Per McGraup – Heimflug (Gruselkabinett Folge 161)


Warnungen einer Kassandra

London 1934: Seit Wochen wird Alwyne Hargreaves, das Medium, von schrecklichen Visionen heimgesucht, die den Absturz eines Luftschiffs und den schlimmen Feuertod der Besatzung und der Passagiere zum Inhalt haben. Nachdem Hedy Baumholzer, eine Freundin Tante Marilyns, plant, bei der Jungfernfahrt des neuen Zeppelins dabei zu sein, beschließt Colin Hargreaves, den Visionen seiner Gattin auf den Grund zu gehen und Kontakt zu einem Toten aufzunehmen… (Verlagsinfo)

Der Verlag empfiehlt das Hörbuch ab 14 Jahren.

Der Autor

Hinter dem Pseudonym Per McGraup verbirgt sich der Regisseur Marc Gruppe.

Schon Folge 89 wurde vom Ehepaar Hargreaves bestritten. Das Booklet bietet keine Informationen außer der, dass diese Erzählung auf den von Allan Upward geschaffenen Figuren basiert. Von Upward stammt auch „Heimgesucht“ (Gruselkabinett 83).

Die Sprecher/Die Inszenierung

Die Sprecher und ihre Rollen:

Benedikt Weber: Colin Hargreaves
Stephanie Kellner: Alwyne Hargreaves
Ursula Sieg: Tante Marilyn
Silvana Sansoni: Hedy Baumholzer
Louis Friedemann Thiele: Cpt. George Howard Raymond
Ursula Wüsthof: Vorzimmerdame
Valentin Stroh: Cpt. Carmichael
Markus Andreas Klauk: Funker Disley
Jean Paul Baeck: Navigator Leach
James, Christopher & Edward McMenemy: Zeitungsjungen

Regie führten die Produzenten Marc Gruppe und Stephan Bosenius. Die Aufnahmen fanden im Titania Medien Studio und im Fluxx Tonstudio, bei advertunes und Medientank (Wien) statt. Die Illustrationen trug Ertugrul Edirne bei.

Handlung

London im Oktober 1934. Alwyne Hargreaves, das Medium, leidet unter schweren Alpträumen, die ein drohendes Unglück ankündigen, in die ein Luftschiff verwickelt ist. Das Klingeln ihres Telefons reißt sie aus dieser miesen Stimmung: Es ist Tante Mariylyn, die bestimmt ihren Lieblingsneffen Colin Hargreaves sprechen will, Alwynes Mann. Langer Rede kurzer Sinn: Marilyn lädt Alwyne zum Tee im Park Café ein.

Der Park ist wunderbar, wenn die Sonne mal scheint, und es ist schon Oktober. Tante Marilyn hat ihre Freundin Hedy Baumholzer aus Wien mitgebracht. Über dreht ein neues Luftschiff seine Runden, dass die fünf Dieselmotoren nur so dröhnen. Sie habe gelesen, es könne einhundert Passagiere den ganzen Weg nach Indien fahren, meint Marilyn. Und da der Luftfahrtminister James Henderson ihr persönlicher Bekannter – und früherer Chef sei, könne sie ja mal fragen, ob sie und Hedy bei der Jungfernfahrt nach Frankfurt/M. mitkommen könnten. Alwyne, die schon die ganze Kopfschmerzen plagen, stöhnt bei den dabei hervorgerufenen Vorahnungen. Aber nichts kann Tante Marilyn aufhalten.

Colin lässt sich von seiner Frau alles berichten und versetzt sie dann in Trance, damit als Medium einen Toten kontaktiert. Sie ruft den Geist eines erst vor zwei Wochen verunglückten Flugpioniers herbei. George Howard Raymond kennt den Kapitän des neuen Luftschiffs noch aus Jugendtagen. Er hatte Cpt. Carmichael den geheimen Spitznamen „Rizzo“ gegeben. Wenn die Hargreaves nun die Güte hätten, seinem alten Freund eine Warnung zukommen zu lassen, so sollen sie den Codenamen „Rizzo“ erwähnen und weitere Informationen überbringen.

Denn das neue Luftschiff sei alles andere als flugbereit, schon gar nicht für einen Flug nach Indien. „Die Motoren sind zu schwer“, so Raymond, „und der Gassack im Zentrum stellt eine Sollbruchstelle dar.“ Außerdem sei der Wasserstoff, das das Fluggerät leichter als Luft mache, extrem entzündlich. Aber Lord Henderson wolle das Luftschiff dennoch starten lassen. Um in Indien zum neuen Vizekönig gekrönt zu werden. Deshalb bestehe die einzige Chance, eine Katastrophe zu verhindern, darin, Cpt. Carmichael zu bewegen, den Start abzublasen.

