Meyer, Kai – Dschinnland (Die Sturmkönige 1)

Kai Meyers Romane grenzen sich auf angenehme Weise von der klassischen Fantasyliteratur ab. Anstatt auf Elfen, Zwerge und Orks zurückzugreifen und den immer gleichen Kampf Gut gegen Böse lediglich leicht abzuwandeln, setzt der deutsche Autor auf reale oder zumindest in der Realität verwurzelte Sagen, Mythen und Schauplätze und verknüpft sie behutsam mit wenigen, dann aber umso effektiveren fantastischen Elementen.

Nach seinem „Merle“-Zyklus in einem abenteuerlichen Venedig, den „Wellenläufern“ vor dem Hintergrund einer bunten Piratenwelt und der „Wolkenvolk“-Trilogie in einem fremden und zugleich magischen China spielt Kay Meyers neuester Dreiteiler „Die Sturmkönige“ im Orient. Im Zentrum steht Bagdad. Fern des Bildes einer bombardierten und von Terroranschlägen gezeichneten Stadt, wie man die irakische Metropole fast täglich in den Medien zu sehen bekommt, lässt sie Meyer im Glanz vergangener Tage aufleben. So ist es kein Zufall, dass die Welt an die Märchen aus Tausendundeiner Nacht erinnert. „Dschinnland“ hat der deutsche Vielschreiber den Auftaktsband seiner Trilogie betitelt, und eben dort hindurch müssen seine Hauptfiguren, um in die legendäre Stadt und das Zentrum der Welt zu gelangen. Eine Reise, die so manches Abenteuer bereithält.

_Inhalt_

Die Handlung beginnt in Sarmakand, und dort ohne große Vorgeschichte, sondern mitten in einem nächtlichen Rennen auf fliegenden Teppichen – quer durch die engen Gassen und gut bewachten Regierungsgebäude. Tarik al-Jamal ist ein Meister seines Fachs und beherrscht die Kunst des Teppichfliegens wie kein zweiter. Wenn er Geld braucht, meldet er sich kurzerhand bei einem der verbotenen Rennen an. Die Gefahr ist groß, das Preisgeld für den Sieger daher mehr als üppig. Es geht hart zur Sache, die Konkurrenten bedrängen sich gegenseitig und provozieren den Kontrollverlust des anderen, um ein Absturz über den Dächern der Stadt zu erzwingen. Ins Ziel kommen nur wenige. Wer mit samt Teppich in die Tiefe stürzt, hat Glück, wenn ihn nur die Bettler finden und den Besitzer um den kostbaren Teppich bringen. Wer Pech hat, wird von den Soldaten geschnappt und binnen weniger Tage hingerichtet, denn auf die Benutzung fliegender Teppiche steht die Todesstrafe. Gut für Tarik, das er noch nie verloren hat und bisher immer als Sieger aus den Rennen gehen konnte – zumindest bis zur besagten Nacht.

Tarik hat für seine knapp dreißig Jahre ein ereignisreiches Leben hinter sich. Als Schmuggler machte er sich einen Namen, weil er die gefährliche Route zwischen Samarkand und Bagdad etliche Male zurückgelegt hatte – mitten durchs gefürchtete Dschinnland, eine Einöde, in der die Dschinne das Sagen haben. Und die machen kurzen Prozess mit jedem Menschen, der ihr Territorium durchquert. Es war ein Fehler, auf seinem letzten Flug durch die Wüste seine große Liebe Maryam mitzunehmen – sie musste sterben, weil Tarik sie nicht beschützen konnte. Er verließ nach diesem Vorfall nie wieder Samarkand und plagte sich mit Gewissensbissen. Noch einmal würde er solch einen Fehler nicht begehen.

Doch wie es das Schicksal so will, kollidiert Tarik in jener Nacht während des Teppichrennens auf einer Mauer mit dem Mädchen Sabatea und stürzt zu Boden. Sofort sammeln sich zwielichtige Gestalten um sie. Tarik will schon wieder abheben, um das Rennen doch noch zu gewinnen, besinnt sich dann aber eines Besseren und opfert den Sieg, um das Mädchen vor den Straßenräubern zu verteidigen. Sabatea erweist ihre Dankbarkeit auf äußerst frivole Weise – aber sie hat noch mehr im Sinn, als sich ihrer Lust hinzugeben. Denn sie will nach Bagdad und braucht dafür einen einen tapferen Begleiter. Was für ein Zufall, dass sie ausgerechnet mit dem besten Teppichflieger der Stadt zusammengestoßen ist. Doch Tarik lässt sich trotz ihrer weiblichen Reize nicht überreden und lehnt ihr Angebot ab. Den Tod einer Begleiterin im mörderischen Dschinnland will er kein zweites Mal verantworten.

