Everett, Daniel – glücklichste Volk, Das

_Inhalt:_

Daniel Everett machte sich als junger Mann auf, um den Pirahã-Indianern am Amazonas den christlichen Glauben nahezubringen. Jahrzehnte später liefert er ein faszinierendes Werk ab, in dem er die fremdartige Kultur und speziell die eigentümliche Sprache der Pirahã schildert.

Die Menschen sind zäh, fit und lachen viel und gerne. Sie schlafen und essen wenig und leben fast ausschließlich für den Moment. Einen Chef, Häuptling oder König kennen sie nicht – die Gemeinschaft ist es, die zählt, und ihre Strafen sind äußerst wirksam. Die Pirahã kennen keine Zahlen, führen ein extrem umweltbezogenes Leben, kommunizieren mit Geistern und zweifeln alles an, wofür es keine lebenden Augenzeugen gibt.

Speziell letzterer Punkt macht es natürlich so gut wie unmöglich, ihnen die Geschichte des vor zweitausend Jahren geborenen Heilsbringers beizubringen: Wer denn diesen Jesus gesehen habe? Oh, was, kein Freund von dir? Danke – dann lieber nicht. Wie wenig diese ruhige, selbstgenügsame Gesellschaft und der für seine Aufgabe brennende, blutjunge Missionar am Anfang zusammen passen, kann man sich lebhaft vorstellen.

Aber langsam wächst Everetts Interesse an den Pirahã. Was ihm anfangs fragwürdig erschien, weil es seinen eigenen Konventionen widersprach, kommt ihm mit der Zeit immer vernünftiger vor. Und allmählich hinterfragt er immer mehr Dinge, die er als gegeben angenommen hatte, weil er mit ihnen aufgewachsen war, und verwirft, was ihm falsch erscheint. Im Zuge dieses „Entrümpelns“ bleibt auch sein Glaube auf der Strecke: Er soll Menschen, die glücklicher und zufriedener sind als die Bürger der modernen Gesellschaft, beibringen, dass sie verloren seien, um sie erretten zu können? Das ergibt keinen Sinn mehr: Der Bekehrer wird zum Bekehrten.

_Kritik:_

Everett zaubert faszinierende Bilder vor das Leserauge. Die Urtümlichkeit des Dschungels und die uns so schwierig erscheinende Einfachheit der Pirahã entführen in eine völlig andere Welt. Die Tatsache, dass Everett halb eine Erzählung und halb einen Forschungsbericht inklusive Fotos abliefert, vermittelt ziemlich genaue Vorstellungen.

Mit dem ehemaligen Missionar und Sprachwissenschaftler macht man die ersten Schritte auf unbekanntes Terrain, steht hilflos vor Problemen, ist geängstigt, fasziniert, abgestoßen oder angezogen. Auch das behutsam wachsende Verstehen ist nachvollziehbar dargestellt, und man folgt Everett gern auf seinen verschlungenen Pfaden in die fremde Kultur. Man darf allerdings nicht vergessen, dass Everett Wissenschaftler ist und Pirahã eine Sprache, die wenigen anderen Sprachen gleicht. Die krassen Unterschiede zu allgemein bekannten Sprachen werden zu verdeutlichen versucht, was natürlich eine Menge Raum einnimmt.

Tatsächlich ist es aber wohl fast unmöglich, so etwas wie den Knacklaut schriftlich korrekt wiederzugeben. Der dritte Teil des Buches, der sich mit der Sprache beschäftigt, wirkt nach den abenteuerlicheren ersten beiden etwas trocken, weil man längst vergessen hat, dass es sich hier ja eigentlich um ein Sachbuch handelt. Wenn man sich aber erst einmal wieder darauf eingelassen hat, ist die Andersartigkeit des Pirahã ebenso faszinierend wie die Kultur und das Leben derer, die es sprechen.

_Fazit:_

Daniel Everett hatte das Glück, Dinge zu erleben, die den eigenen Horizont sprengen. Natürlich tun sie das immer, ob man nun gerade darauf vorbereitet ist oder nicht, was sicherlich manchmal – sagen wir: anstrengend sein kann. Die Chance aber, sein ganzes Leben unter einem anderen Blickwinkel zu betrachten und den eigenen Standpunkt ändern zu können, ist wahrscheinlich viel weniger Menschen gegeben als allgemein angenommen. Allein das macht schon Wert, dieses Buch zu lesen.

Dass hier außerdem Dinge aufgezeichnet werden, die die Sprachwissenschaft, wie sie bisher war, komplett in Frage stellen und allgemeingültige Theorien ins Wanken bringen, ist dann noch einmal eine ganz andere Geschichte. Alles in Allem ist „Das glücklichste Volk“ ein Gänsehautbuch, das den Blick auf die Welt zu verändern im Stande ist, ob man den geschilderten Situationen nun mit Verständnis gegenüber steht oder nicht. Everett schreibt keine Fiktion, er schreibt davon, wie es ist. Und die Exotik der Denkweise und der Prioritäten der Pirahã gehen auf jeden Fall unter die Haut. Lesen Sie es, Sie werden es nicht bereuen.

|Gebundene Ausgabe: 414 Seiten
Originaltitel: Don’t Sleep, There Are Snakes
ISBN-13: 978-3421043078
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel|
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