Kern, Claudia – Sturm (Der verwaiste Thron 1)

_Ana ist die Tochter des Fürsten von Somerstorm_, und als solche hat sie eine glänzende Zukunft vor sich. Ihr Fürstentum ist reich, sie ist mit dem Sohn des mächtigsten Fürsten im ganzen Reich verlobt, und heute ist der Tag, an dem sie volljährig wird.

Doch der Tag endet im Desaster! Ana findet sich auf der Flucht wieder, mit nichts als einem Kleid am Leib und einem Pferd unter sich. Ihre Eltern, sämtliche Geburtstagsgäste, die Gaukler und Musikanten, sie alle sind tot, die heimatliche Burg ist nun von Wesen besetzt, von denen die Menschen geglaubt hatten, sie wären für immer verbannt oder gar tot: den Nachtschatten. Allein ihr wortkarger Leibwächer Jonan ist noch bei ihr, doch sie traut ihm nicht, und in einem unbeobachteten Augenblick stiehlt sie sich davon – ein Fehler …

Ihr Bruder Gerit hat ebenfalls überlebt und sich auf dem Dach des höchsten Turmes versteckt. Doch natürlich bleibt er dort nicht lange unentdeckt. Schwarzklaue, der König der Angreifer, lässt ihn herunterholen, will ihn töten. Sein General Karvellan jedoch hält ihn davon ab. Gerit landet in der Küche, wo ihn täglich neue Misshandlungen und Demütigungen erwarten. Mit der Zeit kann er sich durchsetzen, er fängt an zu spionieren. Und dann geschieht das völlig Unerwartete: Seine Feinde schicken ihn mit einem Auftrag aus der Burg …

In Westfall rüstet man derweil zum Krieg. Der Fürst hat nach seinem Sohn geschickt, der sich zum Studium auf den Inseln der Meister aufhielt, und ihm den Oberbefehl über die Reiterei übergeben. Der junge Rickard soll vorausreiten und den Gegner überraschen, der Vater will mit dem Heer folgen. Rickard ist das gar nicht recht, denn in den Berichten aus Somerstorm hieß es, die Tochter des Fürsten sei entkommen. Deshalb würde er eigentlich viel lieber nach seiner Verlobten suchen, doch er wagt es nicht, sich dem Befehl seines Vaters zu widersetzen. Um nicht völlig tatenlos zu bleiben, bittet er seinen Freund Craymorus darum, die Suche für ihn zu übernehmen.

Craymorus wurde eigentlich von den Meistern der Insel mit Rickard nach Westfall geschickt, um den Fürsten dort im Hinblick auf die Nachtschatten zu beraten. Der lehnt einen Berater strickt ab, und so ist Craymorus dankbar für die Aufgabe, die Rickard ihm erteilt. Allzu viel kann er allerdings nicht ausrichten. Denn kaum haben der Fürst und sein Sohn Westfall verlassen, erscheint König Cascyr auf der Burg. Und er hat eine völlig andere Aufgabe für Craymorus …

_Das klingt nach einer Menge Handlungsstränge._ Im Grunde sind es aber nur drei:

Einer dreht sich um Gerit. Der Junge hat seinen Vater wie einen Feigling sterben sehen. Das hat sein Weltbild mindestens ebenso erschüttert wie das Massaker selbst. Die Distanzierung von seinem Vater und der feste Wille zum Mut retten ihm das Leben. Und sie helfen ihm, sich unter den Nachtschatten zu behaupten, auch wenn er zuerst noch einmal einen kleinen Schubs nötig hat. Nicht, dass er sich richtig wohlfühlen würde, zu fremd sind diese Wesen und ihre Art zu denken. Und doch geht eine Veränderung mit ihm vor, schleichend und unbemerkt. Mit der Zeit hört er auf, in den Nachtschatten primitive, grausame, blutrünstige Tieren zu sehen …

Der zweite Handlungsstrang beschäftigt sich mit Ana und Jonan. Wie Gerit ist auch Ana von ihrem Vater enttäuscht. Einer der Geburtstagsgäste hat sie vor allen Anwesenden schwer beleidigt, und ihr Vater hat ihr nicht beigestanden. Ana beschließt, dem Beispiel ihrer Mutter zu folgen und ihr Geschick selbst in die Hand zu nehmen. Für eine verwöhnte Fürstentochter erweist sie sich dabei als überraschend robust und gleichzeitig als erwartungsgemäß naiv und unerfahren. Jonan hat damit seine liebe Not. Nicht nur, dass Ana stets anderer Meinung zu sein scheint als er. Sie ist auch stur, und da er in ihren Diensten steht, ist er gezwungen, ihren Wünschen nachzugeben, was es ihm nicht gerade leicht macht, immerhin ist Jonan ein hervorragender Kämpfer. Alles andere, was man über ihn erfährt, verliert sich in Andeutungen, was Jonan sozusagen zum geheimnisumwitterten Beschützer macht.

Der dritte Strang schließlich erzählt von Rickard und Craymorus. Ein recht ungleiches Paar hat sich da angefreundet. Rickard ist lebhaft, unbekümmert und gutmütig, allerdings nicht sehr geduldig. Er ist als Krieger erzogen worden, von Wissenschaften und Magie versteht er nur wenig, und es interessiert ihn auch nicht. Mit Craymorus versteht er sich deshalb so gut, weil er sich trotz Craymorus‘ großem Wissen in dessen Gesellschaft nicht benachteiligt fühlt. Denn Craymorus ist ein Krüppel. Trotz metallener Beinschienen kann er nur an Krücken gehen. Als Zehnjähriger stürzte er auf der Flucht vor Nachtschatten eine Klippe hinunter, was ihm beide Beine zerschmetterte – ein traumatisches Erlebnis, das ihn nie losgelassen hat. Als er seine Zuflucht, die Insel der Meister, verlassen muss, holt ihn die unselige Mischung aus Angst und Hass wieder ein.

