Duncan, Hal – Vellum

_Der Schöpfer des ewigen Stundenbuches._

Wenig Infos gibt es über Hal Duncan, 1971 in Schottland geboren, Mitglied des „Glasgow Writer’s Circle“ und neben seiner Autorentätigkeit als Programmierer tätig. „Vellum“ ist sein erster Roman, der Beginn einer Trilogie, deren Fortsetzung „Ink“ noch auf ihre Übersetzung wartet. „Vellum“ jedenfalls hat großes Aufsehen bei der Kritikerschaft ausgelöst – und seinen Übersetzer Hannes Riffel vor eine titanische Aufgabe gestellt, die dieser meisterlich gelöst hat.

_Das Buch der Stunden._

Die Story von Vellum erfassen zu wollen, ist so ähnlich wie der Versuch, einen Ameisenhaufen mit bloßen Händen zu tragen. Zunächst scheint einem das zu gelingen, wenn man von Unkin spricht, von Wesen, die gegeneinander Krieg führten und deren Sprache die Wirklichkeit zu formen in der Lage ist. Eine Phase der Einigkeit, ein Konvent zur Sicherung des Friedens, Unkin werden zu Engeln, aber nicht alle, Abtrünnige bleiben übrig, Dämonen, Grundstein für einen Krieg, der die Wirklichkeit erschüttert.

Zwischen all dem das ewige Stundenbuch, ein Buch, um das sich die Legenden ranken: alle Namen Gottes enthalte es, oder alle Sünden, oder alle Möglichkeiten, welche die Realität annehmen kann, oder, oder, oder. Reynard Carter schließlich findet dieses Buch, öffnet es, und verspritzt sich damit selbst über eine unüberschaubare Vielzahl von Wirklichkeiten.

Und genau an diesem Punkt beginnt sich der Ameisenhaufen schon aufzulösen: die Figuren krabbeln davon, die Handlungsstränge, Realitätsachsen und Zeitebenen, wie Ameisen kriechen sie einem über Arme und Beine, über das Gesicht hinab in den Kragen, wo sie zwicken und beißen, als wollten sie den Leser dafür bestrafen, dass er versucht, sie in ihrer ganzen Gestalt zu erfassen.

Thomas Messenger, Phreedom Messenger, besagter Reynard Carter, Seamus Finnan – sie alle treten auf, in verschiedenen Gestalten, zu verschiedenen Zeiten, unter anderem Namen, und als Leser muss man sich darauf verlassen, dass „die Dinge bleiben, was sie sind, je mehr sie sich verändern“, wie es irgendwo im Buch heißt. Lose wuchert die Geschichte um den Krieg zwischen Engeln und Dämonen, und um die Idee, dass sich die Realität falten lässt – auch wenn es wohl so etwas wie Kielwasser hinterlässt, wenn man sich recht dämlich anstellt beim Hüpfen durch die Wirklichkeitsebenen.

_Das Buch der zappelnden Szenen._

„Vellum“ wird alle Leser verschrecken, die es nicht leiden können, wenn es krabbelt und wimmelt, wenn es nichts gibt, was man packen kann. Um eines vorweg zu nehmen: Ich bin absolut kein Freund von Standardlektüre und begrüße jede Form des Experiments und der Konventionsdemontage. Eigentlich müsste ich also vor Verzückung im Dreieck springen und „Vellum“ einen Schrein in meinem Bücherregal errichten. Eigentlich.

Duncan bombardiert den Leser mit Informationen, mit Andeutungen, mit Auszügen aus mythischen Texten, mit Legenden, mit hart geschnittenen Action-Szenen, mit bizarren Dialogen, mit abgefahrenen Ideen, kurzum, er überschwemmt den Leser mit Einzelheiten, ohne eine Orientierung anzubieten, was denn nun für den Rest des Romans wichtig ist und was nicht. Story? Bestimmt. Irgendwo, zwischen den Zeilen, verschüttet vom Informationsoverkill; es besteht akute Migränegefahr beim Versuch, sie herauszufiltern. Manchmal kommt einem der wenig freundliche Gedanke, dass Duncan der Einzige ist, der weiß, was er mit seinem Buch wirklich sagen möchte, und dass er eine Mordsfreude dabei empfindet, wenn er sich seine Leser vorstellt, mit ratloser Grimasse sich am Kopf kratzend und auf der Suche nach einem roten Faden oder wenigstens einem Sinn.

