Als Malcolm Lockridge in die Dienste der schönen, geheimnisumwitterten Storm Darroway tritt, hätte er sich nicht träumen lassen, dass das Schicksal der Menschheit einmal von ihm abhängen würde. Er hat ja keine Ahnung, dass er die Figur in einem Spiel sein soll, in dem es einer Macht darum geht, in der Vergangenheit Kriege auszutragen, um die Welt der Zukunft zu beherrschen – Malcolms Gegenwart.
Der Autor
Poul Andersons Eltern stammten von eingewanderten Dänen ab. Poul, der vor dem 2. Weltkrieg kurze Zeit in Dänemark lebte, interessierte sich für diese Herkunft so sehr, dass er mehrere Romane an dem Schauplatz Skandinavien zur Zeit der Wikinger spielen ließ, darunter die zwei vorliegenden, aber auch „Krieg Götter“ und die Trilogie „The Last Viking“ (unübersetzt). Ansonsten ist Anderson für seine zahlreichen Science Fiction-Romane bekannt, von denen „Brain Wave“ (1954) wohl der innovativste ist.
Der 1926 geborene Physiker, der schon 1947 zu veröffentlichen begann, starb 2001. Er ist Greg Bears Schwiegervater. Seine Werke hier aufzuzählen, würde Rahmen sprengen, denn allein in der „Encyclopedia of Science Fiction“ ist sein Eintrag nicht weniger als sechs Spalten lang… Er gewann fünf Hugo Awards und zwei Nebula Awards, den Tolkien Memorial Award, den August Derleth Award und 1978 den Grand Master Award – mehr und Höheres kann man in diesen Genres fast nicht gewinnen.
Zeitpatrouille-Romane
1) Die Korridore der Zeit (1965, dt. 1968)
2) Die Tänzerin von Atlantis (1971)
3) Zeitpatrouille (1983)
4) Die Chroniken der Zeitpatrouille (1991)
5) Der Schild der Zeit (1990)
Erwähnenswert ist auch „Zeitfahrer“ (The boat of a million years, 1989), in dem aber die Zeitpatrouille nicht vorkommt.
Handlung
Malcolm Lockridge sitzt im Knast von Chicago, weil er sich gegen ein paar Straßenrowdies zur Wehr setzte und einer davon auf unglückliche Weise starb. Doch er kann sich keinen guten Anwalt leisten und sieht einer lebenslangen Strafe entgegen. Da bietet ihm die schöne und geheimnisvolle Dame, die sich Storm Darroway einen Job an. Sie braucht einen Begleiter mit Kampferfahrung so wie Malcolm, der Marineinfanterist war. Und einen, der keine unnötigen Fragen stellt.
Wenige Woche später ist der Knacki auf freiem Fuß und in Dänemark, wo er mit Storm in ein abgelegenes Nest in Jütland fährt. Man schreibt das Jahr 1964, mit Archäologie ist hier noch nicht viel los, aber es gibt an der Küste einen Dolmen, ein Steingrab. Auf geheimnisvolle Weise öffnet Storm die Erde unter der Dachplatte und schlüpft in einen Tunnel. Sie und Malcolm bewaffnen und fahren mit einem Schwebegleiter durch weitere Tunnel. Auf einmal werden sie beschossen und müssen zurückschießen. Schließlich gelangen sie zu einem von vielen Tunnelausgängen und treten am gleichen Hünengrab wieder heraus – aber in der Urzeit.
Natürlich haben sie sich entsprechend umgezogen, doch die Waffen haben sie dabei, und Malcolm kann gut damit umgehen. Nun ist es für Storm höchste Zeit, Malcolm ein paar Dinge zu erklären, denn er ist ein intelligenter Bursche, der ihr den Dienst aufkündigen könnte. Also: Die Tunnel führen zu verschiedenen Zeiten, aber nur zu zwei Orten, nämlich Anfang und Ende des Tunnels. Die Herrschaft über die Epochen, zu denen die Tunnel führen, sind umkämpft.
Auf der einen Seite stehen die Warden, die von Storm angeführt werden, einer Frau, die an manchen Orten und zu bestimmten Zeiten göttlich verehrt wird: die Mondgöttin. Auf der gegnerischen Seite stehen die Rangers, die unter anderem von Brann angeführt werden und das männliche Prinzip verkörpern. Die zwei Seiten stehen für die menschlichen Urprinzipien: Kontrolle oder Vertrauen, Technik gegen Wachstum usw. Aber wer gut oder böse ist, hängt völlig vom jeweiligen Standpunkt ab, wie Malcolm noch herausfindet.
