Dashiell Hammett – Der dünne Mann. Ein Fall für Nick Charles

Papierexistenzen: ein höchst seltsamer Mordfall

Der Erfinder Clyde Wynant ist verschwunden, als seine Sekretärin Julia Wolf ermordet in ihrer Wohnung aufgefunden wird. Wer ist der Mörder? Wynants Tochter Dorothy? Oder Wynants geschiedene Frau Mimi Jorgensen, die die Sekretärin (und Geliebte) ihres Ex-Mannes gehasst hatte? Und wo ist Wynant selbst? Da erhält Wyannts Anwalt Herbert Macaulay einen Brief von seinem verschwundenen Mandanten. Exdetektiv Nick Charles übernimmt den rätselhaften Fall, seine Frau Nora und sein Hund Asta helfen ihm tatkräftig.

Der Autor

Dashiell Hammett gehört zusammen mit Raymond Chandler zu den geistigen Vätern des »Hardboiled«, des realistischen, härteren Krimis amerikanischer Art. Im Gegensatz zu den klassischen Krimis des Golden Age (Arthur Conan Doyle / Sherlock Holmes, Agatha Christie / Miss Marple / Hercule Poirot, etc.) sind in Hammetts Krimis sowohl die Gesellschaft als auch seine Protagonisten verroht. Habgier, Betrug und Gewalt bestimmen das Leben, seine taffen Detektive ermitteln ohne Moral, aber mit Prinzipien. Wie seine »Helden« ist auch der Autor vom Leben hart getroffen.

1894 wurde Dashiell Hammett als Sohn eines Politikers und Farmers und einer gelernten Krankenschwester geboren. Sie zogen nach seiner Geburt von St. Mary’s County, Maryland, nach Philadelphia und Baltimore. Bereits mit 14 Jahren verließ er die Schule, um seine Familie zu unterstützen. Hammett übte die verschiedensten Berufe aus, war Zeitungsjunge, Kurier, Leiter einer Werbeabteilung, bis er schließlich bei der Detektei Pinkerton in Baltimore anfing und dort acht Jahre arbeitete.

Während des Ersten Weltkriegs erkrankte Hammett an der Spanischen Grippe, was zu einer schweren Tuberkulose führte, an der Hammett sein ganzes Leben leiden sollte. Nach dem Krieg fing er wieder bei Pinkerton an. Doch das Gehalt war gering, er schrieb Anzeigentexte für ein Juweliergeschäft in San Francisco.

Zu dieser Zeit erblickt „Continental Op“ das Licht der literarischen Bühne, Dashiell Hammetts erste kriminalistische Schöpfung und gleichzeitig der erste wirklich glaubhafte Detektiv in der amerikanischen Literatur. Über ihn schrieb Hammett insgesamt 30 Geschichten. Auch Hollywood wurde aufmerksam auf den Schriftsteller: Sam Spade, eine weitere Figur Hammetts, wurde später mit dem legendären Humphrey Bogart als dessen Darsteller in „Der Malteser Falke“ verfilmt.

In den 30ern wurde Hammett politisch aktiv, engagierte sich in der Kommunistischen Partei. Während des II. Weltkriegs diente Hammet drei Jahre in der US Army, war mitverantwortlich für ein Truppenblatt. 1948 wurde er Vorsitzender des Civil Right Congress. 1951 sollte sich seine politische Gesinnung und Aktivität als folgenschweres Verhängnis erweisen. Schon verfolgt vom Ausschuss für »unamerikanische Aktivitäten« im Rahmen von Senator McCarthys Anti-Kommunismus-Feldzug, wanderte er für fünf Monate ins Gefängnis, wurde jeglicher Publikationsmöglichkeiten beraubt.