Oh, vielleicht bin ich einfach zu dämlich, um diesen tieferen Sinn zu verstehen, vielleicht ist meine Suche nach einem tieferen Sinn schon Ausdruck von betonköpfiger Ignoranz, die sich „Vellum“ niemals nähern können wird. Dementsprechend sollen meine Worte auf keinen Fall als Aufruf missverstanden werden, die Finger von diesem Buch zu lassen! Ich persönlich weigere mich nur, vor Ehrfurcht zu erstarren, sobald ich etwas lese, das ich nicht verstehe. Und nur ich persönlich erwarte von einem Autor, dass auch er/sie sich etwas Mühe gibt, so etwas wie Spannung zu entfachen und eine Handlung zu erschaffen, irgendetwas, das auch einen Sog erzeugt und mich dazu zwingt, weiterzulesen. Duncan erwartet diese Mühe von seinen Lesern. Die Handlung muss man sich selbst herausarbeiten, die Motivation weiterzulesen selbst aufbringen und die Entscheidung darüber, ob das Ergebnis spannend ist, muss man selbst treffen.

_Das Buch der Geduldsproben._

Mit Sicherheit wird es Leser geben, für die genau die Patchwork-Dramaturgie von „Vellum“ einen solchen Sog erzeugt, denn ein gewisser Reiz wohnt den Szenenfetzen durchaus inne. Man liest einfach weiter, nur um herauszufinden, was denn wohl als nächstes geschehen mag. Auch Duncans sprachliche Fähigkeiten stehen außer Frage. Er verfügt über eine angenehm unverbrauchte und bildliche Sprache, jongliert gekonnt mit Metaphern, und wenn er es einmal schafft, dass dem Leser ein Licht aufgeht, dass dieser sich irgendwie orientieren zu können glaubt, dann packen Duncans Stilmittel auch kraftvoll zu. Schon in der nächsten Szene ist man allerdings derart damit beschäftigt herauszufinden, an welchem Punkt der Geschichte man sich nun wieder befindet, dass Duncans Sprachkraft einfach am Leser vorbeirauscht.

Es steht diesem aber eine faszinierende Reise bevor, wenn er die Mühe aufbringen möchte, sich all die Details zu merken und miteinander in Beziehung zu setzen. Denn genau das ist nötig, um all die Querverweise überhaupt erst einmal wahrzunehmen, die sich innerhalb der Geschichte und zwischen ihren Figuren auftun. Wenn man dann auch noch bereit ist, diese Detailmenge so lange mit sich herumzuschleppen, bis Teil zwei und drei erschienen sind, wo es wahrscheinlich ähnlich anspruchsvoll zugeht, dann kann man sich ruhigen Gewissens auf Hal Duncans Romanerstling stürzen.

Für mich persönlich würde das allerdings bedeuten, dass ich „Vellum“ nochmals lesen müsste, wenn der Nachfolger veröffentlicht wird, damit ich den Überblick nicht verliere. Ähnlich wird es mir dann mit diesem Nachfolger gehen, wenn die Veröffentlichung des dritten Teils ansteht. Bereits von der Vorstellung bekomme ich Kopfschmerzen. Ich persönlich werde daher einen weiten Bogen um alles machen, was mit dem „Buch der Stunden“ zu tun hat, und bin eben doch konservativer, als ich dachte – dieses Romanexperiment geht mir einfach zu weit.

Und „Experiment“ ist genau das Schlüsselwort. Offengeistigen Phantastik-Freunden, die bei diesem Wort zu lächeln beginnen, sei hiermit eine klare Antest-Empfehlung ausgesprochen. Alle anderen tun gut daran, ein Päckchen Aspirin in Griffnähe zu haben, wenn sie sich an „Vellum“ heranwagen. Anspruchsvolle, anstrengende Kost, die dem Leser keine Kompromisse anbietet.

|Originaltitel: Vellum
Übersetzt von Hannes Riffel
Taschenbuch, Broschur, 592 Seiten
ISBN-13: 978-3-453-52254-1|
http.//www.heyne.de