Jean Ray – Die Gasse der Finsternis. Phantastische Erzählungen

Ray Gasse Cover kleinEin Dutzend Dracheneier für Leser, die Phantastik mit Überraschungen lieben; für Jean Ray ist die Realität nur eine Schicht im Gewebe eines Universums, das in seiner Vielfalt meist außerhalb der menschlichen Wahrnehmung bleibt; unterhaltungsintensiv, mit enormem Einfallsreichtum, und drastischen Effekten schildert der Verfasser, was geschieht, wenn diese Schichten zufällig kollidieren.

Inhalt:

Die Gasse der Finsternis (La ruelle ténébreuse), S. 7-50: In Hamburg führt eine kleine Gasse direkt in eine andere Dimension führt. Nur Professor Archipêtre kennt den Eingang, was den unheimlichen Bewohnern nicht lange verborgen bleibt.

Null Uhr zwanzig (Minuit vingt), S. 51-55: Der habgierige Händler freut sich, den armen Uhrmacher über den Tisch gezogen zu haben, bis er nach Mitternacht herausfindet, wieso der Preis so niedrig war.

Die Weiße Bestie (La bête blanche), S. 56-63: In einer Berghöhle stößt der Einsiedler auf eine Goldader, aber die Freude hält sich in Grenzen, als er anschließend auch den Hausherrn trifft.

Der Friedhofswächter (La gardien du cimetière), S. 64-75: Der arme Vagabund freut sich über die einträgliche Wächterstelle auf einem privaten Friedhof, bis ihm der schreckliche Verdacht kommt, dass dort nicht alle Toten in Frieden ruhen.

M. Wohlmut und Franz Benschneider (M. Wohlmut et Franz Benschneider), S. 76-85: Ein fröhlicher Säufer findet eine Flasche mit einem Trunk, der ihm und seinem Zechgenossen buchstäblich neue Welten öffnet.

Die Nacht von Pentonville (La nuit de Pentonville), S. 86-98: Seinen 100. ‚Kunden‘ wird er heute auf die Reise schicken, prahlt der Henker; in der Nacht kommen die Geister der 99 Vorgänger, um ihm auf ihre Weise zu gratulieren.

Nächtlicher Reigen in Königstein (Rondo de nuit à Koenigstein), S. 99-112: Im Schwarzwald steht ein altes Schloss, in dem ein Engel umgeht, der nicht durch die seiner Spezies gemeinhin zugeschriebenen Menschenfreundlichkeit glänzen mag.

Der Uhu (Le Uhu), S. 113-118: Neben der Welt, wie wir sie kennen, existiert ein Kosmos elementarer Kräfte, die man nicht leichtfertig heraufbeschwören sollte.

Mainzer Psalter (Le psautier de Mayence), S. 119-156: Ein kleines Schiff, bemannt mit gescheiterten Existenzen, wird von einem skrupellosen Hexenmeister als Instrument in einem magischen Krieg missbraucht.

Vetter Passeroux (Le cousin Passeroux), S. 157-174: „Wie ich – zerschnitten, gefressen, verfault“, verflucht der sterbende Medizinmann seinen Mörder, und was er sagt, das meint er auch.

Der Eiserne Tempel (Le temple de fer), S. 175-239: Der berühmte Detektiv Harry Dickson aus London hilft einem Pionier der Weltraumfahrt, der zum Gefangenen einer unfreundlichen, womöglich außerirdischen Kreatur geworden ist.

Straßen (Rues), S. 240-249: Eine kurze Bestandsaufnahme von Straßen, die auf dieser Welt beginnen, um in ganz anderen Dimensionen zu münden.