Den Rest seines Lebens verbrachte der schwerkranke Hammett in New York, lehrte »Creative Writing« an der School of Social Science von 1946 bis 1956. Seine treue Weggefährtin Lilian Hellman pflegte den Autor ohne Berührungsängste vor dessen Tuberkulose ab 1956. Dashiell Hammett starb am 10. Januar 1961 völlig verarmt an Lungenkrebs. (Quelle: „krimi-couch.de“) In dem Erzählband „Fliegenpapier“ liefert Hellman eine anschauliche Skizze vom Leben des Schriftstellers und seiner Ehe mit Hellman.

Kriminalromane von Dashiell Hammett:

1) Bluternte / Rote Ernte (Red Harvest, 1929)
2) Der Fluch des Hauses Dain (The Dain Curse, 1929)
3) Der Malteser Falke (The Maltese Falcon, 1930)
4) Der gläserne Schlüssel (The Glass Key, 1931)
5) Der dünne Mann (The Thin Man, 1934)

Handlung

Heiligabend 1932 in New York City. Nick Charles, ein Ex-Detektiv griechischer Herkunft, der eigentlich in San Francisco als reicher Erbe lebt, ist mit seiner Frau Nora und seinem Hund Asta in New York, um das kultivierte Leben und die Partys mit Freunden zu genießen. Denn Nick hat hier etliche Jahre als Privatdetektiv einer Agentur gearbeitet. Eines Abends fragt ihn eine junge Frau nach der Adresse seines früheren Detektei-Klienten Clyde Wynant. Sie ist Dorothy Wynant und lebt mit ihrer Mutter Mimi Jorgensen, Wynants Exfrau, in den Courtland Apartments. Nick rät ihr, Wynants Anwalt Herbert Macaulay anzurufen.

Macaulay kommt zu Nick, weil er wegen Dorothys Anfrage eine Art Komplott wittert. Clyde Wynant, der bekannte Erfinder, war ein Jahr in der Nervenheilanstalt und ist zur Zeit verschwunden. Nick tut völlig ahnungslos, auch als die nervöse Mimi Jorgensen selbst neugierig nach Wynants Verbleib fragt. Aber dann liest er in der Zeitung von der Ermordung Julia Wolfs, der Sekretärin und Geliebten des Erfinders. Diese Sache wird ja immer rätselhafter. Darauf erst mal einen Drink!

Wenig später taucht die kleine Dorothy wieder auf, um Schutz vor ihrer garstigen Mutter Mimi zu suchen. Auch sie spricht den Drinks der Charleses zu, weil es wegen der Prohibition ein Ausschankverbot gibt. Ein paar Stunden, nachdem sie mit einem der Gäste weg war, kehrt sie zurück: mit einem Revolver in der Tasche. Ein ungewöhnliches Utensil für eine junge Lady, finden Nick und Nora. Dorothy sagt, sie habe das Ding aus einem Speakeasy, einer versteckten Spelunke, für zwölf Dollar von einem der Killer dort bekommen.

Nick findet, dass Dorothy vielleicht nicht ganz richtig im Oberstübchen ist, aber was kann man von einer Erfindertochter erwarten, die – wie sich bald herausstellt – von ihrer Mutter grün und blau geschlagen wird? Und wer weiß, was Chris Jorgensen, ihr Stiefvater, sowie ihr Bruder Gilbert alles mit ihr anstellen? Als besagte Mutter erneut bei Nick vorspricht, horcht sie ihn erst darüber aus, ob er etwas über Wynants Aufenthaltsort weiß, dann nimmt sie ihre Tochter mit. Diese kehrt später verprügelt zurück und erbittet Obdach, das ihr prompt gewährt wird.

Inzwischen posaunen die Zeitung hinaus, dass sich der (ehemalige) Detektiv Nick Charles des Falles Julia Wolf angenommen habe und sowohl Mr. Wynant als auch Julias Begleiter suche. Selbiger Begleiter steht wenige Stunden später in Nicks Schlafzimmer. Mit einer 38er im Anschlag. Die macht Nick reichlich nervös. Der Typ, ein gewisser Shep Morelli, lässt jedoch mit sich reden. Er sei Julias Freund gewesen, sagt er, aber er habe sie nicht getötet, ganz ehrlich. Sein Freund Studsy Burke wolle Nick jedoch wiedersehen, seitdem man ihn aus Sing-Sing entlassen habe (wohin Nick ihn gebracht hatte).

