Douglas Preston/Lincoln Child: Formula – Tunnel des Grauens [Special Agent Pendergast 3]

Der Zufall führt eine Archäologin, einen FBI-Agenten, einen Polizisten und einen Journalisten auf die Spur eines Serienmörders aus dem 19. Jahrhundert, der seine Opfer ihrer Wirbelsäulen-Nerven beraubt, um daraus ein lebensverlängerndes Elixier zu brauen; wie es aussieht, hat er damit Erfolg gehabt und nimmt 130 Jahre später sein unheilvolles Werk erneut auf … – Knallbunter, actionreicher, spannender und witziger Horror-Thriller mit Science Fiction-Elementen, der sein absurdes, im positiven Sinne altmodisches Garn so schwungvoll und handwerklich geschickt spinnt, dass darüber die absolute Bekanntheit jedes Thriller-Bausteins (fast) in Vergessenheit gerät.

Das geschieht:

Bauarbeiten in einem halb vergessenen Stadtviertel von New York fördern ein unterirdisches Gewölbe zu Tage. Darin finden sich die Knochen von 36 Jugendlichen, die um 1880 von Enoch Leng, einem irren Wissenschaftler, bei grausamen ‚medizinischen‘ Eingriffen umgebracht und zerstückelt wurden. Baulöwe Anthony Windhaven, der keine Zeit verlieren will, genau hier einen seiner Luxus-Wolkenkratzer hochzuziehen, nutzt seine durch Korruption und Drohungen erworbenen Beziehungen zu Politik und Polizei, um den grausigen Fund zu vertuschen, hat allerdings die Rechnung ohne FBI-Special Agent Pendergast gemacht, der sich seit jeher für groteske Kriminalfälle interessiert.

Zur Unterstützung holt sich Pendergast die Archäologin Dr. Nora Kelly ins Boot. Aktuell arbeitet sie am Naturwissenschaftlichen Museum von New York. Bürokraten und Sparschweine haben hinter den Kulissen das Ruder übernommen. Windhaven ist ein Mäzen und soll nicht verärgert werden. Das misslingt, da Kellys Freund, der Sensations-Journalist Bill Smithback, Wind von der Sache bekommt. Wie sich herausstellt, war Leng einst Kurator in einem der Kuriositätenkabinette, die sich im 19. Jahrhundert in New York großer Beliebtheit erfreuten. Offenbar hatte er seine Opfer unter den Besuchern gefunden und für Experimente missbraucht, die der Verlängerung des eigenen Lebens dienen sollten.

Das sorgt für Aufregung, als plötzlich Morde nach dem damals bekanntem Muster begangen werden. Haben die Berichte einen modernen Nachahmungstäter inspiriert, wie die von Fairhaven geschmierte Polizei behauptet? Oder trifft zu, was Agent Pendergast vermutet – dass Leng erfolgreich war, aber nun neues Wunderelixier brauen muss, weil seine Vorräte zu Ende gegangen sind …?

Riesen-Museum als Horror-Kabinett

„Formula – Tunnel des Todes“ ist ein fröhlich-brutaler Plünderzug durch Vergangenheit und Gegenwart des Bestseller-Unterhaltungsromans. Wie die Kuriositätenkabinette des (sehr viel besseren) Originaltitels präsentiert dieser Roman alle bekannten Ungeheuerlichkeiten, mit denen uns vor allem Hollywood ausgiebig verwöhnt (oder überfüttert). Dr. Lecter ist dieses Mal unsterblich, aber ansonsten ebenso mord-lustig wie in seiner originalen Inkarnation. Die Kulissen sind klassisch und bewährt: unterirdische, halb verschüttete Stollen, aus deren Dunkel jederzeit das Grauen hervorbrechen kann. Dasselbe gilt für finstere Gassen, einsame Häuser und vor allem für die unergründlichen Gewölbe des größten Museums der Welt.

Hier wird zum deutlich, dass „Formula“ wie fast alle Romane von Preston & Child leicht abgewandelt dieselbe Geschichte erzählt. Besagtes Museum diente ihnen sogar schon als Schauplatz eines mysteriösen Verbrechens mit hohem Bodycount. „Relic“ (1995, dt. „Das Relikt – Museum des Grauens“) war der erste und mit Abstand beste Thriller des Schriftsteller-Duos. Hier stimmte eigentlich alles, aber vor allem mischten sich profunde Ortskenntnis und ein simpler, aber wunderbar entwickelter Plot zu einem furiosen Actionspaß.