Sabatea hat allerdings ein weiteres Ass im Ärmel. Sie wendet sich an Junis, Tariks jüngeren Bruder, der immer in dessen Schatten gestanden hat und nun beweisen will, dass er eine Reise nach Bagdad auf sich nehmen kann. Als Tarik von dem Aufbruch der beiden erfährt, ist er hin- und hergerissen. Letztendlich entscheidet er sich dazu, Junis und Sabatea zu folgen. So weiß er sich zumindest in ihrer Nähe und muss später nicht vorwerfen, gleichgültig zu Hause geblieben zu sein. Für die zwei ungleichen Brüder und ihre Gefährtin Sabatea beginnt eine Reise voller Gefahren in einem Land, das sich im Aufbruch befindet. Denn den Blick gerichtet auf ihre eigenen Städte, wo sie sich mit genügen Sorgen und Nöten herumplagen müssen, haben die Menschen die Dschinne aus den Augen verloren. Ein Umstand, den sich die Bewohner der Einöde zwischen Bagdad und Samarkand zunutze machen.

_Bewertung_

Die Dreiecksbeziehung zwischen Tarik, Junis und Sabatea steht im Vordergrund der Erzählung. Alle drei haben unterschiedliche Motive, eine Reise durch das Dschinnland zu wagen. Bei allen Unterschieden müssen sie aber zusammenarbeiten, wenn sie den beschwerlichen Weg meistern wollen. Ein Unterfangen, das genügend Konfliktpotenzial bereit hält. Die zwischenmenschlichen Beziehungen sind es, mit denen Kai Meyer seinen Spannungsbogen zieht. Er schafft damit ein solides Grundgerüst, das den Charakteren wesentlich mehr Tiefe verleiht, als wenn der Ansporn ihres Handelns, wie leider im Fantasygenre eher die Regel als die Ausnahme, außerhalb der Personen liegt und über Prophezeiungen oder Visionen an sie herangetragen wird.

Ganz klischeefrei kommt Dschinnland aber nicht daher. Der Leser muss sich damit begnügen, dass Sabatea mit ihren weiblichen Reizen und ihrer geheimnisvollen Art genauso die typischen Rollenmuster bedient wie der große, aber innerlich zerrissene Held Tarik und sein kleiner, gerne aufbegehrender Bruder Junis. Und was die weiblichen Reize schon vermuten lassen: Die „Sturmkönige“-Trilogie richtet sich an ein erwachsenes Lesepublikum. Obwohl ein Großteil der Handlung durchaus jugendbuchkonform ist, schlägt Meyer stellenweise im Stil um. Vor allem eine Sexszene gleich zu Beginn hat es in sich. Das romantische, hübsch aufgemachte Cover des Buches, das „Die Sturmkönige“ ohne Weiteres im Buchhandel einen Platz im All-Age- oder Junge-Leser-Bereich verschafft, sollte darüber nicht hinwegtäuschen.

Verziert wird die in sich plausible Charakterzeichnung des Romans durch eine fantastische Welt. Fliegende Teppiche, Dschinne, weite Wüsten, hängende Städte und groteske Götzen sind die Bausteine, aus denen sich auch die Märchen aus Tausendundeiner Nacht zusammensetzen. Kai Meyer spart nicht damit, auf die bekannten Versatzstücke zurückzugreifen, bewahrt sich jedoch davor, sie nur hier und da als Schmuckstücke zu gebrauchen. Vielmehr verfremdet er das Setting und fügt angenehme Details hinzu, die der Handlung förderlich sind. Teppichrennen ist keine Freizeitbeschäftigung, sondern ein illegales Geschäft, das mit Blut bezahlt wird. Die Dschinne sind ebenso wenig harmlose Wesen und entschlüpfen keinen magischen Flaschen, wenn man nur lang genug an ihnen reibt. Wünsche erfüllen sie schon gar nicht. Stattdessen beschreibt sie Meyer als hagere, knochige Wesen mit dämonoiden Zügen, die für den Kampf geboren und den Menschen in Stärke und Ausdauer weit überlegen sind. So hat man Dschinne fürwahr noch nie erlebt. Doch so grausam sie auch sein mögen, nicht alles im Dschinnland ist den drei Helden feindlich gesonnen.

_Fazit_

„Dschinnland“ bildet den Auftakt der „Sturmkönige“-Trilogie. Was es mit den titelgebenden Sturmkönigen auf sich hat, erfährt der Leser erst im späteren Teil des ersten Bandes und soll hier noch nicht enthüllt werden. Nur so viel: Was mit einem zwar gefährlichen, aber noch verhältnismäßig harmlosen Teppichrennen beginnt, steigert sich im Verlauf der Handlung zu einem Abenteuer, das an den Grundfesten der Welt rüttelt. Zwar fällt der Mittelteil hie und da etwas lang aus, am Ende entschädigt Kay Meyer aber mit einem Cliffhanger, der es in sich hat und das Warten auf den zweiten Teil fast unerträglich macht. Ein spannender Roman, der aber nicht ganz an frühere Bände von Meyer heranreicht. Was nicht ist, kann aber ja noch werden.

|428 Seiten, gebunden
ISBN-13: 978-3-7857-2336-4|
http://www.sturmkoenige.de
http://www.kai-meyer.com
http://www.luebbe.de