Da klopft es energisch an der Tür zur Suite von Nick und Nora. Ist das ein Betrieb heute! Das Klopfen macht Shep Morellis Zeigefinger hypernervös, wie Nick gleich sieht. Es sind die Bullen! Auch das noch. Morelli zielt auf Nicks Brust. Nick reagiert jedoch schnell, schlägt Nora mit seiner linken Faust k.o. und schleudert sein Kissen mit der Rechten auf die Pistole.

Nicht schnell genug. Morelli feuert …

Mein Eindruck

Von da an wird der Fall immer mysteriöser. Weitere Leichen tauchen auf, offenbar um ein Geheimnis, das Julia Wolf umgibt, zu vertuschen. Denn die Assistentin Wynants war zu Lebzeiten keineswegs ein Unschuldslamm, das kein Wässerchen trüben konnte, sondern vielmehr wohl so etwas wie eine Trickbetrügerin aus Cleveland. Ein Spitzel der Polizei wurde mit der gleichen Waffe wie sie erschossen.

Interessant ist natürlich, dass es Mimi Jorgensen, die leicht hysterische Exfrau Wynants, war, die Julias Leiche fand. Was tat sie, bevor sie ihren grausigen Fund den Cops meldete, würde Nick zu gern wissen. Dieses Geheimnis gedenkt Mimi, die wegen ihres spendierfreudigen zweiten Mannes mittlerweile pleite ist, meistbietend zu verkaufen. Damit beißt sie jedoch bei Nick auf Granit. Nora findet Mimis Lippenstiftspuren alles andere als appetitlich.

Überhaupt, die Jorgensens! Was für eine verrückte Familie, denken Nick und Nora nach einigen Treffen. Mimi ist ja schon schlimm genug, doch ihr Mann erweist sich als Bigamist mit einem Doppelleben, der 18-jährige Gilbert stellt seltsame Fragen nach Morphium, Inzest und Kannibalismus, während sich die süße Dorothy Hals über Kopf in Nick verliebt. Das setzt dem ganzen Fall in Noras Augen die Krone auf.

In zahlreichen „Gesprächen“ (Verhören?) tauschen sich Nick und Lt. Guild über die Vorgänge in diesem Fall aus, und Nick schickt ihm erst ein Telegramm, einen Brief um den anderen. Nicht zuletzt, um sich vor Verdächtigungen zu schützen, mit denen Mimi Jorgensen großzügig um sich wirft.

Das Merkwürdigste an diesem Fall ist jedoch, dass Nick Julia Wolfs mutmaßlichen Mörder Clyde Wynant niemals zu Gesicht bekommt. Einmal soll er ihn um wenige Minuten bei Mimi verpasst haben. Doch Nick ist bei allen Angaben, die Mimi macht, sehr vorsichtig geworden. Am Schluss gibt es nur eine Schlussfolgerung über diesen sehr dünnen Mann, die allen Ermittlungsergebnissen einen Sinn verleiht. Und des Rätsels Lösung findet sich im Betonboden von Wynants Werkstatt …

Die Übersetzung

Der Übersetzung von Tom Knoth merkt man deutlich an, dass sie aus den Siebzigerjahren stammt. Die Leute reden, als wären sie Figuren in einem alten Edgar-Wallace-Film, also stilecht in der Gaunersprache, aber kaum noch verständlich für die Internetgeneration. Eine Neuübersetzung wäre dringend erforderlich.

Gefundene Fehler:

S. 64: „vefehlt“ statt „verfehlt“

S. 90/91: „Ich hatte rechts ausgelegt.“ Das ist Boxersprache und bedeutet (vermutlich), dass er einen rechten Haken schlug. Das machte Studsy Burke für Nick, der ihn niederschlug, ziemlich berechenbar.