Kaum betreten Storm und Malcolm das Dorf der Fischer, werden ihm und der Göttin heilige Gastrechte gewährt. Kurz nachdem sich die Häuptlingstochter Auri in Malcolm, den einzigen für sie verfügbaren Mann (auf ihr liegt ein Bann), verliebt hat, trifft die Nachricht ein, dass die feindlichen Yuthoaz im Anmarsch sind. Selbstverständlich schließen sich Malcolm und Storm dem Kampftrupp des Häuptlings an, doch die Gegner sind beritten und mit Wagen ausgestattet: Bronzezeit trifft Steinzeit. Als Malcolm schießt, wird er selbst getroffen, aber nicht von einem normalen Werkzeug, sondern von einem Energiegewehr, das Brann gehört.
Als er erwacht, ist Malcolm von Storm enttäuscht. Sie wurde überrascht und überwältigt. Sie tadelt sich selbst dafür, gibt ihm aber einen Tipp, nach Viborg zu einem anderen Agenten der Warden zu gehen. Sobald Malcolm zu dem siegreichen Brann gebracht worden ist, bietet ihm der Ranger-Kriegsherr einen Posten in seinem Heer an. Malcolm lehnt ab und kann in der Nacht entkommt, indem er von der wegekundigen Auri an allen Verfolgern vorbeigeführt wird. Sie schaffen es bis in den Tunnel, doch diesmal muss Auri mitkommen, auch wenn ihr die Tunnel der Zeit echt unheimlich vorkommen.
Wird ihre Liebe stark genug sein, um die kommenden Prüfungen zu bestehen? Und wird Malcolm Lockridge je in seine eigene Zeit zurückkehren können?
Mein Eindruck
Das, was ich als „Zeitpatrouille“ erwartet habe, tritt in diesem frühen Anderson-Abenteuerroman erst in einer Art Prototyp auf. (Die ersten Zeitpatrouille-Stories erschienen jedoch bereits 1960.) Genauer gesagt, gibt es hier einen Zeitkrieg zwischen Wardens und Rangers. Wer von beiden der Gute und wer der Böse ist, wird erst im Laufe eines längeren Wechselspiels von Lebenslagen des Helden Malcolm Lockridge klar.
Aber es gibt für Wardens und Ranger bereits klare Spielregeln für die Nichteinmischung in gewisse weltliche Gegebenheiten. So ist es beispielsweise unmöglich, die Vergangenheit zu ändern, denn damit würde man eine Art „Zeitbeben“ auslösen, das unabsehbare Folgen für die jeweils eigene Organisation hätte. Sie würde womöglich niemals gegründet werden. Ebenfalls bekannt ist das Auftreten von Agenten der jeweiligen Seite zu bestimmten Treffpunkten in Zeit und Raum, so etwa Fledelius in Viborg.
Der Hauptunterschied zur späteren Zeitpatrouille liegt darin, dass die Zeitreisenden nicht neutral und nicht bemüht sind, den sanktionierten Zeitablauf als höheren Wert zu schützen, sondern im Gegenteil vielmehr darum kämpfen, eben die Agenten der Gegenseite in einer bestimmten Zeit auszuschalten. Die Zeit dient sozusagen als kosmisches Schachbrett, auf dem der jeweils Andere zu schlagen ist.
Dass sich die Schachfiguren dabei überhaupt nicht wohlfühlen, erscheint plausibel. Und als eine dieser Schachfiguren begreift sich auch Malcolm Lockridge zunehmend. Zu Anfang ist er ein treuer Helfer der „Göttin“ Storm Darroway, doch schon bald merkt er, wie relativ ihr Machtanspruch ist. Brann, ihr Gegner, scheint genauso viel Existenzberechtigung zu haben wie sie.
Das wird Malcolm brutal klar, als zwei Drittel des Romans verstrichen sind, doch die Lage seiner Freundin Auri (er geht nie mit ihr schlafen, bis er auswandert) hat sich in keinster Weise verbessert, ganz im Gegenteil. Wie förderlich kann also der Einfluss der „Göttin“ auf die Zivilisation der Urzeit sein? Malcolm gerät ins Grübeln und wird schließlich wegen Aufmüpfigkeit sogar eingesperrt. Damit beginnt das spannende und actionreiche letzte Viertel des Romans. Davon soll aber nichts verraten werden.
