Tad Williams & Deborah Beale – Die Drachen der Tinkerfarm (Tinkerfarm 1)

Feuerspeiende Kühe?!

Eigentlich soll es ein ganz normaler Landaufenthalt in den Sommerferien werden, den Tyler und Lucinda bei Onkel Gideon verbringen. Sie erwarten tödliche Langeweile auf diesem Bauernhof, doch bald entdecken, dass es hier ein Geheimnis gibt. Das Brüllen aus der Scheune stammt nicht von einer Kuh, sondern von einem Drachen! Das donnernde Hufgetrappel im Tal – keine Mustangs, sondern Einhörner! Ein Haufen seltsamer Knechte und Mägde, unverständliche Sprache und magische Kräfte halten die Stadtkids auf Trab. Sie kommen dunklen Geheimnissen längst vergangener Zeiten auf die Spur – sie müssen Onkel Gideon retten! Doch schon ist ihr eigenes Leben in Gefahr…

Der Autor

Tad Williams, 1957 in San José geboren, hat sowohl mit dem Osten-Ard-Zyklus, seiner Antwort auf Tolkien „Herr der Ringe“, als auch mit seinem Otherland-Zyklus Millionen von Lesern gewonnen. Davor schrieb er aber schon kleinere Werke wie etwa „Die Stimme der Finsternis“ und „Die Insel des Magiers“.

Sein erster Bestseller hieß „Traumjäger und Goldpfote“ (wird 2010 erneut bei Klett-Cotta aufgelegt). Sein Hauptwerk ist die vierbändige „Otherland“-Saga, sein neuester Fantasy-Zyklus trägt den Titel „Shadowmarch“ (vier Bände). Fast alle seine Bücher wurden bei Klett-Cotta verlegt. Dort wird 2010 sein Osten-Ard-Zyklus als „Die Chronik der Großen Schwerter“ neu aufgelegt und fortgesetzt.

Williams lebt mit seiner Familie in der Nähe von San Francisco.

Handlung

Der aufgeweckte Tyler Jenkins und seine Schwester, die gelangweilte, zickige Lucinda, erwarten sich nicht gerade die aufregendsten Sommerferien ihres Lebens, als ihre geschieden lebende Mutter sie zu Onkel Gideon Goldring aufs Land schickt. Gideon hat sie extra eingeladen, da kann Mom ja schlecht nein sagen. Außerdem muss sie in ihrem Privatleben selbst einiges auf die Reihe kriegen. Gut, dass sie die zwei nervenden Teenager mal für ein paar Wochen los ist.

Für Lucinda fährt der Zug in die Pampa viel zu langsam, und bei der Vorstellung, dass sie nur mit Kühen, Schafen und Pferden zu tun haben wird, statt mit aufregenden Eisdielen und Computerspielen, wird ihr ganz schlecht. Doch etwas in dem Vorbereitungsbuch, das Onkel Gideon geschickt hat, kommt ihr merkwürdig vor: Darin ist die Rede von feuerspeienden Kühen. Können Kühe wirklich Feuer speien, fragt sie sich, aber sie ist völlig ahnungslos. Tyler findet jedoch heraus, dass überall, wo jetzt „Kuh“ oder „Kühe“ stand, zuvor ein längeres Wort gestanden haben muss. Ein merkwürdiges Buch. Etwas huscht am Waggonfenster vorbei, etwas tief Fliegendes: ein Affe? Seit wann können Affen fliegen?

Ein älterer Mann holt sie am Bahnhof in einer Pferdedroschke ab – Lucinfa stöhnt innerlich auf – und fährt sie zur Ordinary Farm. Es ist ziemlich weit, aber Mr. Walkwell, der Fahrer, sagt kaum ein Wort. Ein älterer Junge, der sich Colin Needle nennt, begrüßt sie und führt sie in das erstaunlich stattliche Herrenhaus, das unzählige Türmchen zieren und innen ebenso unzählige Zimmer beherbergt. Colins Ziehmutter Mrs. Needle ist offenbar die Hausherrin, denn Onkel Gideon, der die Kinder begrüßt, gibt sie in ihre Obhut. Sie führt das Regiment im Haus, er auf der Farm.

