Am 7. Oktober fand in der Frankfurter Innenstadt eine Weltpremiere statt. Im Club U060311 führte der Hessische Rundfunk zum ersten Mal öffentlich das Hörspiel [„Otherland – Stadt der goldenen Schatten“ 603 (erster von vier „Otherland“-Teilen) auf. Die literarische Vorlage von Tad Williams, ein 3500-Seiten-Roman, beziehungsweise das 1200-Seiten-Drehbuch dazu hatten über 250 Mitwirkende unter der Regie von Hörspielspezialist Walter Adler in elf Wochen eingespielt. Ein paar dieser Mitwirkenden waren in den Club gekommen.
Nachdem endlich die Parade der federführenden Herrschaften von Rundfunk und |Hörverlag| ihre (mehr oder weniger) wichtigen Worte des Dankes gesagt hatte, durfte endlich auch Tad Williams zu Wort kommen. Williams, geboren vor annähernd 50 Jahren (1957), ist ein hoch aufgeschossener Kerl mit Glatzkopf und sehr sympathischem Lächeln. Bei vielen Promis wirkt so ein Lächeln aufgesetzt, aber bei ihm hatte ich den Eindruck, es sei echt. Eigentlich kein Wunder, denn der Abend galt nur ihm und seinem einzigartigen Werk.
Neben ihm saßen Walter Adler, der Regisseur, Pierre Oser, der Komponist, sowie die beiden Sprecher Udo Schenk und Leslie Malton. Die Moderation übernahm Walter Filz, der die massenhaft erschienenen Fantasyfans mit dem Bekenntnis schockte, er habe den „Herrn der Ringe“ nie gelesen. Bei mir jedenfalls war er sofort unten durch. Sein schlechtes Englisch – „How did you did it, Mr. Adler?“ – gab mir dann vollends den Rest.
_Der Autor: Williams_
Tad Williams erzählte, wie es zu Walter Adlers Plan für ein Hörspiel kam. Das war schon 1998, nach dem Erscheinen des ersten „Otherland“-Romans. Er erfuhr durch seine Lektorin Ulrike Killer davon und war sehr angetan. In seinem Land gebe es kein „radio drama“ mehr, denn die Aufmerksamkeitsspanne betrage durchschnittlich nur noch 20 bis 25 Sekunden. Das sei einfach zu kurz, um sich eine Handlung merken zu können. Aber er finde es toll, dass es in England Hörspiele von Douglas Adams und zum „Herrn der Ringe“ gebe. Er finde „radio dramas“ toll (und wie man der Pressemappe entnehmen kann, schreibt er selbst welche, ebenso wie Drehbücher und Designs für neue Games). (Anmerkung: Natürlich gibt es in den USA durchaus Hörbücher, also akustische Textlesungen, allein schon für Sehbehinderte. Aber der Unterschied zu Hörspielen, also Inszenierungen, ist doch beträchtlich.)
_Der Regisseur: Adler_
„Otherland“ besteht aus einer Aneinanderreihung von vier Hörspielen. Für Walter Adler war daher die immense Länge von 24 Stunden nicht so wichtig, sie erschien ihm auch nicht als unüberwindlich. (Er hatte schon einen Kempowski mit 16 Stunden inszeniert.) Dennoch habe er die 24 Stunden genauso intensiv produziert wie eine halbe Stunde. Er sei kein Fantasy-Fan, sondern betrachte „Otherland“ als einen realistischen Roman über unsere Zeit bzw. unsere nächste Zukunft.
