Eckart Peterich, Pierre Grimal – Götter und Helden

Der Kunsthistoriker und bekannte Reiseschriftsteller („Rom“) Eckart Peterich sowie der Altphilologe Pierre Grimal lassen in diesem Buch die Vorstellungen dreier antiker Völker wieder lebendig werden: Peterich schreibt über Götter und Helden der Griechen und Germanen, während Grimal die Entwicklung der römischen Sagenwelt nachzuzeichnen versucht. Die Kapitel sind kurz und knapp gehalten, aber anschaulich, ja unterhaltsam geschrieben. Archaisierungen werden im Stil dabei ebenso vermieden wie Ironie oder aufgesetzte Peppigkeit.

„Götter und Helden“ kann als Lesebuch betrachtet werden – als ein Mittelding zwischen Lexikon und Abhandlung. Auffällig ist das warme Interesse, mit dem die beiden Autoren ihren Gegenstand beschreiben. Hier geht es also nicht um die sezierende Betrachtung akademischer Professoren, die die Anerkennung der Fachwelt zu ernten hoffen, sondern um eine echte Begeisterung für die antike Welt. Bei Peterich liest man beispielsweise, dass seine Beschäftigung mit dem griechischen Mythos dazu verhelfen soll, „einen Bruchteil mythischer Herrlichkeit in der Phantasie der Heutigen neu zu beleben“.

Die Welt der Griechen, Römer und Germanen steht am Anfang der zentraleuropäischen Geschichte. Hier begann das, was unsere europäische Identität ausmacht. Im Grunde müssten hier noch die Kelten genannt werden, deren Sagenkreise vor allem über die mittelalterliche Rezeption Einfluss auf unsere Kultur genommen haben (man denke an König Artus oder Parzival). Gleichwohl macht es Sinn, jene drei Völker in dieser Reihenfolge abzuhandeln – so wie die Römer vieles aus der griechischen Mythologie fortsetzten und umgestalteten, so übernahmen die Germanen die Idee des Imperiums von den Römern und gaben ihr einen neuen Inhalt.

Doch das vorliegende Buch weist hauptsächlich auf einen anderen Zusammenhang hin. Sowohl Griechen, Römer als auch Germanen nahmen ihren Ausgang von dem durch die Sprachwissenschaft erschlossenen Urvolk der Indogermanen oder Indoeuropäer. Dieses Volk saß vermutlich ursprünglich an den Nordmeeren. Aufgrund dessen lassen sich in den mythologischen Bildern und Inhalten so viele Ähnlichkeiten zwischen den meisten alteuropäschen Völkerschaften feststellen. Das Bild des siegreichen himmlischen Göttervaters ist eine solche typische Ähnlichkeit – es verkörpert sich im griechischen Zeus, im römischen Jupiter und im germanischen Wotan-Odin. Auch die göttlichen Zwillinge, die als Schützer wirken, sind eine gemeinsame indogermanische Vorstellung.

Im ersten Teil wird die griechische Sagenwelt beschrieben, die eine wichtige Inspirationsquelle gerade für deutsche Geistliche, Denker und Dichter gewesen ist. Deshalb finden wir im deutschen Sprachschatz auch eine Menge Metaphern, die sich auf diese Mythologie beziehen – beispielsweise die Binsenwahrheit, die Musen oder die Rede von den Argosaugen. Mit dem Bericht des Dichters Hesiod beginnt der bunte Reigen mythischer Gestalten: die Erde Gaia gebar aus sich selbst heraus, aber mit tatkräftiger Unterstützung der Liebeskraft Eros, den Himmel, Uranos, und das Meer, Pontos. Mit Uranos zeugte sie die einäugigen Erfinder der Blitze, die Kyklopen, und die Titanen. Als Uranos die Kyklopen in die Tiefe warf, erhob sich der Titan Kronos gegen seinen Vater und entmannte ihn mit einer Sichel, um nun selbst Götterkönig zu werden. Dem Blute des Uranos entstiegen die Erinnyen, die Göttinnen der Blutrache, und das Geschlecht der Giganten. Da der Vater seinem Sohn Kronos vorrausgesagt hatte, dass auch er von seinen Kindern enthront werden würde, verschlang Kronos die von ihm Gezeugten. Die Mutter Rhea aber versteckte den Zeus, der später die Titanen besiegen und den Olymp beherrschen sollte. Peterich beschreibt alle Götter des griechischen Pantheons: von Zeus, Artemis, Hera über Hermes bis zu Pan, den Gorgonen und den Dioskuren (Castor und Polydeukes). Ebenso werden die Heldensagen der Griechen vollständig abgehandelt: die Taten des Herakles und des Perseus, die Suche der Argonauten nach dem Goldenen Vlies und der durch Homer überlieferte Sagenkreis um den Trojanischen Krieg.