S. 97: „Ich sage nur, alles nicht weist auf Wynant.“ Ein übler Fall von schlechter Satzkorrektur. Die Wortstellung ist aus den Fugen. Korrekt müsste es heißen: „Ich sage nur, nicht alles weist auf Wynant.“

S. 97: Und was, bitteschön, ist ein „Animus“, von dem Nick hier redet? Bei C.G. Jung ist dies die männliche Entsprechung zur weiblichen Anima oder Seele. Ich bin aber nicht sicher, dass dies hier gemeint ist; vielmehr in der Bedeutung von „Ahnung“.

Unterm Strich

Von Bob Dylan stammt die bekannte „Ballad of a Thin Man“, die auf „Highway 61 Revisited“ zu finden ist. Der Titel, ein direkter Bezug auf „The Thin Man“ (1934) ist eine ätzende Kritik an Reportern, die nichts kapieren, aber dennoch was drüber schreiben sollen. Ihre Dünnheit rührt wie die von Clyde Wynant, dem „dünnen Mann“, bildlich gesprochen von den dünnen Papieren her, mit denen sie sich täglich abgeben.

Beiden Kreaturen fehlt jegliche reale Existenz, sie sind imaginär. Dennoch profitieren eine ganze Menge Nutznießer von ihrer Nichtexistenz, was schon recht erstaunlich ist. Aber der „dünne Mann“ entspricht dem neuen Kapitalismus, der, wie Nicks und Wynants Wertpapiere und Aktien, nur noch auf dem Papier einen Nennwert hat. Klingt doch recht modern. Der Krimi ist also eine versteckte Kritik an diesen Praktiken.

Die Lektüre fiel mir nach dem ersten Actionhöhepunkt zunehmend schwerer, da nichts passierte, das man als Action bezeichnen könnte. Nick Charles ist jedoch ein Ermittler ganz anderen Typs als etwa Sam Spade oder Philip Marlowe, die eher als einsame Wölfe die Straßen durchstreifen. Er bewegt sich in geselligen Kreisen, ist verheiratet, hat einen Hund und auch sonst gut verbandelt. Seine ironischen Kabbeleien mit Nora gehören stets zu den Schlusspointen vieler Kapitel.

Deshalb sind Nicks Dialoggefechte mit den zahlreichen Verdächtigen im Mordfall Julia Wolf so elementar wichtig für das Vorankommen des Falls. Seine schlimmste Gegnerin in dieser Hinsicht ist zweifellos die zwielichtige Mimi Jorgensen, eine formidable Gegnerin, die eine Kombination aus wütender Megäre, hinterlistig verführerischer Lilith und berechnendem Luder darstellt – eine wirklich bemerkenswerte Romanfigur.

Zum Glück verfügt Nick nicht nur über Verbindungen und Geduld, sondern auch über jede Menge Erfahrung. Mehr Erfahrung jedenfalls als Lt. Guild, der ihn nur zu gern auf seiner Seite hätte. Und so ist Nick wie weiland Auguste Dupin in der Lage, mit seiner Logik an Stellen dieses Falles zu schauen, die andere übersehen. Und diese Logik lässt nur einen Schluss zu. Doch das darf hier nicht verraten werden.

Ansonsten führt uns dieser Roman in die schummrige Welt von Speakeasys, Fundbüros, Anwaltskanzleiens, Polizeirevieren und Apartments abgebrannter Bewohner. Es sind die Dreißigerjahre, die Weltwirtschaftskrise hat ihre Spuren hinterlassen, doch es wird schon wieder kräftig spekuliert. Leute schlagen sich mit allen möglichen Tricks durchs Leben, sei es Bigamie, Hochstapelei, Mätressentum und Spitzeldiensten. In dieser Hinsicht ist der Roman ein ausgezeichnetes Porträt der Great Depression in den 1930er Jahren Amerikas.

Taschenbuch: 232 Seiten
Originaltitel: The Thin Man, 1934;
Aus dem US-Englischen von Tom Knoth
ISBN-13: 978-3257202953

http://www.diogenes.de

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