Die Realität ist auch Illusion

Trotz seines unglaublichen literarischen Ausstoßes gilt Jean Ray der Literaturkritik als einer der ganz Großen der europäischen Phantastik, der es durchaus mit Edgar Allan Poe aufnehmen kann. Das lässt sich für den Leser nachvollziehen, der Rays versponnenen, atmosphärisch dichten und wirklich gruseligen Geschichten schnell zu schätzen lernt. Ganz selbstverständlich ist dies freilich nicht; in Rays Kosmos der Seltsamkeiten muss man sich einlesen. Besonders wenn man den Schmalz-Horror aus den modernen Vampir-&-Engel-Fabriken gewöhnt ist, wird man sich womöglich schwer tun mit dem verspielten Surrealismus, der auch die Geschichten dieser Sammlung prägt.

Bereits mit der ersten hier gesammelten Geschichte zeigt sich Ray von seiner besten Seite. Viel H. P. Lovecraft schwingt in „Die Gasse der Finsternis“ mit, wobei Ray trotz des liebevoll nostalgischen Ambientes mit beinhartem Horror nicht spart und eine angenehm eigenständige Variante der Geschichte von der Invasion aus einer fremden Dimension liefert. „Null Uhr zwanzig“ und „Die weiße Bestie“ können dagegen nur enttäuschen; sie gehören wohl zu jenen Stories, die Ray mit dem Teufel & dem Gerichtsvollzieher um die Wette schrieb. Aber „Der Friedhofswächter“, eine Vampir-Schauermär und die älteste der hier gesammelten Geschichten, macht dies umgehend wieder wett.

Die komischen Seiten des Grauens

„M. Wohlmut und Franz Benschneider“ mischen mit dem für Ray typischen Schwung Elemente des Unheimlichen mit denen der Science Fiction. Auch hier kommt dem Leser sofort Lovecraft in den Sinn, nur dass dieser meist völlig vermissen lässt, was Ray so meisterhaft unter Beweis stellt: einen gesunden Sinn für (schwarzen) Humor, der ihn zwar den Leser, aber nicht unbedingt die erzählte Geschichte ernst nehmen lässt. Man muss als Autor schon sehr souverän sein, um diesen Weg erfolgreich zu gehen. Mit „Die Nacht von Pentonville“ schlägt Ray sogleich zielsicher in dieselbe Kerbe, und mit „Nächtlicher Reigen in Königstein“, einer schrägen Geschichte um einen Spuk im Schloss, dessen übernatürlicher Verursacher sich als echte Überraschung erweist, übertrifft er sich selbst. „Vetter Passeroux“ ist die mit beinhartem Horror gespickte Geschichte einer übernatürlichen Rache – und gleichzeitig urkomisch, weil Ray sie in einer ganz besonders idyllischen Umgebung ansiedelt.

Rays Meisterstück ist freilich „Mainzer Psalter”, ein turbulentes, ungemein dynamisches Gruselabenteuer. Erzählt wird scheinbar die Geschichte einer mysteriösen Seefahrt, doch während wir diese gespannt verfolgen, wird uns bald klar, dass im Hintergrund noch ein ganz anderes Geschehen abläuft. Was genau geschieht, darüber lässt uns Ray gemeinsam mit den unglücklichen Männern der „Mainzer Psalter“ im Dunkeln. Ein böser Hexenmeister greift nach der Weltmacht und bringt dabei allerlei übernatürliche Gegner gegen sich auf, könnte man vermuten, aber es mag auch etwas ganz anderes vorgehen.

Aus der Urzeit des Groschenheftes

„Der eiserne Tempel“ ist nostalgischer Trash – eine Sammlung klassischer Klischees vom genialen Detektiv, der jede Herausforderung meistert. Harry Dickson ist die vergröberte, schier übermenschliche Kopie von Sherlock Holmes, den er freilich an Wagemut übertrifft. Diese Erzählung erschien ursprünglich als Nr. 93 von insgesamt 178 Heft-Romanen, die zwischen 1929 und 1938 die Abenteuer des Harry Dickson erzählten. Ray übersetzte die ursprünglich in Deutschland entstandenen und bereits vorliegenden Hefte für den belgischen und französischen Markt. Unzufrieden mit der Qualität dieser Vorlagen, ging er schon 1930 dazu über, sie zu bearbeiten. Zwei Jahre später verfasste er eigene Dickson-Abenteuer und hielt die Serie allein bis 1938 in Gang.