Kein Wunder, dass Preston & Child ins Naturwissenschaftliche Museum zurückkehren, denn es stellt eine grandiose Bühne für ein Garn wie dieses dar! 3000 Räume und katakombengleiche Kellerräume, vollgestellt mit faszinierenden, absurden, grässlichen Schaustücken – ein Universum des vergessenen Wissens, ein Labyrinth mit unendlichen dramaturgischen Möglichkeiten, ein Fenster in die Vergangenheit hinter einer Hightech-Fassade.

Zwischen ‚Forschung‘ und Horror

Das Museum bleibt auch im Aufguss ein wunderbarer Spielplatz. Man merkt sofort, wie trittfest Preston & Child sich hier fühlen, während Werke wie „Ice Ship“ oder „Riptide“ sichtlich auf nur angelesenem Wissen basieren. Und es ist der ideale Ausgangspunkt, von dem die Hauptfiguren ausschwärmen können. Anders als „Attic“ mit seiner grotesk übertriebenen Reise in den Mittelpunkt der (New Yorker) Erde schalten die Verfasser in „Formula“ einen Gang zurück. Sie beschränken sich auf ausgewählte Episoden und Stätten der New Yorker Stadtgeschichte.

Die ist an farbigen und wahrlich üblen Aspekten reich, denn New York ist nicht nur eine große, sondern schon eine sehr alte Stadt. Sie blickt zurück auf eine Vergangenheit, die mehr als genug Anknüpfungspunkte für blutvolle Histörchen liefert. Preston & Child wählten klug die Kuriositätenkabinette des 19. Jahrhunderts. Die gibt es heute nur noch in Museen oder auf Jahrmärkten, aber einst waren sie riesig und vollgestopft mit den groteskesten Objekten, die man sich vorstellen kann – menschliche und tierische Missgeburten, seltsam geformte Pflanzen oder Steine, Fossilien, Mord- und Folterinstrumente … Hauptsächlich auffällig musste es sein, Echtheit war keine Bedingung, politisch korrekte Zurückhaltung wurde nicht geübt.

Wundervoll ‚gotisch‘, d. h. ohne Scheu vor Verfall, Staub und Verwesung, kommt „Formula“ – selbst ein Kabinett trivialliterarischer Kuriositäten – daher und wandelt sicher auf dem schmalen Grat zwischen Vergnügen und Lächerlichkeit. Das klappt lange gut, bis Preston & Child sich schließlich doch – auch das ein ‚Markenzeichen‘ – alle Mühe geben es zu vermasseln. Völlig unnötig und ärgerlich ist es, urplötzlich dem Mörder und Agent Pendergast eine gemeinsame Herkunft aufzustülpen. Gleichzeitig wird dem Clan der Pendergasts eine Familiengeschichte geradezu Lovecraftscher Dimension angedichtet; kollektiver Wahnsinn, geheimes Wissen, Verwicklung in uralte weltweite Komplotte – ganz offensichtlich legen die Verfasser hier den Grundstein für weitere Fortsetzungen. So überdrehen sie die „Formula“-Schraube, aber (dieses Mal) verzeiht man es ihnen, weil sie bisher vorzüglich unterhalten haben.

Charaktere für strandnahe Literaturgewässer

Man darf sich nichts vormachen: „Formula“ bietet keine tiefgründigen Psychogramme. Typen stehen im Vordergrund: die energische, kluge, aber selbstverständlich hübsche und rettungswürdige Frau, der rasende Reporter, der handfeste Polizist, der weise Freund mit dem tiefen Geheimnis. Noch schematischer treten ‚die Bösen‘ auf. Damit ist nicht der schreckliche ‚Doktor‘ Leng gemeint. Politiker, hohe Beamte, Wirtschaftsbosse – sie alle sind egoistische Karrieristen, offen kriminell oder wenigstens korrupt und charakterschwach. Die ‚echte‘, an der Forschung interessierte Wissenschaft wird von Bürokraten beherrscht und geknebelt.