Pierre Grimal beschreibt im zweiten Teil den Werdegang der römischen Sagen. Ausgangspunkt dafür ist das Epos „Aeneas“ des römischen Dichters Vergil. Es erzählt wie Aeneas, Sprössling eines trojanischen Königshauses, nach der Zerstörung Trojas von den Göttern auf eine Irrfahrt geschickt wird, um eine neue Heimat zu finden. Mit dem von Aeneas abstammenden Geschlecht der Latiner aber begann die Geschichte Roms. Die Königstochter Rhea Silvia, zu den jungfräulich bleibenden Priesterinnen der Göttin Vesta gehörend, wurde von dem in sie verliebten Kriegsgott Mars am Flussufer überfallen und gebar aus dieser Vereinigung Zwillinge. Ihr Großvater war darüber erzürnt und setzte die Söhne seiner Nichte auf dem Fluss in einem Korb aus. Aber der Korb wurde von der Brandung ans Ufer getragen. Eine dem Mars heilige Wölfin zog beide Knaben auf. Grimal geht im weiteren auf die verschiedenen Versionen der Sagen ein. Er möchte zeigen, wie eng Mythen und Geschichte bei den Römern verbunden waren. Nach Grimal dienten diese Mythen in erster Linie der Erklärung historisch entstandener Bräuche und Gegebenheiten in Rom.

Der dritte Teil schließlich nimmt sich der Götter- und Heldensage unserer eigenen Vorfahren an – der Germanen. Aufgrund der reicheren Zeugnisse steht dabei die nordische Überlieferung im Vordergrund. Peterich berichtet über die Schöpfung der Welt aus dem gähnenden Nichts, dem Ginnungagap, und über die Geburt des ersten lebenden Wesens, des Urriesen Ymir aus dem Zusammenstoß von Feuer und Eis. Ähnlich wie im ersten Teil werden sämtliche Götter beschrieben: Odin, Thor (dem besonders viel Raum gewidmet wird), Frigg, Freyja, Frey, Njörd, Skadi, Baldur usw. Der Mythos vom Untergang der Götter, jene großartige germanische Religionsschöpfung, darf natürlich genauso wenig fehlen wie eine Beschreibung der neun Weltreiche und des Weltbaumes Yggdrasil. Bei der Wiedergabe der Heldensagen bezieht Peterich die deutsche und angelsächsische Überlieferung stärker mit ein: Nibelungenlied, Kudrunepos und der Beowulf werden in knappest möglicher Form nacherzählt. Natürlich hören wir auch vom nordischen Sigurd, dem Drachtöter, von Helgi, den seine Gattin mit ihrer Sehnsucht aus dem Grabhügel herbeiruft, vom Wikingerfürsten Frithjof, der durch die Schändung des Baldurtempels seine Geliebte verliert, um sie nach langem Suchen wiederzufinden. Das Prädikat „besonders wertvoll“ verdient der kleine Text am Ende des Abschnitts, in dem Peterich berichtet, aus welchen Quellen und mit welchen Methoden die germanische Glaubensgeschichte erschlossen werden kann.

Alles in allem also ein Buch, das den Freunden alteuropäischer Mythologie ans Herz gelegt sei und selbiges wohl höherschlagen lassen dürfte. Von allzu aufklärerischer Zudringlichkeit und Zweifelsucht findet sich hier glücklicherweise nichts – statt dessen darf man die alten Vorstellungen einfach genießen. „Götter und Helden“ ist ansonsten für Leser geeignet, die mit einer kurzen, prägnanten Darstellung ihr Allgemeinwissen auffrischen wollen, denen das Durchforsten von Lexika aber zu langatmig ist.

Leseprobe:
Odin, der Walvater
„Allvater nannten die Germanen ihren höchsten Gott, der bei den Deutschen Wotan, bei den Nordländern aber Odin hieß. In diesen Namen, die in unserem Worte „Wut“ nachklingen, lag einst der Sinn, daß Wotan-Odin Kräfte besitzt und verleiht, durch die in der Welt das Außerordentliche sich ereignet: rasende Kühnheit, die den Krieger unwiderstehlich macht, heilige Begeisterung und Besessenheit, in der Sänger und Seher das Höchste schauen. Denn Odin, der sieghafte Kämpfer, sucht, findet und kündet die höchste Weisheit; als Herr des Himmels und der Erde, als König der Götter und Menschen ist er kriegsgewaltig und zugleich wissend wie kein anderer. Dieser Gott der Schlachten, der auch Sieg- und Walvater heißt, schlägt seine Feinde mit blinder Furcht und nimmt ihren Waffen alles Macht, aber die Helden, die er beschützt, erfüllt er mit übernatürlicher Kraft, daß ihnen weder Eisen noch Feuer etwas anhaben können und sie auch waffenlos den Sieg erringen. Bei ihm liegen darum das Kriegsgeschick und das Todesschicksal. Er selbst nimmt am Kampfe nicht teil, aber mit seiner strahlenden Rüstung angetan reitet er auf dem achtfüßigen Roß Sleipnir, dem Raschdahingleitenden, über die Walstatt und zeichnet mit Gungnir, seinem wundermächtigen Speer, die Männer, denen er den Tod bestimmt hat. So ist Odin, auch Herr und König der Toten und vorallem der Einherier, die, von den Walküren entrückt, sich in Walhalla um ihn versammeln. An ihrer Spitze zieht er täglich zum Kampfe aus, und am Tage der Götterdämmerung wird er ihr Führer sein.“ (S. 185)

Taschenbuch: 311 Seiten
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