_Insgesamt ist die Charakterzeichnung auf ungewöhnliche Weise durchwachsen._ So ist Rickard knapp und präzise gezeichnet, bleibt aber dennoch ein wenig blass, was daran liegen mag, dass über sein Gefühlsleben kein Wort verloren wird, oder daran, dass er nach seinem Aufbruch Richtung Somerstorm so gut wie nicht mehr auftaucht. Craymorus dagegen ist in seiner Angst und seinen Selbstzweifeln äußerst menschlich und lebendig geraten. Das gilt ebenso für Gerits Entwicklung. Ana ist wiederum eher schwach gezeichnet, da sie sich über einen großen Zeitraum der Handlung unter Daneels Einfluß befand. Daneel ist einer jener Nebencharaktere, die stark auf die Handlung einwirken, obwohl sie weder näher beschrieben oder charakterisiert sind noch besonders viel tun. Zu diesen Personen gehört auch die Zofe Mellie, die gegen ihre Fürstin intrigiert. Oder König Cascyr, der einzig über einen Titel und eine Garde verfügt und dennoch seine gesamte Umgebung unter Druck setzt.

So kommt es, dass neben Craymorus und Gerit vor allem die eher schwach ausgearbeiteten Nebencharaktere das Interesse an der Geschichte wachhalten. Der Grund dafür liegt vor allem darin, dass sie gewisse Zusammenhänge innerhalb der Geschichte herstellen. Zum Beispiel fehlen Daneel sämtliche Zähne, was Gerit bereits zu Beginn der Geschichte zu der Frage veranlasst, ob Daneel wohl einst zur ewigen Garde gehörte. Die ewige Garde ist die Leibgarde des Königs, ihre Mitglieder sind nicht nur Krieger, sondern auch Magier. Und im Verlauf der Geschichte zeigt sich, dass Daneel tatsächlich eine ungewöhnliche Fähigkeit besitzt …

Sehr gelungen fand ich auch die Verknüpfung der kurzen Vorreden am Anfang jedes Kapitels, die als Zitate aus einem Buch über die verschiedenen Provinzen des Reiches formuliert sind, mit der eigentlichen Geschichte. Immer wieder findet der Leser die kurzen, teilweise ironischen Charakterisierungen von Land und Leuten tatsächlich in den handelnden Personen wieder.

Manch anderer Zusammenhang wird dagegen eher stiefmütterlich behandelt. Das gilt für Anas Familie, deren Herkunft bestenfalls gestreift wird, ebenso wie für den historischen Hintergrund der Welt insgesamt. Hier liefert die Autorin lediglich Bruchstücke. Es werden vier Königreiche erwähnt, ein roter König sowie ein Krieg, der offenbar vor dreizehn Jahren zu Ende ging. Wer genau damals gegen wen Krieg geführt hat und warum, darüber schweigt das Buch sich aus, ebenso darüber, ob König Cascyr einst eines der vier Königreiche regierte, und wenn ja, was aus den anderen Königen wurde. Auch über den Krieg, der offenbar vor der Geburt der Menschheit stattfand, wird kaum ein Wort verloren. Damals vertrieben die Vorangegangenen – Craymorus nennt sie an einer Stelle auch Götter – die Nachtschatten aus dem Land. Über das Wie und Warum erfährt der Leser nichts. Die Folge dieser Lückenhaftigkeit besteht in einer Flut von Fragen, was natürlich ganz der Absicht der Autorin entspricht. Klar scheint nur: Die Nachtschatten wollen die Welt zurückerobern. Der König will die Macht der Provinzfürsten für sich. Und Mellie will ihre Mutter rächen.

Im Übrigen besteht diese Welt vor allem aus Betrug, Verrat, Feigheit, Neid und Arroganz. Auch Grausamkeiten gibt es genug, und beleibe nicht nur auf Seiten der Nachtschatten! Die Beschreibungen sind nicht unbedingt detailliert ausgefallen, aber ausgesprochen drastisch. Wen spritzendes Blut eher abschreckt, der sollte sich überlegen, ob er dieses Buch wirklich lesen will.

Wer dagegen mit derartigen Szenen keine Probleme hat, dem kann ich das Buch durchaus empfehlen. Es bietet eine Vielzahl an Geheimnissen und Verwicklungen. Ana gerät auf ihrer Flucht immer wieder mal in Gefahr, ebenso wie Gerit. Allein die Konflikte, die in Craymorus‘ Wesen angelegt sind, lassen jede Menge Möglichkeiten offen, wie sich diese Figur entwickeln kann. Und ich gestehe, dass sowohl Gerit als auch Jonan mich am Ende des Buches überrascht haben und ich auf die Fortsetzung ziemlich gespannt bin.

_Claudia Kern_ lebt in Bonn und ist in vielen Bereichen tätig. Unter anderem ist sie Mitbegründerin von |Space View|, war Serienredakteurin beim Fernsehen, schreibt für Computerspiele und arbeitet als Übersetzerin. Auch für Conventions ist sie tätig, zum Beispiel für |FedCon|. „Sturm“ ist ihr Romandebüt und der erste Band ihres Zyklus |Der verwaiste Thron|, dessen zweiter Band „Verrat“ für Februar nächsten Jahres angekündigt ist.

|367 Seiten, kartoniert
ISBN-13: 978-3-442-24420-1|
http://www.claudiakern.com
http://www.blanvalet-verlag.de

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