Zu ihrem freudigen Erstaunen lässt sich Cpt. Carmichael von A bis Z davon überzeugen, wovor sein verblichener Freund Raymond, der ihm sehr fehle, gewarnt hat. Aber Hargreaves müsste Lord Henderson schon selbst anrufen, um den Start abblasen zu lassen. Zu dritt staunen sie nicht schlecht, als im Büro von Lord Henderson schließlich nicht der Minister, sondern Tante Marilyn antwortet! Es ginge gerade schlecht, und der Minister könne nicht ans Telefon kommen. „Und ratet mal: Er hat mich und Hedy nicht nur nach Frankfurt/M. eingeladen, sondern bis ganz nach Indien!“ Sprach’s und legte auf. Alwyne ist geknickt, Colin empört und Carmichael frustriert.

Tag des Abflugs

Selbst ein persönliches Gespräch mit Lord Henderson fruchtet nichts, denn er weist Alwynes Visionen als Humbug zurück. Am festgesetzten Tag des Abflugs des größten Luftschiffs der Welt fährt Colin Tante Marilyn und Hedy Baumholzer über Umwege nach Cardington, wo der Start erfolgen soll. Umwege heißt Feldwege, denn es ist ja logisch, dass ein Riesenandrang zu Staus in der Umgebung führen werde, erklärt Colin. An einer Stelle muss er seine Blase erleichtern. Tante Marilyn ist schon ganz hibbelig, denn sie hat Unmengen von Koffern aufzugeben. Und eine kleine Tiara hat sie in eine diskrete kleine Hutschachtel verpackt, wie Hedy ihr entlockt. Klarer Fall: Wenn Lord Henderson Vizekönig werden sollte, dann will sie allen Ernstes seine Vizekönigin sein.

Colin fährt weiter, als ein Reifen platzt. Oder nein: Es sind zwei Reifen, also einer zuviel, denn er hat nur einen Ersatzreifen. Tante Marilyn gibt auf: Das Luftschiff hebt ohne sie ab. Sehr zu ihrem Glück, wie sich schon wenig später herausstellt…

Mein Eindruck

Alwyne muss diesmal die nicht gerade beneidenswerte Rolle der Kassandra spielen. Doch wie schon ihrem antiken Vorbild glaubt auch diesmal derjenige, auf den es ankommt, nicht: Lord Henderson, der Luftfahrtminister. Er begeht die antike Sünde der Hybris: Sein Ehrgeiz, der ihn zum Vizekönig von Indien machen soll, trägt ihn nicht nur in die Ferne, sondern wie weiland Ikarus auch zu hoch: Ein Sturm über dem Ärmelkanal stutzt seinem gigantomanischen Vehikel quasi die Flügel. Die Notlandung missglückt ebenfalls, das tragische Resultat einer Fehlkonstruktion.

Diese Botschaft bringt die Inszenierung des Hörspiels erst ganz am Schluss, denn wo bliebe sonst die Spannung? Geschickt eingeflochtene Vor- und Rückblenden führen den Hörer in die Irre, indem sie suggerieren, dass Tante Marilyn und die Crew um Hilfe schreien, während sie abstürzen. Erst im Laufe des dritten Aktes stellt sich die Wahrheit heraus: Kassandra, pardon: Alwyne und Colin ist es gelungen, das scheinbar unabwendbare Schicksal umzuleiten und Tante Marylin zu überlisten. Dies ist mit einer guten Portion Humor verbunden.

Sehr dezent angedeutet spielt Eros indes eine unerwartete Rolle. Alwyne mag sich über Tante Marilyns Liebesleben so viel entrüsten, wie sie will, so wird sie ihr doch noch dankbar sein. Am Schluss deutet Alwyne selbst an, dass jetzt gerne geknuddelt werden möchte. Eine viel ernstere Variante von Liebe wird in der Freundschaftsbeziehung angedeutet, die „Rizzo“ Carmichael und den Flugpionier Raymond verbindet. Das geht soweit, dass Carmichael das Medaillon als Erbstück verwahrt, das Raymond ihm gegeben hat. Es zeigt das Bild seiner, Raymonds, Mutter – ein weiterer Verweis auf eine Form der Liebe. All dies sind Kontraste zur egoistischen Hybris des adeligen Ministers.

Die Sprecher/Die Inszenierung

Dieses Hörspiel ist ganz auf unheimliche Atmosphäre abgestimmt. Geräusche, Musik und Dialoge spielen ausgezeichnet zu diesem Zweck zusammen. Die meisten Figuren sind mit einer Ausnahme weiblich und ergreifen die Initiative: Alwyne Hargreaves, Tante Marilyn und Hedy Baumholzer. Die weiblichen Sprecherinnen machen ihre Sache ausgezeichnet. Besonders skurril treten Ursula Sieg als tüttelige – und diesmal wirklich lüsterne – Tante Marilyn und Silvana Sansoni als Hedy Baumholzer auf. Sie werden von Colin überlistet.

Den männlichen Figuren mangelt es jedoch nicht an Sympathie und Einfühlungsvermögen, allen voran Colin Hargreaves, der tote Flieger Raymond und schließlich Kapitän Carmichael. Keiner zeigt Macho-Allüren. Die kommen nur indirekt von Lord Henderson, aber das zählt nicht. Was zählt, ist seine Hybris, die vom Wettergott mit dem Tod bestraft wird.