Dies deckt sich mit Williams’ Ansicht, dass „Otherland“ in einer Zeit spiele, in der Menschen aus unserer Zeit noch leben werden, also in 20 bis 60 Jahren. Worum es geht? Alte Menschen erkaufen sich Lebenszeit auf Kosten unserer Kinder. Das sei das, was zur Zeit in den USA vor sich gehe. Dazu führt Walter Adler ein ähnlich gelagertes geschichtliches Beispiel an: Francisco Pizarro, ein ungebildeter Schweinehirt, eroberte das mächtige Inkareich mit nur wenigen Männern und schaffte dessen gesamten Reichtum, vor allem aus den Silberminen, nach Europa. Dort verursachte dieses Vermögen einen großen wirtschaftlichen Aufschwung, der die so genannte Neuzeit einläutete. Doch was hatten die Kinder der Inkas davon? Rein gar nichts, denn sie haben selbst heute noch keinen Anteil am Reichtum, den ihre Vorfahren Europa verschafften. Auch das sei die Geschichte von „Otherland“.
Für Adler ist „Otherland“ nicht nur ein eminent moralisches Buch, sondern „gesellschaftspolitisch brisant“ (zitiert nach der Pressemappe und der Making-of-CD darin). „Die Aussage ist die, dass wir mit dem, was an technischen Innovationen in den nächsten Jahren auf uns zu kommt, und auch mit dem, was was wir schon haben, sehr sehr vorsichtig umgehen müssen und sehr genau hinschauen müssen, was damit gemacht wird.“ Es gebe „eine sehr genaue Analyse der bestehenden Verhältnisse, was Macht will und kann, wie Macht unmoralisch ohne jede Zurückhaltung, ohne irgendeine moralische Bremse sich ausbreiten kann, wenn sie nicht mehr kontrolliert wird.“ (Pressemappe)
„Und Sie haben die vom Autor gesetzte große Hoffnung, dass es immer auf der Welt doch noch genügend Menschen gibt, die sich dem widersetzen, die ihre Kräfte mobilisieren, die ihre Intelligenz, ihre Sensibilität und – ja, man kann ruhig das große Wort sagen – ihren Humanismus einsetzen, um das Schlimmste zu verhindern.“ (Pressemappe)
_Der Komponist: Oser_
Pierre Oser, der Komponist, ist durch Musik für Stummfilme bekannt geworden. Er hatte schon vor „Otherland“ mit Adler zusammengearbeitet. Während Adler in Frankfurt/Main und Oser in München arbeitete, tauschten sie Feedback auf Vorschläge miteinander aus. Die Musik in einem Hörspiel habe für ihn eine dramaturgische Funktion ähnlich wie bei einem Stummfilm. „Wir versuchen auch parallel zu arbeiten, also Sprach- und Musikaufnahmen, dafür gibt es keinen fixen Ablauf, sondern ab und zu muss improvisiert werden.“
_Die Sprecher_
Mit von der Partie waren Lesley Malton und Udo Schenk. Schenk spricht einen dicken Wabbelbauch namens Mudd, der, zusammen mit Finney/Finch/Nickelblech hinter Paul Jonas her ist und ihn durch verschiedene Welten verfolgt. „Wie klingt man dick im Radio?“ (Ausnahmsweise eine sehr gute Frage von Moderator Filz!) Antwort Schenks: „Man bläst sich auf und outriert am Mikrofon.“ Und das alles muss ohne Requisiten und Kulissen gehen. Das sei eben das Besondere am Hörspiel: Da treffen sich Profis, die Schauspiel gelernt haben. „Man muss seine Phantasie aktivieren und aus seinem Fundus schöpfen.“ Viele hätten Theater gespielt. „Hier beim Hörspiel bzw. Funk hat man noch eine menschliche Atmosphäre.“
Lesley Malton – sie spricht eine australische Polizistin – führt das näher aus: „Man arbeitet noch am Manuskript. Man lernt dazu, denn es ist sehr abwechslungsreich. Wenn sich die Profis treffen, ist das wie ein Familientreffen, und man tauscht sich aus, um gute Ergebnisse zu erzielen. So etwas ist sehr selten geworden.“
Tad Williams hat das deutschsprachige Hörspiel inzwischen zweimal gehört. Er lernt noch Deutsch, sagt er – und seine Ansage war in Deutsch: „Wir fangen an!“ Was ihm am Hörspiel am meisten Freude bereitet habe, seien die puren Stimmen der Sprecher gewesen. In Deutsch sei das sogar besser gewesen, weil er sich sonst ständig überlegt hätte, welche Auswahl der Regisseur getroffen hatte: War das gut oder nicht so gut, hätte er sich dann gefragt. So aber war er nicht abgelenkt.
