André, Martina – Schamanenfeuer. Das Geheimnis von Tunguska

Am 30. Juni 1908 kam es in der Region Tunguska im Mittelsibirischen Bergland zu einer verehrenden Explosion. Das zerstörte Gebiet hatte eine Größe von ca. 2200 Quadratkilometern, rund 60 Millionen Bäume wurden umgeknickt. Noch in 500 Kilometern Entfernung wurde von einem hellen Feuerschein berichtet, ebenso berichteten die wenigen Zeugen – Passagiere der Transsibirischen Eisenbahn – von einer Druckwelle mitsamt Erschütterungen und Donner. Aufgrund der Abgeschiedenheit des Territoriums konnte das Gebiet erst 1927 von einer Expedition aufgesucht und erforscht werden. Erschwerend kam hinzu, dass es erst 1938 möglich war, Luftaufnahmen zu machen, die auch Jahre später noch Zeugnis der Katastrophe geben konnten.

Auch jetzt noch, 100 Jahre später, ist es unserer modernen Wissenschaft und ihren technologischen Mitteln nicht zweifelsfrei möglich aufzuklären, was damals wirklich passiert ist, welche Explosion mit einer Sprengkraft von zehn bis 15 Megatonnen TNT einen ganzen Landstrich förmlich ausradieren konnte. Verschiedene namhafte Wissenschaftler verfassten in den letzten Jahrzehnten ebenso viele verschiedene Theorien dazu. War es ein Meteorit, der aus den Tiefen des Alls auf die Erde stürzte? War es ein Vulkanausbruch über einem gigantischen Erdgasfeld oder gar zwei havarierende extraterrestrische Raumschiffe? Jede einzelne Theorie wird wissenschaftlich mit Indizien unterstützt, doch beweisbar ist sind diese im Detail bislang nicht.

Vielleicht war es auch ein geheimes Projekt, die sogenannte „Zar-Bombe“, das höllisch eskaliert ist?! Die Verwüstung, sollte es wirklich eine Bombe gewesen sein, entspricht in etwa der Sprengkraft von 50 Megatonnen TNT, also der mehr als tausendfachen Sprengkraft der über Hiroshima abgeworfenen Atombombe „Little Boy“.

Was auch immer diese Zerstörung verursacht hat, das Ereignis gibt Wissenschaftlern und zahlreichen Verschwörungstheoretikern Raum für waghalsige Theorien, und auch in Literatur und Film findet sich dieses Thema ab und an wieder. Die Autorin Martina André, die auch schon [„Das Rätsel der Templer“ 4654 und „Die Gegenpäpstin“ verfasste, behandelt in ihrem neuen Roman „Schamanenfeuer. Das Geheimnis von Tunguska“ diese Katastrophe in der Taiga Sibiriens.

Neben diesem rätselhaften Ereignis spielen die sibirischen Schamanen, wie der Titel des Buches bereits verrät, eine zentrale Rolle und bilden den entscheidenden Übergang zweier Epochen, in denen der Grund und die Auswirkungen der Katastrophe spannend und unterhaltsam geschildert werden.

_Inhalt_

Der 22. Januar des Jahres 1905, der sogenannte „Blutsonntag“, soll das Leben von Leonard Schenkendorff, einem deutschen Studenten, der in Sankt Petersburg am Polytechnischen Institut lernt, vollständig verändern. An diesem schicksalhaften Tag wird es in der Innenstadt der russischen Metropole eine Demonstration der Industriearbeiter geben, die gegen Zensur, unmenschliche Arbeitsbedingungen und für die religiöse Toleranz eintreten wollen. Leonard, der sich mit seiner jungen Freundin Katja auf dem Weg zum Winterpalast des Zaren befindet, ahnt schon, dass diese Demonstration eskalieren wird. Zu viele Menschen ballen sich in der klirrenden Kälte wütend und enttäuscht zu einem gefährlichen Mob. Erwartet wird dieser schon von der staatlichen Polizei und Kosaken, die scheinbar nur darauf hoffen, die Kundgebung mit brutaler Gewalt beenden zu können, ganz gleich, wie viele Frauen und auch Kinder sich friedlich der Menge angeschlossen haben mögen. Alles deutet auf eine Revolution hin.

Als der Bruder Katjas, ein bekannter gewaltbereiter Radikaler, eine deutsche Waffenfabrik stürmt, um an Schusswaffen zu gelangen, eskaliert die Situation. Katja erschießt einen Polizisten, und Leonard, der seinen alten jüdischen Vermieter vor der wütenden Menge verteidigt, wird zu Unrecht festgenommen und für den Tod des alten Mannes verantwortlich gemacht.

In dem berüchtigsten Gefängnis Petersburgs werden Leonard und Katja gefoltert und misshandelt. Ein schneller Prozess folgt, ein ebenso schnelles wie kompromissloses Urteil wird ausgesprochen. Tod durch Erschießen erwartet die beiden jungen Menschen, doch Leonard wird von einem Geheimdienstbeamten vor die Wahl gestellt, sich und Katja dem Todesurteil zu ergeben oder aber in ein Arbeitslager in Sibirien deportiert zu werden.