Die Farm der Fabelwesen

Als erstes lässt Onkel Gideon die Neuankömmlinge schwören, von nichts, das sie an Ungewöhnlichem zu sehen bekommen würde, auch nur ein Sterbenswörtchen zu verraten. Sie müssen einen feierlichen Eid ablegen. Du meint Güte, denkt Lucinda, was kann denn hier so bemerkenswert und geheimnisvoll sein? Vielleicht feuerspeiende Kühe? Doch als sie einem unerklärlichen Heulen und Brummen in einem Stall folgt, entdeckt sie, was Onkel Gideon meint: eine ausgewachsene Drachendame von enormen Dimensionen ist hier versteckt! „Sie heißt Meseret“, erfährt Lucinda.

Und das ist erst der Anfang. Die Farm ist voll von Fabelwesen, wie etwa einem giftigen Basilisken – Vorsicht vor der Spucke! – und Hippogryphen und allerlei anderem Fabelgetier. Mr Walkwell, der so humpelnd geht, entpuppt sich als Satyr, der die Grenzen der Farm bewacht, und Ragnar, einer der Vorarbeiter, scheint aus dem fernen Europa zu kommen, aber nicht aus der modernen Zeit. Lucinda entdeckt zu ihrem Leidwesen, dass Mrs. Needle sie mit einem ihrer „Kräutertees“ in einen tranceartigen Zustand versetzt hat, in dem Lucinda sämtliche Geheimnisse ihres Besuchs offenbart hat.

Eine böse Hexe

Jetzt ist Lucinda sicher: Mrs. Needle ist eine Hexe, wie sie im Buch steht. Und sie hat einen Spion auf den naseweisen Tyler angesetzt: ein Schwarzhörnchen, das ihm mit seinem stechenden Blick überallhin folgt. Aber erst, seitdem Lucinda und Tyler die alte Bibliothek entdeckt haben. Dort hängt ein großes Gemälde, das einen Mann zeigt: Es ist Octavio Tinker, wie sie später erfahren, der Gründer von Ordinary Farm. Aber er hält ein seltsam aussehendes Gerät in seiner Hand, als sei er stolz darauf.

Bei einem weiteren Besuch entdecken sie Octavios Tagebuch, das schon stark von Mäusen angeknabbert ist. Leider ist das meiste, das darin steht, unverständliches Physikerzeug, das von anderen Dimensionen faselt. Tyler findet im gleichen Zimmer einen Spiegel, der anders als gewöhnliche Spiegel nicht die vorhandene Umgebung zeigt, sondern eine ganz andere. Das ist ihm echt zu unheimlich, und Tyler haut ab. Im Tagebuch stoßen er und Lucinda auf ein rätselhaftes Wort: OLIS. Was kann es nur bedeuten?

Die Drachendame Meseret hat ein großes Ei gelegt. Irgendwie ist es Lucinda unheimlich, denn sie fragt sich naheliegenderweise, wer wohl der Vater dieser Leibesfrucht sein mag. Offenbar muss sich ein weiterer Drache in der Gegend herumtreiben. Ragnar und Mr Walkwell bestätigen ihren Verdacht: Ja, und der Vater will wie immer sein Ei rauben…

Mein Eindruck

Das Titelbild ist mal wieder völlig irreführend. Wir sehen eine junge Frau auf einem mächtigen Drachen über einer ländlichen Landschaft im Mondlicht fliegen. Ganz so, als wären Drachen kuschelige Haustiere, die man kurz mal für einen Trip über den Himmel besteigen könnte. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Meseret bricht aus, weil ihr Ei gestohlen wurde, und die arme Lucinda, die sie stoppen wollte, wird einfach an diversen Fesseln mitgezerrt. Die tatsächlich geschilderte Szene ist mehr oder weniger eine Parodie dessen, was auf dem Titelbild zu sehen ist.