Geräusche

Die Geräusche sind in etwa die gleichen, wie man sie in einem realistischen Spielfilm erwarten würde, und die Geräuschkulisse wird in manchen Szenen dicht und realistisch aufgebaut, meist aber reichen Andeutungen aus. Regelmäßig hören wir Motorengeräusche, aber Vogelgezwitscher. Telefonstimmen sind regelmäßig verzerrt. Stimmen aus dem Jenseits sind mit viel Hall unterlegt, was sie surreal erscheinen lässt. Sehr realistisch wirkt das Finale, das die Katastrophe des Absturzes nicht indirekt schildert, sondern in Szene setzt: als mediale Übertragung aus dem Totenreich. Das verleiht dem Begriff „Tele-Kommunikation“ eine ganz neue Bedeutung. Nichtsdestotrotz ist die Szene sehr dramatisch und somit der krönende Höhepunkt des Hörspiels.

Musik

Die untermalende Musik, die unterschwellig die Emotionen des Hörers steuert, wechselt zwischen idyllischen und unheimlichen Harmonien und Rhythmen. Meist hält sie sich im Hintergrund, indem sehr tiefe Bässe, die an der unteren Hörgrenze angesiedelt sind, den Hörer unterschwellig auf etwas Schlimmes vorbereiten oder ihm sonstwie Unbehagen bereiten sollen. Titania Medien hat offenbar in einen nagelneuen Synthesizer investiert und zaubert damit nun die schönsten, wirkungsvollsten Klangensembles. Die Obertöne bestreitet ein abwechslungsreich eingesetztes Piano, das mal romantisch, mal tragisch erklingt.

Musik, Geräusche und Stimmen wurden so fein aufeinander abgestimmt, dass sie zu einer Einheit verschmelzen. Dabei stehen die Dialoge natürlich immer im Vordergrund, damit der Hörer jede Silbe genau hören kann. An keiner Stelle wird der Dialog irgendwie verdeckt.

Das Booklet

… enthält im Innenteil lediglich Werbung für das Programm von Titania Medien. Auf der letzten Seite finden sich die Informationen, die ich oben aufgeführt habe, also über die Sprecher und die Macher. Die Titelillustration von Ertugrul Edirne fand ich diesmal passend und stimmungsvoll.

Im Booklet sind Hinweise auf die nächsten Hörspiele zu finden:

Ab Herbst 2020

162: Lovecraft: Das gemiedene Haus
163: Ewers: Der letzte Wille der Stanislawa d’Asp
164: Howard: Die Toten vergeben nichts
165: Gaskell: Das alte Kindermädchen erzählt
166: Bisclavret
167: Flaxman Low – Der Fall Hammersmith

Unterm Strich

Warum nur musste das Hörspiel auf nahezu 70 Minuten gedehnt werden, fragte ich mich nach etwa 40 Minuten. Ich brauchte eine Pause. Und das war auch gut so, denn danach kam der beste Teil des Hörspiels, den ich wieder bei voller Aufmerksamkeit genießen konnte. Im ersten Drittel fiel mir auf, dass Tante Marilyn nervt, und zwar nicht nur Alwyne und Hedy, sondern auch den Hörer. Sie deutet Seniorensex an – da fliegt einem ja der Hut weg!

Der Ablauf der verschiedenen Séancen ist nicht ganz klar dargestellt: Alwyne stellt in Trance die Verbindung her, der Geist des Toten spricht – und vermutlich protokolliert Colin, was Alwyne in Trance spricht. Aber wie hört er dann den Toten? Gar nicht. Das muss wohl Alwyne nachträglich ergänzen. Ähnlich muss es wohl ablaufen, als auch Tante Marilyn zugegen ist – recht ungläubig, wie zu erwarten war.

Diese Folge vereint gekonnt Grusel, Liebe und Humor mit einer ernsten Warnung vor übergroßem Ehrgeiz. Die Luftschifffahrt nahm nur drei Jahre nach 1934 ein jähes Ende, als die „Hindenburg“ bei der Landung in Lakehurst in Brand geriet. Sie war mit Wasserstoff gefüllt, vor dem ja auch die Hargreaves eindringlich warnen. Diesen vielen Aspekten ist es wohl zu verdanken, dass diese Folge so umfangreich geriet. Hier hilft dem Hörer nur Geduld.

Das Hörbuch

Die professionelle Inszenierung, die filmreife Musik und bekannte Stimmen von Synchronsprechern und Theaterschauspielern einsetzt, bietet dem Hörer ein akustisches Kinoerlebnis, das man sich mehrmals anhören sollte, um auch die Feinheiten mitzubekommen. Auch jungen Menschen, die sich einfach nur für gruselige Audiokost interessieren, die gut gemacht ist, lässt sich das Hörspiel empfehlen.

Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der Hollywoodstars vermitteln das richtige Kino-Feeling. Es ist leicht verständlich, wirkungsvoll inszeniert, und die Stimmen der bekannten Sprecher wie Benedikt Weber und Stephanie Kellner vermitteln das richtige Kino-Feeling. Für Sammler ist die Reihe inzwischen ein Leckerbissen.

1 CD: 68 Minuten.
ISBN 9783785781616

www.titania-medien.de

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