Das Schicksal von Katja liegt in Leonards Händen, einen Ausweg gibt es nicht; vielleicht, so denkt er, kann er das „Tal ohne Wiederkehr“ überleben. In diesem Lager sollen er und andere Schwerverbrecher und Verräter für den Zaren an einem Geheimprojekt arbeiten, um Russland wieder eine größere politische und vor allem militärische Machtstellung zu ermöglichen.

Auf dem Weg in die Taiga werden einige der Häftlinge und ihre Wächter durch einen Unfall schwer verletzt. In diesem unzivilisierten Gelände fernab von Medizin und Versorgung kommt die einzige Hilfe von der Urbevölkerung. Ein Schamane – Zauberer und Medizinmann, der die Geheimnisse der Natur und ihrer Geister kennt – hilft den Verletzten, die nur staunend und ungläubig auf das sehen, was vor ihren eigenen Augen geschehen ist.

Das Leben im Arbeitslager ist für Leonard und andere Studenten, die unter ähnlichen Umständen verhaftet und verurteilt wurden, verhältnismäßig human. Die jungen Leute, die für ihr Überleben und in der Hoffnung, freigelassen zu werden, an einer Waffe bauen, die alles bisher Bekannte in den Schatten stellen soll, benötigen wenig später erneut die Hilfe der unheimlichen Schamanen, um das Experiment vervollständigen zu können, aber sie ahnen nicht, dass diese Entscheidung ein tödlicher Fehler sein wird.

Einhundert Jahre später: Die junge deutsche Wissenschaftlerin Dr. Veronika Vandenberg soll mit ihrem Professor und einem Team von Geologen und anderen Wissenschaftlern unter der Aufsicht und Hilfe von russischen Kollegen das Gebiet rund um den Fluss Tunguska erforschen, um Beweise für einen Meteoriteneinschlag zu finden.

Als die deutsche Delegation von Berlin-Schönefeld aufbricht und Stunden später in der steinigen Tunguska ankommt, erwarten die kleine Expedition zahlreiche Überraschungen. Finanziert wird das Forschungsunternehmen von einem neureichen russischen Geschäftsmann, der sein Geld durch das Fördern von Erdgas verdient. Aalglatt und korrupt in seinem Auftreten, weckt er nicht im mindesten Sympathie bei der deutschen Gruppe von Forschern. Auch seine gedungenen Söldner stärken das Vertrauen nicht, weder bei den deutschen noch bei den russischen Kollegen aus dieser Region, die außer ein paar Ureinwohnern, den Ewenken, noch immer nicht dichter besiedelt ist als vor knapp hundert Jahren.

Als Dr. Viktoria Vandenberg und ihre Kollegen bei einem Tauchgang in dem nahegelegenen See, der die Einschlagstelle des Meteoriten gewesen sein soll, eine merkwürdige Stange bergen wollen, entweicht eine Gasblase und zieht Viktoria mit unglaublicher Gewalt, die eine Flutwelle auslöst, mit sich.

Die junge Frau wird von einem Einsiedler mehr tot als lebendig geborgen. Der ehemalige Soldat mit dem Namen Leonid, der in der Taiga aufgewachsen ist und wie sein Onkel schamanistische Kräfte besitz, wirkt eindrucks- und geheimnisvoll auf die junge Forscherin. Viktoria verliebt sich in den Nachfahren eines mächtigen Schamanen, und dieser ahnt, dass sein eigenes Schicksal mit dem Rätsel von Tunguska unlösbar verbunden ist.

_Kritik_

Die Autorin Martina André verbindet in ihrem Roman „Schamanenfeuer. Das Geheimnis von Tunguksa“ gekonnt Fiktion und Fakten. Ihr neuer Roman ist spannend, abwechslungsreich und inhaltlich sehr gründlich recherchiert.

Erzählt wird die Handlung über zwei Zeitebenen: die der Revolution um 1905, in der das Schicksal des jungen Leonards untrennbar mit der Katastrophe von Tunguska verbunden ist, und jene der Gegenwart, einhundert Jahre später, in der die wissenschaftliche Delegation die Ursache dieser vernichtenden Kraft erforschen will. Abwechselnd werden beide Geschichten parallel zueinander immer weiter ausgebaut, ohne dabei vorab dem Leser mehr zu verraten als unbedingt nötig, was der Spannung nur zuträglich ist.

Dieser Spannungsbogen baut sich von den ersten Seiten an konstant weiter auf. Allerdings ist die Handlung im Jahre 1905 atmosphärisch dichter, dafür ist die Gegenwart umso reicher an Actioninhalten. Dies ist wohl von der Autorin so gewollt und auch in sich logisch für die Entwicklung der Geschichte.