Alles andere stimmt wenigstens. So etwa das abgeschieden gelegene Tal, die Farm mit ihren vielen Gebäuden und natürlich der Drache. Dies ist der Schauplatz, auf dem Deborah Beales neue Fantasy-Serie stattfindet. Ich glaube nicht, dass Tad Williams viel mit der Entstehung dieses Romans zu tun hatte, denn erstens ist das Buch in einem anderen als dem gewohnten ausschweifenden Stil geschrieben und zweitens kommen gewisse Science-Fiction-Elemente vor. Okay, diese Durchgänge zwischen Dimensionen gab es auch schon in „Otherland“, und mit Computerspielen hat Williams seit jeher viel zu tun gehabt. Aber ich finde, es sind gerade die Figuren, die auf Beales Konto gehen.

Lucinda und Tyler sind typische Stadtkinder, mit allen Macken, die dazu gehören, beispielsweise dem Abscheu vor dem bäuerlichen Land. Etwas merkwürdig mutet es daher schon an, dass ihre Mutter, die noch nie was von „Onkel Gideon“ gehört hat, ihre zwei Sprösslinge diesem Unbekannten anvertraut, um endlich mal einen neuen Mann aufgabeln zu können. Ich hätte mir Mütter mit etwas mehr Verantwortungsgefühl gewünscht.

Wichtiger sind jedoch die Vorgänge auf der Farm, zu der die zwei Stadtgören expediert werden. Die Farm mutet zunächst wie eine Art Abenteuerspielplatz an, eine Art Narnia, das von Erwachsenen statt eines Löwen geleitet wird. Drachen, Einhörner, Satyrn, Greife – was könnte es Interessanteres für zwei Kinder geben? Disneyworld ist ein Dreck dagegen, sollte man meinen. Doch wie alle lebenden Kreaturen wollen auch die Fabelwesen respektiert werden: Das Horn der Einhörner beispielsweise ist rasiermesserscharf. Und wie soll man diese Menagerie vor der Außenwelt schützen, damit nicht tatsächlich ein Disneyland daraus gemacht wird und Massen von gaffenden Besuchern über die Tinkerfarm herfallen?

Die Klärung dieser kniffligen Frage führt Lucinda und Tyler schnurstracks zum Gründer der Farm, Octavio Tinker, und seinem Vermächtnis, das von einem gewissen Mr Stillman, seines Zeichens Softwaremilliardär, angefochten und beansprucht wird. Octavios Tochter heiratete nämlich Gideon Goldring gegen den Willen ihres Vaters – und bis sie eines Tages verschwand und ihr Vater bei einem Unglück starb. Gideon erbte alles, aber möglicherweise nicht ganz zu Recht, meint Mr Stillman. Und er hat einen Agenten in der Mitte des Familienkreises, der ihm einen sensationellen Fund verkaufen will.

Für eine Menge Geheimnisse und Spannung sowie Action ist also gesorgt. Die Geheimnisse werden sich vollständig erst in der Fortsetzung lüften lassen, und wahrscheinlich geht der Kampf gegen Mr. Stillman und die Außenwelt noch weiter. Der wichtigste Grund, um diese Fortsetzung zu lesen, ist das, was Tyler hinter dem durchlässigen Spiegel in der alten Bibliothek entdeckt. Es ist zwar nicht gerade Alices Wunderland, aber auch recht passabel einfallsreich in seinen Verzerrungen und Überraschungen. In seinem Horror-Ambiente erinnerte mich das Spiegel-Land an Neil Gaimans „Coraline“, die kürzlich recht gruselig verfilmt wurde.

Auch die Rolle der Mrs. Needle ist recht geheimnisvoll. Ist sie wirklich so böse, wie die Kinder glauben? Und ihr zwielichtiger Colin, de etwas zuviel Eigeninitiative zeigt und dabei zum Schurken im Stück wird – ist er wirklich böse, nur weil er eigensüchtig handelt, statt seinen Boss Onkel Gideon zu fragen? Der junge Leser von vielleicht acht bis zehn Jahren wird mit einer Reihe von moralischen Fragen konfrontiert, bei denen er sich fragen kann, wie er selbst sich entschieden hätte.