Zwischen allen diesen üblen Zeitgenossen herrscht eine unheilvolle Allianz; Pack schlägt sich, aber es hilft auch einander. Konkurrenten und Reformer, die das einträgliche Spiel auf Kosten der ahnungslosen, dummen Mehrheit verderben könnten, werden kaltgestellt und ausgeschaltet: Hier zeichnet „Formula“ ein düsteres Bild, das womöglich auf Prestons und Childs Vergangenheit als Wissenschaftler hinweist, die keiner selbst ernannten Elite angehörten und mit ähnlichen Schwierigkeiten und Frustrationen wie Nora Kelly kämpfen mussten.

„Enoch Leng“ ist ein glücklicherweise lange gesichtslos bleibender Übeltäter, der aus dem Hinterhalt zuschlägt. Theatralisch im Auftreten, furchtbar im Wirken – das nie im blutigen Detail, sondern im Ergebnis geschildert wird, was der Vorstellungskraft des Lesers reichlich Arbeit verschafft -, ist er das dämonisch attraktive Böse an sich, das der Serienmörder nur in Literatur und Film, aber niemals in der Realität verkörpert. Jack the Ripper, der unsterbliche Dracula, der das Blut der Menschen trinken muss, und natürlich Dr. Frankenstein, der Forscher, der sich über alle ethischen Grenzen hinwegsetzt, fließen in diesem Leng zusammen. (Direkt von Hannibal Lector geklaut ist Pendergasts Fähigkeit, sich kraft seines Geistes eine imaginäre Realität zu erschaffen und sogar in der Zeit zurückzureisen.) Auch in diesem Punkt ist der Leser dem Autorenduo nicht böse, denn diese Figuren fügen sich nahtlos in das turbulente = unterhaltsame Grusel-Garn ein.

Autoren

Douglas Preston wurde 1956 in Cambridge, Massachusetts geboren. Er studierte ausgiebig, nämlich Mathematik, Physik, Anthropologie, Biologie, Chemie, Geologie, Astronomie und Englische Literatur. Erstaunlicherweise immer noch jung an Jahren, nahm er anschließend einen Job am „American Museum of Natural History“ in New York an. Während der Recherchen zu einem Sachbuch über „Dinosaurier in der Dachkammer“ – gemeint sind die über das ganze Riesenhaus verteilten, oft nie gehobenen Schätze dieses Museums – arbeitete Preston bei St. Martin‘s Press von einem jungen Lektor namens Lincoln Child zusammen. Thema und Ort inspirierten das Duo zur Niederschrift des Romans „Relic“ (1994; dt. „Das Relikt – Museum der Angst“), der zum ersten Band einer sehr erfolgreichen und weiterhin fortgesetzten Reihe um den FBI-Agenten und Mystery-Spezialisten Aloysius Pendergast wurde. 2011 begann das Duo eine zweite Serie um den ehemaligen Meisterdieb Gideon Crew.

Wenn Preston das Hirn ist, muss man Lincoln Child, geboren 1957 in Westport, Connecticut, als Herz des Duos bezeichnen. Er begann schon früh zu schreiben, entdeckte sein Faible für das Phantastische und bald darauf die Tatsache, dass sich davon schlecht leben ließ. So ging Child – auch er studierte übrigens Englische Literatur – nach New York und wurde bei St. Martins Press angestellt. Er betreute Autoren des Hauses und gab selbst mehrere Anthologien mit Geistergeschichten heraus. 1987 wechselte Child in die Software-Entwicklung. Mehrere Jahre war er dort tätig, während er an den Feierabenden mit Douglas Preston an „Relic“ schrieb. Erst seit dem Durchbruch mit diesem Werk ist Child hauptberuflicher Schriftsteller. (Douglas Preston ist übrigens nicht mit seinem ebenfalls schriftstellernden Bruder Richard zu verwechseln, aus dessen Feder Bestseller wie „The Cobra Event“ und „The Hot Zone“ stammen.)

Taschenbuch: 575 Seiten
Originaltitel: The Cabinet of Curiosities (New York : Warner Books 2002)
Übersetzung: Klaus Fröba
https://www.prestonchild.com
https://www.droemer-knaur.de

eBook: 899 KB
ISBN-13: 978-3-426-55725-9
https://www.droemer-knaur.de

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