Welcher immense logistische Aufwand hinter der Hörspielproduktion bewältigt werden musste, erläuterte Leonie Berger, die neben Karoline Naab für Dramaturgie und Redaktion zuständig war. Ihre Excel-Tabellen auf dem PC erwiesen sich als zu umfangreich, um noch sinnvoll überblickt werden zu können und mussten seitenweise ausgedruckt werden. Danach waren die einzelnen Aufnahme-Sessions der über 250 Sprecher auszuschneiden und die Schnipsel wieder zu fixieren, vorzugsweise an Pinnwänden. Unvorstellbar, wenn auch nur ein einziger Schnipsel verloren gegangen wäre! Es musste ständig umdisponiert werden, weil Sprecher ausfielen, weil sie den Zug verpassten, krank geworden waren und vieles mehr. Und Walter Adler schrieb schon am Skript, als der letzte Roman noch gar nicht veröffentlicht war. (Dazu gibt es in der Pressemappe einen anschaulichen Werkstattbericht.) Gudrun Eggert, bereits eine ältere Dame, besorgte das nach den Worten Adlers immens wichtige Casting. Applaus!
Ein Moderator von YouFM kündigte die „Otherland“-Sendezeiten auf Radio YouFM und hr2 an:
HR2 sendet vom 10. Oktober an immer sonntags zwischen 14:05 und 15:00.
YouFM sendet vom 25. bis 30.Dezember täglich zwischen 23 und 24 Uhr.
Teil 2 folgt zu Ostern 2005, Teil 3 zu Xmas 2005 und Teil 4 schließlich zu Ostern 2006.
Während der Buchmesse wurde das Hörspiel auch in einem Kino der Innenstadt aufgeführt, wohl auch wegen der akustischen Qualität. Die Soundanlage des Clubs war an manchen Stellen leicht überfordert, zum Beispiel im Prolog, wenn Maschinengewehre, Regen, Geschützdonner und menschliches Geschrei einander überlagern, der Text von Paul Jonas aber dennoch verständlich sein soll.
Nach der Startansage von Tad „Wir fangen an!“ lauschten wir daher der Weltpremiere von „Otherland – Stadt der goldenen Schatten“ teils zufrieden, teils beeindruckt und teils ein wenig angestrengt.
Meine Rezension des ersten Hörbuchteils ist [hier 603 nachzulesen.
|Hinweis:|
Es gibt eine so genannte „Making-of-CD“ in der Pressemappe. Ihr könnt versuchen, sie über die Pressestelle des Hörverlags oder der genannten Sender zu bekommen. Sie enthält folgende Aufnahmen, die zum Teil recht interessant sind:
Track 1) Das eigentliche Making-of bzw. der Werkstattbericht, von Leonie Berger (s. o.). Länge: immerhin 18 Minuten. Mit wertvollen Beiträgen von W. Adler, Sylvester Groth, Udo Schenk, M. Koeberlin und anderen. Humorvoll, informativ.
Track 2) bis 6) Ausschnitte aus dem Hörspiel, Teil 1, insgesamt 29 Minuten: Im Ersten Weltkrieg; Im Wolkenschloss; Mr. J’s; Bei Herrn Sellars; In Mittland.
Track 7) Musik zu „Otherland“ von Pierre Oser. 11 Minuten.
Fazit: Wer das Hörspiel schon kennt, wird nur den Werkstattbericht interessant finden, alle anderen auch den ganzen Rest. Und außerdem: Die CD ist kostenlos!
Animierte Verlags-Homepage zum „Otherland“-Hörspiel:
http://www.hoerverlag.de/ws/otherland__ws/ws__otherland.htm
Mehr Infos:
http://www.otherland.hr-online.de
http://www.hoerverlag.de
http://www.tadwilliams.de