Uhrmacher Mori in den Kreis der Verdächtigen. Dolly gibt Thaniel den Auftrag, Mr. Mori auszuspionieren.

Thaniel unterdrückt seinen Widerwillen und begibt sich zu dem Experten, der den Zeitzünder der Yard-Bombe untersuchen soll: Mr. Spindle am Belgravia Square hat seine Werkstatt gar nicht weit von Mr. Mori eingerichtet. Er gibt eine erstaunliche Auskunft: In Thaniels Mori-Taschenuhr stecken Diamanten im Wert von 200 Pfund – ein fürstliches Vermögen. Was aber noch verdächtiger wirkt, ist die individuelle Legierung der Aufziehfedern: Die von Mr. Mori sind stets golden und schwarz, wie jeder Uhrmacher in London weiß. Genau wie in Thaniels Uhr.

Oxford, Mai 1884

Auch die Physikstudentin Grace Carrow hat eine solche goldene Taschenuhr geschenkt bekommen, allerdings kennt sie deren Herkunft: Ihr Bruder hat sie ihr geschenkt. Zusammen mit ihrem japanischen Studienkollegen Akira Matsumoto bewundert sie den Flug der metallischen Schwalbe auf dem Zifferblatt der Uhr. Akira, selbst ein Haiku-Dichter, fragt sie nach dem Hersteller. Da steht was von K. Mori. „Irgendein Italiener“, meint Grace, und Akira ist beruhigt.

Zusammen besuchen sie eine Kundgebung für das Frauenwahlrecht, die Grace nervtötend findet – und danach Akiras illegale Pokerrunde. Kurz darauf unternimmt Grace ein Experiment, um die Existenz von Äther nachzuweisen, und Akira assistiert ihr zuvorkommend und unvoreingenommen. Das Ergebnis entspricht indes nicht der Erwartung. Dieser Misserfolg verwehrt ihr den Zugang zu einem Stipendium, und sie muss Oxford verlassen.

London, Juni 1884

Ihr Vater, ein Politiker, will sie unbedingt an den Chef des Außenministeriums verheiraten, dabei hat sie doch mit Francis Fanshaw schon im Sandkasten gespielt und mit ihm Fische geangelt. Doch leider muss sie heiraten, um die Mitgift zu erhalten: das Haus ihrer Tante in Kensington. Und so kommt es, dass sie eine Einladung des Außenministeriums zu einem Partyabend mit den Botschaftern annimmt. Sie wirft sich in Schale, doch leider ist die Farbe des Kleides, Kolibrigrün, schon längst aus der Mode, und Akira Matsumoto nennt es herablassend ein „Desaster“. Das gilt übrigens auch für ihr kurzgeschnittenes Haar, wird Grace klar, und dass ihr als Physikerin Wissenschaft und Mathematik vertraut sind, scheint für Damen ihres Alters ungewöhnlich zu sein.

Während die Herren, darunter Francis Fanshaw, an einem Spieltisch Platz nehmen, schaut Grace einigermaßen verzweifelt nach einem halbwegs vernünftig aussehenden Mann Ausschau. Ihr suchender Blick fällt auf einen unscheinbaren Mitarbeiter des Außenministeriums, der einigermaßen fließend Japanisch mit den Botschaftsangehörigen Nippons parliert. Er stellt sich als Thaniel Steepleton vor, Francis Fanshaw sei sein Chef. (Fanshaw hat ihn kurzerhand rekrutiert, als ruchbar wurde, dass er Umgang mit einem Japaner hat und folglich dessen Sprache können müsse.)

Zusammen legen Grace und Thaniel eine kesse Sohle aufs Parkett, anschließend lauschen sie dem Pianisten, der angeblich ein eigens für diesen Anlass komponiertes Stück zum besten gibt. Merkwürdig nur, dass Thaniel es bereits kennt: Mr. Mori hat es laufend gespielt. Nun soll er dessen Musiknoten besorgen. Doch bevor er dazu kommen kann, verlegt ihm Fanshaw den Weg. Er nötigt ihn geradezu, ihm diese grässliche Grace Carrow vom Halse zu halten. Thaniel kann sich nicht weigern, doch danach hat er Moris Auftrag vergessen. Beim Abschied lädt ihn Grace zum Brunch am nächsten Tag ein, was ihn freut. Auf dem Heimweg grübelt er über Mr Moris Fähigkeit nach, die Zukunft zu vorherzusehen…

Mein Eindruck

Die Schilderung des viktorianischen London ist stimmig bis in kleinste Detail, so etwa eine dampfbetriebene U-Bahn, die bereits durch frisch angelegte Tunnel fährt. Schließlich hatte die Autorin Zugriff auf „Gladstone’s Library“ (siehe ihre Biografie), um alle Fakten zu prüfen und zu untermauern. Dennoch hat der Leser das Vergnügen, eine Erweiterung dieser empirischen Wirklichkeit zu erforschen. Gab es 1884 wirklich piepsende Uhren? Gab es wandernde mechanische Tintenfische? Es sind diese Erfindungen, die die Handlung voranbringen.

Die Titelfigur

Und im Mittelpunkt dieser Handlung stehen genau gezeichnete Figuren wie Thaniel, Grace und Mr. Mori. Dass aus den beiden jungen Leuten irgendwann mal ein Pärchen werden könnte, hofft und erwartet der Leser natürlich. Ganz anders hingegen Mr. K. Mori, immerhin die Titelfigur. Er wird uns in einigen Kapiteln vorgestellt, die in Japan spielen. Aus diesen geht hervor, dass er dem japanischen Adel entstammt, aber im Laufe der Meiji-Revolution, die Japan modernisierte, seinen Besitz und seinen Titel verlor. Auch hier scheint er bereits über hellseherische Fähigkeiten zu verfügen. Woher diese stammen, wird nie enthüllt.

