Andreas Eschbach – Aquamarin


Futuristischer Jugendroman: Das Erwachen der Nixe

Hüte dich vor dem Meer! Das hat man Saha beigebracht. Eine seltsame Verletzung verbietet der Sechzehnjährigen jede Berührung mit Wasser. In Seahaven ist Saha deshalb eine Außenseiterin. Die Stadt an der Küste Australiens vergöttert das Meer. Wer hier nicht taucht oder schwimmt, gehört nicht dazu. So wie Saha.

Doch ein schrecklicher Vorfall stellt alles in Frage. Zum ersten Mal wagt sich Saha in den Ozean. Dort entdeckt sie Unglaubliches. Sie besitzt eine Gabe, die nicht sein darf – nicht sein kann. Nicht in Seahaven, nicht im Rest der Welt. Wer oder was ist sie? Die Suche nach Antworten führt Saha in die dunkelsten Abgründe einer blauschimmernden Welt… (Verlagsinfo)

Der Autor

Andreas Eschbach, Jahrgang 1959, studierte in Stuttgart Luft- und Raumfahrttechnik, bevor er als Software-Entwickler und Berater arbeitete. Schon als Junge schrieb er seine eigenen Perry-Rhodan-Stories, bevor er mit „Die Haarteppichknüpfer“ 1984 seine erste Zeitschriftenveröffentlichung landen konnte.

Danach dauerte es noch elf Jahre bis zur Romanfassung von „Die Haarteppichknüpfer“, danach folgten der Actionthriller „Solarstation“ und der Megaseller „Das Jesus Video“, der mit dem renommierten Kurd-Laßwitz-Preis für den besten deutschsprachigen Science Fiction-Roman des Jahres 1998 ausgezeichnet und fürs Fernsehen verfilmt wurde.

Seitdem sind die Romane „Eine Billion Dollar“, „Perfect Copy“, „Exponentialdrift“, „Die seltene Gabe“, „Das Marsprojekt 1-4“ sowie „Der Letzte seiner Art“ erschienen, einige davon zudem als Hörbuch. Auch das Sachbuch „Das Buch der Zukunft“ gehört zu seinen Publikationen. Eschbach hat mehrere Anthologien, darunter „Eine Trillion Euro“, herausgegeben und eine Reihe von literarischen Auszeichnungen erhalten. Heute lebt mit seiner Frau, die ebenfalls schreibt, als freier Schriftsteller in der Bretagne.

Handlung

Man schreibt das Jahr 2151. Seahaven liegt an der Nordküste Australiens, in einer Zone, die den Regeln der Neotraditionalisten folgt. Hier ist die sechzehnjährige Saha aufgewachsen, aufgezogen von ihrer taubstummen Tante Mildred, denn ihre eigene Mutter Monica starb, als Saha erst vier war. Trotz ihres bescheidenen Lohns als Putzfrau hat Mildred dafür gesorgt, dass Saha eine sehr gute Schule besuchen darf: An Thawte Hall ist Mildred selbst beschäftigt.

Doch die Kronprinzessin von Seahaven ist selbstverständlich eine Lady aus dem Hause Thawte, der reichsten Familie am Ort: Carilja. Sie hält mit ihren Speichelleckern hof und blickt auf Angehörige des „Pöbels“ hochnäsig herab, besonders auf „Fischgesichter“ wie Saha. Eines Tages spielen diese Jugendlichen Saha, der Außenseiterin, einen üblen Streich. Obwohl oder genau WEIL sie wissen, dass Saha vom Wasser fernbleiben soll, stoßen sie das Mädchen in das Fischbecken. Saha geht unter und verliert das Bewusstsein.

Erwachen

Sie erwacht in der kleinen Klinik von Seahaven, untersucht von Dr. Walsh. Er wundert sich über die je fünf langen Wunden an den Seiten ihres Oberkörpers. Sie hatte sie mit Schaum abgedeckt, doch ein Teil davon hat sich abgelöst. Erschreckt folgt sie seinen immer misstrauischer werdenden Fragen. Sie will aber viel lieber Tante Mildred sehen – und ihren Lebensretter. Pigrit ist etwas kleinwüchsig und somit ein Außenseiter wie sie, aber seine Intelligenz und sein fast schon enzyklopädisches Wissen hat er von seinem Vater, dem Lokalhistoriker, geerbt.