Bei aller Trivialität schimmert Rays unbändige Fabulierlust immer wieder durch; hier fragt man sich, ob er sich dieses Mal direkt aus dem Cthulhu-Mythos bediente: „Der eiserne Tempel“ erschien 1933, und es ist möglich, dass Ray die US-Pulps kannte, die Lovecraft-Storys brachten. Sollte dem so sein, fand er wie so oft seine eigene Interpretation des Vorbilds.

„Straßen“ ist ein würdiger Abschluss dieser Sammlung; scheinbar eine Dokumentation zum Thema verfluchte Straßen in der europäischen Geschichte, tatsächlich ein Steinchen im Mosaik der Rayschen Kosmologie, in die sich auch „Die Gasse der Finsternis“ oder „M. Wohlmut und Franz Benschneider“ einpassen lassen.

Was die Freude über diese vorzügliche Sammlung trüben kann, ist die Trauer angesichts der Tatsache, dass Rays unglaubliches Werk für den deutschen Gruselfreund verloren ist. Wohl kein Verlag wird sich seiner erbarmen, denn es lässt sich nur schwer in Schubladen stecken und ist für den Mainstream-Horror viel zu verquer. Zumindest ansatzweise (und antiquarisch) bietet „Die Gasse der Finsternis“ eine Möglichkeit, Jean Ray, den stillen, unscheinbaren Giganten der europäischen Phantastik kennenzulernen!

Autor

Nach eigener Auskunft war Raymundus Johannes Maria Kremer ein Abenteurer, Weltreisender, Schmuggler, Pirat, was man ihm nach der Lektüre seiner farbenprächtigen, schnurrigen, quicklebendigen Geschichten gern glauben möchte. Allerdings stimmt kein Wort davon; der vermeintliche Tausendsassa hat seine belgische Heimatstadt Gent, in welcher er am 8. Juli 1887 ins kleinbürgerliche Milieu geboren wurde, kaum verlassen. Nach gescheitertem Studium arbeitete er ab 1910 für die Stadtverwaltung, 1919 wurde er Journalist.

Als Schriftsteller entwickelte sich Kremer zu einem ungemein fleißigen Autor. Sein Œvre lässt sich dreiteilen. Da gab es Jean Ray, den Autoren unzähliger (französischsprachiger) Kurzgeschichten, die sich dem phantastischen Genre zuordnen lassen. Als „John Flanders“ oder unter einem anderen seiner zahlreichen Pseudonyme schrieb Kremer – in flämischer Sprache – Abenteuerromane für eher jugendliche Leser, aber auch etwa 300 Storys mit starken Science Fiction- und Fantasy-Elementen. Schließlich war Kremer noch der ungekrönte, wenn auch anonyme König des belgischen Heftromans, für den er die unglaublichen Abenteuer des Detektivs Harry Dickson in Serie spann.

Trotz seines gewaltigen literarischen Ausstoßes gilt Raymundus de Kremer als einer der Großen der europäischen Phantastik. Vor allem die in den 1940er Jahren entstandenen Geschichten und Romane werden von der Kritik gelobt. In den 1950er kehrte Kremer in die Minen der Trivial-Unterhaltung zurück. Vor dem endgültigen Versinken in obskure Anonymität bewahrte ihn die Neuveröffentlichung seiner Hauptwerke, doch das breite Publikum registrierte es nicht, als Kremer am 17. September 1964 im Alter von 77 Jahren starb.

Über Kremers Leben und Werk informiert ausführlich diese (französischsprachige) Website.

Taschenbuch: 250 Seiten
Originalausgabe
Übersetzung: Willy Thaler
http://www.suhrkamp.de

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