Der Erzählstil
Was mir an diesem frühen Anderson ebenfalls auffiel, ist der archaische und sehr einfache Erzählstil. Jeder Zwölfjährige könnte der Handlung folgen und das Buch in wenigen Stunden verschlingen. Das war wohl auch das Zielpublikum des Verlags. Die Taschenbücher der meiste in Serien veröffentlichten Abenteuer Anderson kosteten nur wenige Cents. Es ist also quasi gedruckte Pulp Fiction zwischen Buchdeckeln.
Trotzdem ist das Niveau an historischen Kenntnissen ebenso hoch wie der Respekt vor menschlichen Gefühlen und Rechten. Mit John Normans Romanen ist dies nicht zu vergleichen. Sex kommt überhaupt nicht vor, was man von John Norman – zumindest im Original – nicht gerade behaupten kann.
Der Stil schwankt zwischen viktorianischer Verehrung für mächtige Frauen – Storm ist eine Göttin – und heiter-ironischem Geplänkel zwischen Malcolm und einem Agenten der Wardens. Auch Auri ist eine Frau, die verehrt gehört, allerdings mit der Rücksichtnahme, die einer Jungfrau gebührt. Schließlich dämmert es Malcolm dann doch, dass sie die einzig Richtige für ihn ist und nimmt sie mit ins Exil.
Die Übersetzung
Dieses Buch ist derartig alt, dass ich von dem deutschen Übersetzer Fritz Moeglich noch nie gehört habe. Sein etwas altertümlicher Stil passt aber gut zu der Handlung, die zwischen Fantasy und Science Fiction wechselt. Aber er macht auch ein paar Fehler.
Auf Seite 81 ist die Rede von mysteriösen „Elmen“ als Bäumen. Es sind wohl Ulmen gemeint.
Auf Seite 108 werden die „Niederungen von Sussex“ erwähnt. Hier dachte der Übersetzer wohl, bei den bekannten Sussex Downs müsse es sich um Niederungen handelt, doch perfiderweise ist das Gegenteil richtig: Es handelt sich um Höhenzüge. Und sie spielen zum Beispiel in „Watership Down“ sogar im Titel eine wichtige Rolle.
Auf Seite 154 bekommt der Übersetzer kaum seine Satzlogik in den Griff. Da heißt es: „Die Männer (des Streitaxtvolkes) hatten ihre Frauen mitgebracht. Keine weibliche Orugaray (des Fischervolkes) trug rauhe Wollsweater und Röcke.“ Es geht also um einen sichtbaren Gegensatz zwischen zwei Volksgruppen. Dieser Gegensatz manifestiert sich in der weiblichen Kleidung. An dieser Gegenüberstellung hatte ich lange zu kauen, denn es fehlt ein entscheidendes Wörtchen: „SOLCHE Wollsweater und Röcke“. Die Formulierung kann sich bereits im Original befinden. Aber ich kann auch nicht ausschließen, dass die Übersetzung nicht auch der Kürzung des Textes diente.
Unterm Strich
Dieser Abenteuerroman für Jungs setzt auf Action und Konflikte. Der Autor unternimmt keinen Versuch, tiefere Psychologie oder komplexe Personenbeschreibungen einzubauen. Das würde den jungen Leser überfordern und die Handlung so kompliziert wie einen Philip-K.-Dick-Roman machen. Damit hatte Anderson nichts am Hut. Romantische Ritterlichkeit trifft hier auf detailliert geschilderte Action und politische Hintergründe. Immerhin gibt es schon einen Vorgeschmack auf spätere Zeitpatrouille-Stories und –Novellen. (Siehe dazu meinen Bericht über „Die Chroniken der Zeitpatrouille“.
Wem also der Sinn nach kurzweiligen und anspruchslosen Abenteuern mit ein wenig historischem Wissenserwerb steht, der ist mit „Korridore der Zeit“ recht gut versorgt. Was die Übersetzung anbelangt, hege ich den Verdacht, dass sie gekürzt wurde. Das war in den sechziger Jahren nicht unüblich, nicht nur bei Heyne. Erst als Wolfgang Jeschke in den siebziger Jahren auch auf literarische Standards achtete, wurde auf vollständige Textfassungen geachtet.
Taschenbuch: 204 Seiten
O-Titel: The corridors of time, 1965;
Aus dem US-Englischen von Fritz Moeglich.
ISBN-13: 9783453062085
www.heyne.de
Der Autor vergibt: