Marillier, Juliet – Wolkeninsel, Die

Band 1: [„Die Priesterin der Insel“ 874

Thorvald hat soeben etwas erfahren, das ihn zutiefst entsetzt! Der junge Mann, der schon immer ein gewisses Problem mit seinem Selbst hatte und oft mürrisch und unbeherrscht ist, wurde von seiner Mutter mit der Wahrheit über seine Abstammung konfrontiert. Nicht Ulf, der fähige und gütige Anführer, der die Norweger zu den Hellen Inseln gebracht hat, ist sein Vater, sondern Somerled, ein Brudermörder und Tyrann! Vom selben Augenblick an gibt es für ihn nur noch ein Ziel: Er muss seinen Vater finden. Deshalb überredet er seinen Freund, den Fischer Sam, mit ihm zusammen in seinem Boot nach Westen zu segeln, dorthin, wohin es seinen Vater nach seiner Verbannung verschlagen haben muss. Kaum auf See, stellen die beiden jungen Männer zu ihrer Überraschung fest, dass sie auch ein Mädchen dabeihaben. Creidhe ist seit ihrer Kindheit Thorvalds treues Anhängsel und überzeugt, dass er auch auf dieser Reise ihre Unterstützung braucht.

Tatsächlich gelingt es den Dreien, ihr Ziel zu erreichen. Doch kaum sind sie angekommen, entwickelt sich alles ganz anders als erwartet – und nicht unbedingt erfreulich …

Thorvald ist ein ziemlich eigenwilliger Kerl. Intelligent, ehrgeizig und ziemlich egozentrisch, aber gleichzeitig auch sehr unsicher. Er ist sich seiner Fehler durchaus bewusst, und seit er weiß, wer sein Vater ist, ist seine größte Angst, dass verdorbenes Blut in seinen Adern fließt und ihn dazu verdammt, so zu werden, wie einst Somerled war! Deshalb gibt es für ihn nur ein Ziel: Er muss seinen Vater finden – so dieser denn noch lebt – und in Erfahrung bringen, ob sein Vater noch immer derselbe grausame und machtgierige Mann ist, oder ob er sich zum Besseren verändert hat. Denn nur wenn das Letztere der Fall ist, gibt es für ihn, Thorvald, noch Hoffnung.
So verrannt ist er in diese Sache, dass er dabei seine Begleiter fast gänzlich aus den Augen verliert. Und da er nicht mit Eyvind, Somerleds Blutsbruder, über die Sache gesprochen hat, weiß er eigentlich viel zu wenig, um Erfolg bei seiner Suche zu haben. Prompt nehmen die Ereignisse eine höchst bedenkliche Wendung …

Sein Freund Sam ist Fischer mit Haut und Haaren und mit seinem Boot wie verwachsen. Trotzdem ist die Reise über das offene Meer auch für ihn eine Herausforderung. Noch bevor er überhaupt am Ziel ist, wünscht er sich schon nach Hause zurück. Sam ist ein schlichter Mensch, treu, ehrlich und mit einem einfachen Leben zufrieden, mit einem Dach über dem Kopf, einem warmen Essen auf dem Tisch, einer guten Frau und Kindern. Mit seinem gesunden Menschenverstand holt er Thorvald so manches Mal aus seinen ehrgeizigen Träumen auf den Boden der Tatsachen zurück und öffnet ihm die Augen für das, was er so leicht vergisst. Creidhe zum Beispiel …

Creidhe ist ein fröhliches, liebenswertes Mädchen mit einfachen Träumen und Sehnsüchten. Es möchte ein Heim, Kinder und einen guten Mann, am besten Thorvald, ihren Freund aus Kindertagen. Und doch ist etwas an ihr, das nicht in dieses Bild passt. Sie scheint etwas von den Gaben ihrer Mutter zu besitzen, die einst Priesterin der alten Religion auf den Hellen Inseln war, denn als sie den Ort erreichen, an dem sie Somerled vermuten, ist es, als riefe sie die äußerste und geheimnisvollste der Inseln zu sich. Creidhe besitzt einen Sinn für das Verborgene, das Ungesagte, ein Gespür für andere, das Thorvald völlig abgeht. Kein Wunder, dass sie Thorvalds Vater zuerst findet.

Während Sam das Statische des Romans verkörpert, das Fundament der Freundschaft und Treue, auf dem sich die Charaktere entwickeln, sind Thorvald und Creidhe diejenigen, die Dynamik in die Geschichte bringen. Thorvald hat in der Fremde zum ersten Mal die Gelegenheit, selbst etwas zu leisten und sich zu bewähren, etwas Neues, Eigenes zu schaffen. Er ist entschlossen, diese Chance zu nutzen, und stürzt sich mit aller Energie und Hingabe in diese Aufgabe. Dass er Creidhe und auch Sam dabei völlig vernachlässigt, ja dass er ganz generell mit den Männern, mit denen er arbeitet, besser umgeht als mit seiner besten Freundin, das wird ihm erst bewusst, als er sie verliert. Creidhe ist es gewöhnt, von Thorvald nur dann beachtet zu werden, wenn er sie braucht. Jetzt aber, wo sie ganz allein unter so vielen mürrischen und seltsamen Menschen ist, ohne einen Vertrauten oder Freund, fühlt sie sich zum ersten Mal ernsthaft zurückgesetzt. Als es sie schließlich tatsächlich auf die geheimnisvolle Wolkeninsel verschlägt, erkennt sie allmählich, dass Thorvald und sie nicht füreinander gemacht sind. Zum ersten Mal löst sie sich von ihm und geht ihren eigenen Weg.

So kommt es, dass die beiden sich gegen ihren Willen plötzlich auf gegnerischen Seiten wiederfinden. Der Leser steht dazwischen und weiß nicht, wem er jetzt den Sieg wünschen soll, weil keiner von beiden wirklich im Unrecht ist! Juliet Marillier hat eine vertrackte Situation geschaffen, die nicht ohne Weiteres in Wohlgefallen aufzulösen ist.

Auf der einen Seite stehen die ursprünglichen Inselbewohner, die Namenlosen, deren gesellschaftliche und spirituelle Mitte ein Mystiker und Seher ist, der den Titel Fuchsmaske trägt. Ohne ihn sind sie wie eine außer Kontrolle geratene Waffe. Auf der anderen Seite stehen die Männer, derer Thorvald sich angenommen hat. Einer von ihnen hat nach dem Tod des letzten Fuchsmaske dessen künftigen Nachfolger entführt und völlig dem Zugriff der Namenlosen entzogen. Bis die Namenlosen ihren Seher zurückerhalten, singen sie jedes Neugeborene ihrer Gegner in den Tod. Thorvald will dem ein Ende machen und ist fest entschlossen, dem Entführer den Seher wieder abzujagen. Er weiß nicht, dass mit dem neuen Fuchsmaske, der erst sechs Jahre zählt, ein düsteres Geheimnis verbunden ist, eine Familientragödie, eine finstere Geschichte von Lüge, Schuld und Unvermögen, von Machthunger und Unfähigkeit. Creidhe dagegen findet es heraus und beschließt, wie der Entführer den kleinen Jungen zu beschützen. Die Lage spitzt sich immer mehr zu, und es scheint kein Entrinnen aus dieser ausweglosen, verfahrenen Lage zu geben, ohne dass Unschuldige leiden müssen.

Es geht also in dieser Fortsetzung der |Saga of the Light Isles| nicht, wie ich zuerst vermutet hatte, hauptsächlich um Somerled, obwohl auch er eine nicht unerhebliche Rolle spielt, sondern es ist eine eigene Geschichte, die zwar von der Vergangenheit beeinflusst ist, sie im Grunde aber weder verändert noch fortführt. Am ehesten könnte man noch sagen, dass sie sie abschließt, doch das allein macht sie nicht aus. Den weit größeren Teil nimmt die Auflösung des gordischen Knotens in Anspruch, den Thorvald und seine Freunde vor Ort vorfinden. Dabei wird natürlich gekämpft, aber wie den anderen Büchern der Autorin auch ist die Gewalt als solche eine schmale Randerscheinung. Das Hauptgewicht liegt eher auf dem, was zu dieser Gewalt geführt hat, und ihren Folgen. Manches ist dabei ein wenig zu vorhersehbar geraten, das gilt vor allem für die Person Somerleds, die ich fast sofort wiedererkannte, obwohl sie einen anderen Namen trug. Das Schicksal des Herrschers, der Krieg gegen die Namenlosen geführt hat, war da weit überraschender, wenn auch erstaunlich kurz. Aber da waren auch schon gut sechshundert von knapp achthundert Seiten gelesen, und eine weitere Komplikation hätte die Handlung wohl doch zu sehr ausufern lassen.

Ich kann mich auch immer noch für den Sprachstil der Autorin begeistern. Zwar konnte die |Saga of the Light Isles|, was das Flair anging, nicht ganz mit der |Sevenwaters|-Trilogie mithalten, hat aber trotzdem ihren ganz eigenen Zauber. Spannung entwickelt sich hauptsächlich kurz vor dem Angriff von Thorvalds Männern auf die Wolkeninsel, in der Hauptsache wird die Geschichte jedoch von den Personen und den Verwicklungen zwischen den verschiedenen Parteien getragen. Juliet Marilliers größte Stärke liegt in der Personenbeschreibung, und die ist ihr auch hier wieder sehr gut gelungen. Nichts für Freunde von Action und Hochspannung. Wer es gern ruhig und nachdenklich mag, wird hier eher auf seine Kosten kommen. Auch Historienliebhaber könnten sich dafür begeistern.

Außer der Sevenwaters-Trilogie und der |Saga of the Light Isles| hat Juliet Marillier auch mehrere Fantasy-Kurzgeschichten geschrieben. Im Augenblick arbeitet sie an der Fantasy-Trilogie |The Bridei Chronicles|, einem Zyklus über das Reich der Pikten im letzten Jahrhundert vor Christus, dessen erster Band [„Die Königskinder“ 2001 im November letzten Jahres auf Deutsch erschien. Der zweite Band mit dem Titel „Die Herrscher von Fortriu“ ist für September dieses Jahres angekündigt.
Juliet Marillier war lange als Dozentin für Musikgeschichte, Gesangslehrerin und Chorleiterin tätig, ehe sie sich 2002 zurückzog, um sich der Schriftstellerei zu widmen. Sie lebt in Neuseeland, in der Nähe von Perth.

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