Russell, Sean – Nachtvogel (Das verlorene Königreich 1)

_Handlungsüberblick_

Tamlyn, sein Vetter Fynnol und dessen Vetter Baore sitzen in einer alten Turmruine, wo sie übernachten wollen. In der Umgebung des Turms haben sie drei Jahre lang nach Altertümern gegraben. Nun wollen sie den Fluss hinunterfahren, um ihre Funde im Unterland zu verkaufen. Vom Erlös wollen sie sich Pferde kaufen. Da taucht plötzlich ein Fremder auf.

Er nennt sich Alaan und bezeichnet sich selbst als Vaganten. Dass der Mann aber nicht nur irgendein einfacher Wanderer sein kann, erfahren die drei Burschen bald, als sie von einem Trupp Ritter angegriffen werden. Die drei können entkommen, weil der Fremde ihnen den Rücken freihält.

Trotzdem wollen sie den Fluss hinunterfahren, Fynnol vor allem. Kurz vorher schließt sich ihnen noch Cynndl an, ein Sagenfinder vom fahrenden Volk der Fáel. Sie sind allerdings nicht lang unterwegs, da müssen sie feststellen, dass die schwarzen Ritter sie noch immer verfolgen! Die Flussfahrt wird zu einer wahren Hetzjagd …

Elise hasst ihren Onkel Menwyn, vor allem, weil er ihren blinden Vater von seinem angestammten Platz als Oberhaupt der Familie Willt verdrängt hat. Jetzt will er sie unter allen Umständen mit dem Sohn des Fürsten von Innes verheiraten, denn der Fürst besitzt ein schlagkräftiges Heer, und eine Heirat würde die Willts in die Lage versetzen, erneut nach der Krone zu greifen, um die sie sich seit Jahrhunderten mit der Familie der Rennés streiten. Wer Elise aber vor allem Angst macht, ist der Berater des Fürsten von Innes, der sich Eremon nennt. Verglichen mit ihm ist ihr rücksichtsloser, machthungriger Onkel geradezu fürsorglich und bescheiden! Dennoch ist Elise entschlossen, sich den Heiratsplänen zu widersetzen. Da erhält sie überraschend Hilfe von einem Fremden …

Nicht nur bei den Willts gibt es Widerstand gegen einen neuen Krieg. Auch Toren, Oberhaupt der Rennés, versucht, den jahrhundertealten Konflikt endlich aus der Welt zu schaffen. Deshalb will er die Schlachteninsel an die Willts zurückgeben. Doch damit sind eine Menge anderer Familienmitglieder nicht einverstanden. Torens Vettern planen Verrat, allen voran sein eifersüchtiger Vetter Baldor …

_Charaktervielfalt_

Sean Russels Zyklus |Das verlorene Königreich| wartet mit einer vielschichtigen Handlung und einer Unmenge an Charakteren auf.

|Fynnol| ist übermütig und unbekümmert, für ihn ist die bevorstehende Flussfahrt ein interessantes Abenteuer und gleichzeitig ein Kinderspiel. An die wundersamen Geschichten, die sich um den Fluss ranken, glaubt er nicht. Sein Vetter |Baore| dagegen ist der stille, hühnenhafte Fels in der Brandung, wortkarg und zupackend, schlicht, aber tiefsinnig. Der wichtigste der Drei aber ist |Tamlyn|, genannt Tam, ein hervorragender Bogenschütze, zwar nicht so still wie Baore, aber ernsthafter als Fynnol, mit einem ausgeprägten Gespür für Stimmungen und einer guten Beobachtungsgabe.

|Cynndl| wirkt gegen diese Drei etwas blaß. Er ist freundlich und lächelt gern, geht aber ansonsten ein wenig unter in den verschiedenen Sagen und Geschichten, die er aufspürt und erzählt.

|Elise| ist ein sehr selbstbewusstes Mädchen. Zwar weiß sie kaum etwas von der Welt außerhalb ihres heimatlichen Tals, aber sie ist anpassungsfähig und zäh, und sie hat auf ihre Weise den sturen Dickschädel der Willts geerbt. Selbst als ihr Widerstand gegen Eremon aussichtslos erscheint, ist sie nicht bereit aufzugeben, selbst wenn sie dafür zum Äußersten greifen muss!

Dass |Eremon| nicht einfach irgendein Mensch ist, wird recht bald klar. Er muss irgendeine besondere Macht besitzen, denn kaum jemand wagt es, sich ihm zu widersetzen. Zwar glauben seine Verbündeten noch, dass er ihren Zielen dient, doch es ist offensichtlich, dass ein solcher Mann dabei nur seine eigenen Pläne verfolgen kann. Er versucht nicht einmal, seine Anmaßung zu verbergen! Seine Kälte und Gleichgültigkeit gegen den Rest der Welt stehen in seltsamem Kontrast zu seinem glühenden Hass auf Alaan.

|Alaan| dagegen ist von einnehmendem Wesen. Auch er verfolgt mit aller Kraft ein Ziel, nämlich, die Ziele Eremons zu vereiteln und ihn dabei auch noch ein wenig zu tratzen! Manchmal hat er etwas von einem Gaukler. Aber auch hier wird recht bald deutlich, dass die Mittel, derer er sich bedient, gelinde gesagt ungewöhnlich sind.