Ein Agent der Ordnung

Dass Herr Mori weniger dem weiblichen als dem männlichen Geschlecht zugetan ist, entdeckt Thaniel nur per Zufall. Das dürfte vielleicht romantisch-konservative Seelen erschüttern. Weitaus wichtiger ist seine Rolle im Dienste der Ordnung. Er ist immerhin Uhrmacher und kann somit das Verhalten einer Uhr programmieren. Aber gilt das auch für Menschen? Er hat mit seiner Taschenuhr Thaniel das Leben gerettet. Aber kann er auch bestimmen, dass Thaniel und Grace ein Liebespaar werden? Diese Frage wird für Grace von brennender Wichtigkeit, weil sie Thaniel in nicht nur einer Hinsicht braucht (das Tantenerbe!). Was Grace jedoch stört, ist der nicht ganz unbegründete Verdacht, dass Mr. Mori das Verhalten Thaniels fernsteuert. Und diese Art der Vorbestimmung wäre der Tod ihrer Liebe. Das kann jeder, der schon mal geliebt hat, gut nachvollziehen.

Ein Agent des Chaos

So kommt es, dass Grace zu einer Antagonistin von Mr. Mori wird. Sie findet einen Verbündeten – ausgerechnet in Katsu, dem Kraken. Was als mechanisches Wunderwerk angesehen werden könnte, hat überraschenderweise einen eigenen Willen. Es scheint, als sei Katsu ein Agent des Chaos. Ja, er folgt ihr durch die ganze Stadt, und es kommt zu einem Verfolgungsrennen quer durch London. Warum und wozu, fragt sich der Leser bange. Das darf hier leider nicht verraten werden. Auch nicht, ob Grace ihren Thaniel letzten Endes kriegt oder nicht. Wobei es für eine wissenschaftlich denkende (!) Frau Grace vielleicht nicht gerade die Priorität Numero uno darstellt, in der Obhut eines Mannes ihre Bestimmung und Seligkeit zu finden.

Terroristen

Es gibt zwei Anschläge der irischen Nationalisten auf London und den Regierungsapparat. Aber als Gladstone davon unbeeindruckt ist, droht ein weiterer Anschlag. Das erhöht die Spannung beträchtlich, und die Kardinalfrage lautet nun, ob Leute wie Thaniel und Dolly rechtzeitig herausfinden können, wer der lokale Drahtzieher dieser Anschläge ist. jetzt wäre ein Sherlock Holmes mit seinen kleinen grauen Zellen höchst willkommen. Stattdessen wird Mr. Mori verdächtigt, denn schließlich ist er ja ein zwielichtiger Ausländer. Um seinen Freund und Mentor vor dem Henker zu bewahren, muss sich Thaniel kräftig ins Zeug legen und seine eigenen grauen Zellen auf Trab bringen. Es bleibt bis zum Schluss spannend.

Die Übersetzung

Die Übersetzung durch Jochen Schwarzer ist nicht nur durchweg korrekt, sondern auch ohne einen einzigen Druckfehler.

Kleiner Hinweis auf das Umschlagmotiv: Man beachte den Tintenfisch, der in den Deckel der Taschenuhr eingraviert ist. Es könnte sich durchaus um Katsu handeln, Mr. Moris mechanisches Meisterwerk.

Unterm Strich

Der Roman ist sowohl spannend als auch kenntnisreich in seiner Schilderung eines viktorianischen London, das von Terroristen bedroht wird. Aber es handelt sich dennoch nicht um einen Agententhriller, wie man vermuten könnte. Falls es ein Thriller ist, dann einer mit einem ganz anderen Schwerpunkt: Mr. Mori. Die anderen Figuren wie Thaniel, der synästhetische Künstler, und Grace, die Wissenschaftlerin, fragen sich, ob Herr Mori Eigenschaften eines Hellsehers und Menschenlenkers besitzt. Das würde sich mit Graces Vorstellung von Liebe in keinster Weise vertragen.

Wer weiß: Es scheint Katsu zu sein, der ihr mit seiner unvorhersehbaren Verhaltensweise in die Hände spielt. Wer ein bisschen Humor aufbringen kann, wird an vielen Stellen ironischen Humor aufblitzen sehen. So etwa in der detailliert geschilderten Szene von Graces Experiment, die Existenz des Äthers zu beweisen. Die nachgeborenen wissen, dass nicht viel gefehlt hätte, und sie hätte den Rang eines Rutherford erlangt, der in Cambridge die Quantennatur des Lichts nachgewiesen hat. Leider war man 1884 noch der Überzeugung, es gäbe den Äther und dass man ansonsten bereits alles entdeckt habe, was es in der Physik zu entdecken gäbe. Welch ein Irrtum!

Den spannenden und menschlich anrührenden Roman habe ich in nur wenigen Tagen gelesen. Wer den Roman für Steampunk hält, ist definitiv auf dem falschen Dampfer: Keine Zeppeline oder Luftpiraten, keine Homunuli oder Untote sind hier zu finden. Die gelungene Übersetzung durch Jochen Schwarzer ist ein dicker Pluspunkt und trägt wesentlich zum Lesevergnügen bei.

Hardcover: 448 Seiten
Originaltitel: The Watchmaker of Filigree Street, 2015;
Aus dem Englischen von Jochen Schwarzer.
ISBN-13: 9783608984750

www.klett-cotta.de

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