Es gibt allerdings eine Episode im Buch, die gar nicht so recht zum Rest passen will. Gemeint ist die Expedition ins Fabel-Land, bei der Tyler nicht nur die Bibliothek in eine andere Dimension gelangt, sondern durch ein streng abgesperrtes Dimensionsloch. Tyler gelangt in eine Art Eiszeit-Szenario und hat sofort Gelegenheit, ein Mädchen vor einem Raubtier zu retten. Das bringt ihm bei ihr jede Menge Pluspunkte ein, so dass sie ihn gerne wärmt, aber wie soll er jetzt wieder nach Hause gelangen? Eins ist bald klar: Ohne seine neue Freundin kommt er hier nicht mehr weg!

Die Übersetzung

Die Übersetzung von Hans-Ulrich Möhring ist ausgezeichnet gelungen. Ich konnte keinerlei Fehler finden und habe sogar noch einige neue deutsche Wörter wie etwa „Schüppel“ gelernt. Die Illustrationen im Innenteil stammen von Jan Reiser, sind also nicht aus der Originalausgabe, wie es scheint. Sie verleihen der Handlung noch den zusätzlichen visuellen Anreiz, den junge Leser brauchen und von einem Kinderbuch erwarten. Eine Lagekarte der Farm sucht man aber vergeblich.

Unterm Strich

Mit Sicherheit wird auch dieses „Buch von Tad Williams“, wie es vermarktet wird, ein großer Publikumserfolg. Das Jugendbuch, das wahrscheinlich zu großen Teilen seine Frau geschrieben hat, bietet alle Zutaten, die eine Harry-Potter-verwöhnter Jugendlicher erwartet: jede Menge Fabelwesen, Reisen in andere Dimensionen, Drachen (ganz wichtig!), Einhörner – und viele, viele Geheimnisse, die es unter schwierigsten Umständen zu lüften gilt. Auch die Action kommt im Finale nicht zu kurz. Also kann sich eigentlich niemand beschweren.

Tu ich aber doch. Das Problem mit den zwei Hauptfiguren ist nämlich, dass sie nicht so recht glaubhaft sind. Kann Lucinda wirklich so eine blöde Zicke sein, und Tyler wirklich so ein gewiefter Problemlöser, wie sie uns vorgestellt werden? Und warum schickt ihre Mami sie ohne weiteres Besinnen gleich zu ihrem nie zuvor gesehenen Onkel Gideon? Aus egoistischen Motiven womöglich, und das macht Mami erst recht unsympathisch.

Die Story wandelt den schmalen Grat zwischen lustig-ironischer Unterhaltung – hä, feuerspeiende Kühe?! – und ernsthaften Episoden, die mit betrüblichen Schicksalen zu tun haben, so etwa das Verschwinden von Gideons Frau. Von vornherein sind wir uns bewusst, dass der Ausflug der Kinder auf die Tinkerfarm nur begrenzte Zeit dauert und dass deshalb alles bald ein Ende haben wir – eine Exit-Strategie. Sie sichert die Rückkehr der Kids, aber auch die Fortsetzung der Serie.

Bewegender und realistischer (herrje, wer fragt schon nach Realismus?) wäre es vielleicht, keine baldige Rückkehr in Aussicht zu stellen, so dass der Aufenthalt auf der Tinkerfarm zu einer lebensverändernden Erfahrung werden kann. Aber das wäre natürlich nur halb so lustig und wahrscheinlich viel zu dramatisch für die junge Leserschaft. Hauptsache, die zwei Stadtkids sind nach ihren „Sommerferien“ bessere Menschen geworden. Und hoffentlich kommen sie bald wieder zurück.

Hardcover: 380 Seiten
Originaltitel: The dragons of the ordinary farm, 2009;
Aus dem Englischen von Hans-Ulrich Möhring
ISBN-13:9783608938210

www.klett-cotta.de

Der Autor vergibt: (4.5/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)