Im Laufe der Handlung treiben die Gruppen um Tam, Elise und Toren allmählich immer weiter aufeinander zu, um sich schließlich in Westrych zu treffen, wo die Gruppen einmal kräftig durcheinander gewirbelt werden.

_Gefahren auf dem Weg: zwei Welten_

Aber erst einmal haben Elise und Tams Gefährten einiges zu überstehen. Nicht nur, dass die eine wie die anderen verfolgt werden. Es stellt sich auch heraus, dass ein großer Teil ihres Weges durch eine Welt führt, die jenseits ihrer eigenen zu liegen scheint!

Der Strom, auf dem die Gefährten mit ihrem Boot unterwegs sind, hat nicht nur die üblichen Zuflüsse, die aus den verschiedenen Tälern an seinen Ufern herunterkommen, sondern auch noch viele geheime Arme, deren Zugänge verborgen sind und welche die meisten nur aus Versehen durchschreiten. Die Reisenden aus dem Seetal scheinen allerdings erstaunlich oft in diese heimlichen Wasserwege zu geraten, was ihnen immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht.

Außerdem werden sie von einem geheimnisvollen Wasserwesen verfolgt, das ihnen nicht geheuer ist.
Und auch der Fremde, der Elise zu ihrer Flucht verhalf, ist ständig auf Wegen unterwegs, die völlig anders aussehen als alles, was sie von der Umgebung ihres Hauses kennt. Nur dass dieser Mann nicht aus Versehen auf diese Wege geraten ist.

Die Ursache dafür, dass da zwei Welten parallel nebeneinander existieren, verrät der Autor noch nicht. Auch in vielen anderen Bereichen hält er sich mit Informationen stark zurück. Viele Antworten liegen in der Historie des Landes verborgen, und nur bruchstückhaft erhält der Leser – meist aus Cynndls Sagen – Hinweise, aus denen er das Puzzle selbst zusammensetzen muss. So verwundert es nicht, dass der Leser am Ende des ersten Bandes noch immer nicht weiß, worin der Verrat der Ritter vom heiligen Eid denn nun bestand und warum die Kinder des Zauberers Wyrr einst anfingen, Krieg gegeneinander zu führen.

_Spannungskurve_

Natürlich will der Leser das alles unbedingt noch rausfinden. Aber auch ohne diese Neugierde wird wohl jeder, der den ersten Band gelesen hat, sofort nach dem nächsten greifen. Russel wechselt geschickt zwischen den ruhigeren Passagen, die dem Knobeln gewidmet sind, und den rasanten Stellen, welche die Spannung hochschrauben. Auch gibt es bei Russel kaum gelöste Konflikte. Wenn eine Gefahr überstanden ist, sieht der Leser bereits die nächste kommen, und gelegentlich kommen seine Helden auch vom Regen in die Traufe. Dabei hält er gekonnt die Balance zwischen Gelingen und Fehlschlag.

Auch sprachlich hat mir Russels Erzählung gut gefallen. Seine Beschreibungen entwickeln ihre Stimmung ganz ohne überladene Weitschweifigkeit. Allein die ungekennzeichneten Wechsel zwischen den vielen Handlungssträngen waren gelegentlich etwas anstrengend. Die Charakterzeichnung fiel nicht ganz so deutlich aus, was aber bei der Menge an Charakteren, die im Laufe der Geschichte immer weiter anschwillt, auch nicht möglich wäre. Dafür wird es dem Leser dank des zügigen Erzähltempos und der stark bewegten Handlung niemals langweilig, im Gegenteil. Es ist kaum möglich, zwischen den einzelnen Bänden längere Pausen einzulegen. Und im Hinblick darauf, dass der zweite Band nahtlos am Ende des ersten ansetzt, ist es für den inhaltlichen Zusammenhang auch besser, die Trilogie am Stück zu lesen.

Sean Russell lebt in Vancouver. Er hatte bereits als Kind eine Vorliebe für phantastische Erzählungen und begann schließlich selbst zu schreiben. 1991 erschien sein erstes Buch. Aus seiner Feder stammen „Das Reich unter den Hügeln“ und „Der Seelenkompass“, „Welt ohne Ende“ und „Meer ohne Ufer“ sowie die Barbaren-Trilogie. Nicht alle dieser Bücher sind auf Deutsch erhältlich.

http://www.sfsite.com/seanrussell

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