Interessant und packend wird der Beginn des „Blutsonntags“ dargestellt, einhergehend mit der Verhaftung der beiden Protagonisten Leonard und Katja, die auch später in der Handlung noch eine Rolle spielen werden. Dabei kann man als Leser beinahe spüren, wie die Gewaltbereitschaft ansteigt und letztlich ausbricht. Die Deportation und das Leben in der Gefangenschaft eines russischen Arbeitslagers sind rührend und dramatisch beschrieben. Wie auch immer die Bedingungen wirklich in solchen Arbeitslagern gewesen sein mögen – Martina André versteht es ausgezeichnet, die Ängste und den Schrecken der jungen Menschen dort einzufangen und bildlich darzustellen.

Mit viel Sinn fürs Detail erschafft die Autorin rund um die Protagonisten eine Welt, in der Gewalt, Angst und Verzweiflung ebenso ihren Platz und Stellenwert haben wie Mut, Selbstaufgabe und Liebe. Auch erotische Elemente haben ihren Platz in „Schamanenfeuer“ gefunden, was im Zusammenspiel mit den romantischen Inhalten besonders Leserinnen in ihren Bann schlagen wird. So wie Dr. Viktoria Vandenberg als starke und intelligente Frau der Moderne erscheint, ist der geheimnisvolle Einsiedler Leonid als männlicher Archetyp konzipiert. Während sie den modernen wissenschaftlichen Part übernimmt, stellen die Schamanen in der Handlung das mystische Element dar, die große Unbekannte, die Religion und Naturwissenschaften ‚geistreich‘ kombiniert.

Als schriftstellerische Freiheit lässt André ihre Schamanen aktive Zauberei ausüben und mystische Kräfte benutzen. Belegt ist allerdings, dass es Schamanen in den Regionen Sibiriens und der Mongolei gab und in geringer Zahl noch immer gibt. Das Wirken dieser Medizinmänner als sozialer und religiöser Randgruppe wurde von russischen Regimen und den Zaren nicht gerne gesehen, aber dennoch ersetzten sie die modernen Ärzte oftmals bei körperlichen und seelischen Krankheiten.

Romane, die im Ansatz ein wissenschaftliches Thema präsentieren, sind keine einfache Sache, und der Autor setzt sich mit seinen Ansichten stets kontroversen Meinungen und Kommentaren aus. Beiden Seiten gerecht zu werden, gelingt der Autorin hier ohne große Schwierigkeiten. Für manchen Leser wirkt der Schamanismus im Buch zwar eher wie fauler Zauber, der mit psychischen Tricks die Wahrnehmung der Zuschauer manipuliert, doch wird man solcherlei religiös durchsetzte Naturmedizin, wissenschaftlich ohnehin kaum analysieren können.

Martina André hat sich wie immer die allergrößte Mühe gegeben, ihre Handlung sauber mit Recherchen zu unterstützen und realitätsnah zu beschreiben, in diesem Fall insbesondere die Entwicklung einer auf Wasserstoff basierenden Waffe, an der Leonard von Schenkendorff zusammen mit anderen internierten Wissenschaftlern arbeitet. Wie auch eingangs schon angemerkt, wird die Ebene der Vergangenheit dichter und attraktiver erzählt. Auch sind dort die Protagonisten mit ihrer Charakterisierung vielfältiger und komplexer entworfen als ihre ‚Nachfahren‘. Doch auch dieser Eindruck ist eine Frage der der Perspektive einzelner Leser. Die Figuren der Gegenwart, die eher den aktiveren Part innehaben, sind solide und klarer umrissen konzipiert, dafür aber wechseln sie – sprachbildlich und wörtlich – doch oftmals die Lager, was der Handlung an Abwechslung und Wendungen sehr gut tut.

Augenzwinkernd beschreibt die Autorin am Rande einzelne Passagen aus der jüngeren und älteren Geschichte Russlands. Der Tschetschenienkrieg findet ebenso Beachtung wie beispielsweise das korrupte Verhalten einzelner Geschäftsleute, was allerdings weniger belehrend als vielmehr schelmisch und mit ironischem Humor präsentiert wird.

_Fazit_

„Schamanenfeuer. Das Geheimnis von Tunguska“ von Martina André ist wie ihre anderen Romane ausgesprochen empfehlenswert. Mit unterhaltsamer Spannung und gut recherchiertem Hintergrund versehen, ist es ein Vergnügen, diesen Roman zu lesen. Sollte an manchen Stellen allerdings der Leser skeptisch werden, gerade in jenen Kapiteln, in denen die Schamanen ihre Kräfte zeigen, so sollte man diese Vorgänge als Teil der hier präsentierten Geschichte hinnehmen. Genauso interessant und vielschichtig wird das zentrale Thema rund um die Katastrophe von Tunguska bearbeitet, die auch heute noch offene Fragen für Forschung und Wissenschaft bereithält. Auch hier lohnt es sich, selbst näher zu recherchieren.

_Die Autorin_

Martina André wurde 1961 in Bonn geboren. Sie ist Beamtin im Bundesministerium des Inneren und schreibt Action-Romane im mythisch-mystischen Bereich. Sie lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in der Nähe von Koblenz.

|494 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-352-00761-3|
http://www.martina-andre.info
http://www.aufbauverlag.de

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