Austin/Texas: In dem US-amerikanischen Staat, der stolz auf seine Wild-West-Vergangenheit und die Wehrhaftigkeit seiner Bürger ist, soll ein neues Gesetz verabschiedet werden, das den Besitz von Feuerwaffen drastisch einschränkt. Befürworter und Gegner liefern sich vor der Abstimmung einen erbitterten Kampf, dessen Ausgang freilich von einigen fanatischen Waffenfreunden zu ihren Gunsten beeinflusst werden soll: Sie planen allen Ernstes, einen Giftgas-Anschlag auf den texanischen Senat zu verüben, wo über besagte Gesetzes-Vorlage entschieden werden soll.
Die obdachlose Sarah Jane Hurley, genannt „Cow Lady“, hört zufällig mit, als das Attentat geplant wird. Die Verschwörer werden auf sie aufmerksam. Durch ein Versehen halten sie jedoch nicht Sarah für die unerwünschte Zeugin, sondern eine Freundin. Als diese brutal ermordet wird und Sarah erfährt, dass die Täter ihren Irrtum anschließend bemerkt haben, sucht sie Hilfe. Sie wendet sich an die Journalistin Molly Cates, die gerade an einer Reportage über obdachlose Frauen in Austin arbeitet und dabei auch Sarah befragt hat.
Sarah kann Molly zunächst nicht erreichen, denn diese ermittelt in eigener Sache: Vor fast drei Jahrzehnten ist ihr Vater unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen. Schon damals hat sich Molly bemüht, das Rätsel zu klären; darüber ist sie fast zerbrochen. Nun gibt es plötzlich neue Hinweise. Molly nimmt die Spur auf, und wie in ihrer Jugend ist sie bereit, rücksichtslos sich selbst, ihrer Familie und ihren Freunden gegenüber die Wahrheit herauszufinden.
Daher ist es fast zu spät, als sie der Hilferuf der „Cow Lady“ erreicht. Deren Verfolger haben sie entdeckt und sind ihr hart auf den Fersen. Als Molly, die inzwischen nach Austin zurückgekehrt ist, Sarah endlich findet, schnappt die Falle zu – sie soll zusammen mit Sarah umgebracht werden, um jeden Hinweis auf das geplante Attentat zu verwischen …
Mit dem vorliegenden Werk beschert Mary Willis Walker ihrer Lesergemeinde ein Wiedersehen mit Molly Cates, der engagierten und unbequemen Journalistin aus Texas. Um es vorweg zu nehmen: Nach „Der rote Schrei“ (Goldmann-Verlag, ISBN: 3-442-42984-6) und „Unter des Käfers Keller“ (Goldmann-Verlag, ISBN 3-442-43513-7) ist ihr erneut ein überdurchschnittlicher Thriller gelungen.
Diese erfreuliche Tatsache wurde von der Kritik nicht immer mit der gebührenden Objektivität gewürdigt. Seit „Unter des Käfers Keller“, jenem Buch, das seiner Autorin zu Recht einen überragenden Erfolg bescherte, werden Walkers Romane an diesem außergewöhnlichen Werk gemessen. Doch das ist ungerecht; nicht immer geraten Qualität, aktuelles Zeitgeschehen und Zeitgeschmack so perfekt in einen Gleichklang.
Bei „Laß die Toten ruhen“ war Walker der Wirklichkeit ein paar Jahre voraus. Vor dem Hintergrund des Massakers von Littleton (April 1999), bei dem zwei gestörte Schüler über ein Dutzend ihrer Schulkameradinnen und -kameraden umbrachten, und weiterer Amokläufe gewinnt die Geschichte ganz andere Dimensionen. Hierzulande kann sich vermutlich niemand wirklich vorstellen, mit welcher Inbrunst in den Vereinigten Staaten für und wider den freien Waffenbesitz gestritten wird. Die katastrophalen Folgen der derzeitigen Gesetzgebung werden zwar durchaus erkannt, gleichzeitig jedoch von einer zahlenmäßig etwa gleichwertigen und einflussreichen Gegenbewegung negiert. Freie Waffen für freie Bürger – so lässt sich deren Haltung zu diesem Thema vereinfachend umschreiben. Verfolgt man Berichte über paramilitärische und bis an die Zähne bewaffnete Gruppen, die es überall in den USA zu geben scheint, und ihre oft sonderbaren bis gemeingefährlichen Ansichten, erscheint die Vision eines Giftgas-Attentats auf den texanischen Senat überhaupt nicht mehr unrealistisch.
Walker begnügt sich nicht mit diesem einen Plot. Sie verwebt die eigentliche Kriminal-Handlung mit einem Blick auf das Problem der Obdachlosigkeit in den Vereinigten Staaten. Auch hier ist es nicht einfach, die Brisanz des Themas zu erkennen. Zu den Schattenseiten des „Amerikanischen Traums“, nach dem jede/r zu Wohlstand, Erfolg und Glück gelangen kann, wenn er oder sie sich nur tüchtig anstrengt, gehört der unumstößliche Glaube großer Teile der amerikanischen Bevölkerung, dass jene, die auf der Straße leben, sich offenkundig nicht genug ins Zeug gelegt und ihr Unglück selbst verschuldet haben. Ruft man sich dann noch ins Gedächtnis, dass es in den USA, einem der reichsten Länder der Welt, nur ein rudimentäres soziales Netz gibt, das jene auffängt, die das Pech haben, auf dem „American Way of Life“ in eine Sackgasse zu geraten, gewinnt auch der Handlungsstrang um Sarah Jane Hurley, die „Cow Lady“, und ihre unglücklichen Leidensgenossen an Eindringlichkeit.
Als sei dies noch nicht genug für einen einzigen Roman, widmet sich Walker schließlich dem chaotischen Privatleben ihrer Heldin. Molly Cates, die in ihrem Beruf so erfolgreich ist, wurde durch den rätselhaften Tod ihres Vaters nachdrücklich aus der Bahn geworfen. Die fanatische Suche nach den mutmaßlichen Mördern hat sie krank werden, ihre Familie vernachlässigen und ihre Freunde auf Abstand gehen lassen. Dreißig Jahre später hat Molly ihr Leben und ihre Karriere zwar im Griff, doch den Bruch in ihrer Jugend konnte sie niemals wirklich verarbeiten. Schon einige wenige neue Hinweise reichen aus, um sie erneut in den Strudel ihrer Obsession zu ziehen.
Drei Geschichten in einer also, die „Laß die Toten ruhn“ erzählt – ein wenig zu viel für einen simplen Thriller, ließe sich einwenden. Wo steht allerdings geschrieben, dass ein Triller immer einfach sein muss? Mary Willis Walker gelingt es jedenfalls, die von ihr sauber recherchierten Themen zu einem komplexen, dichten und immer spannenden Roman zusammenzufügen. Längen gibt es nicht, und sogar das obligatorische Finale mit Knalleffekten wirkt nicht aufgesetzt, sondern folgerichtig.