Pigrits Fragen sind im Gegensatz zu den von Dr. Walsh sehr feinfühlig. Wie kam es beispielsweise dazu, dass Saha nicht nur wenige Augenblicke unter Wasser atmen konnte, sondern mindestens fünfzehn Minuten lang? Saha weicht wie üblich aus und versucht, den ganzen schrecklichen Vorfall zu vergessen.

Ruf des Blutes

Doch die Vergangenheit lässt sie nicht los. In ihre Träume schleichen sich Bilder von einem Dasein unter Wasser, und statt ihr Angst einzuflößen, erzeugen sie in ihr Sehnsucht. Diese wird so stark, dass sie eines Morgens an einen Strandabschnitt schleicht, der im Naturschutzgebiet liegt und bekanntermaßen von Liebespaaren besucht wird. Der Ausflug ins nahe Meer wird zu einer Entdeckungsreise in die eigene wundersame Fähigkeit, unter Wasser atmen zu können – mit Kiemen! Das sind also die fünf sonderbaren Schlitze an ihren Flanken. Und um zur Oberfläche aufzusteigen, braucht sie nur Luft zu sammeln wie in einer Blase. Tolle Sache.

Sie kann dieses Wunder nicht für sich behalten. Im Austausch für ein Geheimnis, das er ihr preisgeben muss, erzählt sie Pigrit davon. Sie hat ja sonst niemanden ihrer Altersstufe. Er liebt Carilja Thawte – ausgerechnet! Na, und sie ist halb ein Fisch – wie schräg ist das denn?!

Alles wäre wunderbar, wenn es nicht das Gesetz der erzkonservativen Neotraditionalisten gäbe, das die Verbannung aller Menschen gebieten würde, die genmanipuliert, modifiziert oder sonst wie „andersartig“ sind. Nun versuchen Saha und Pigrit beide ihr Geheimnis zu hüten. Doch wie ist es zu Sahas Zustand gekommen? Nun muss auch Tante Mildred ihr großes Geheimnis herausrücken …

Mein Eindruck

Dies ist eine Zukunft, die sogar wir oder unsere Kinder noch mit erleben könnten, und deshalb ist auch der Weltentwurf sehr relevant. Vorausgesetzt, man bringt ein gewisses Faible für das Element Wasser mit. Dort scheint nämlich die Zukunft der Menschheit zu liegen. Um diese Zukunft zu erleben, muss sich der Mensch womöglich weiterentwickeln, zu einem Fischmenschen. Ob das eine gute oder eine schlechte Sache ist, das versucht diese Geschichte herauszufinden.

Vorbilder

Die Handlung verfolgt jede seelische Regung der Heldin Saha mit Akribie und Einfühlungsvermögen, und doch ahnt der Leser, dass selbst Saha nie genug weiß. Die Neugier, die dadurch geweckt wird, lässt den Leser die Seiten umschlagen. Aber ich muss gestehen, dass ich als erfahrener SF-Kenner schon wesentlich spannendere und actionreichere Unterwasserhandlungen gelesen habe, so etwa Henry Kuttners Roman „Alle Zeit der Welt“ (Fury, 1947), Poul Andersons „Die Kinder des Wassermanns“ (1979)und diverse Romane um Wale. Deshalb habe ich mir Zeit gelassen, Sahas Geschichte auszukosten.

Grenzgängerin

Denn es war mir von Anfang an klar, dass sie eine Andersartige ist, eine Grenzgängerin. Über kurz oder lang wird ihre Besonderheit nicht nur ihr selbst klar – die Eingangsszene ist nur der Auftakt für eine Reise ins Ich. Über kurz oder lang gerät sie auch zunehmend in Konflikt mit ihrer „normalen“ Umgebung. Das ist reichlich ironisch, denn dieses „Normalos“ sind quasi die Amish ihrer Zeit, also extrem rückständig und konservativ im Vergleich zu den anderen Zonen, die im Jahr 2151 existieren könnten. Insofern hat Saha sogar noch Glück gehabt – oder dieses Glück ist ein Vermächtnis ihrer verstorbenen Mutter.

Revolution?

Ein amerikanischer Autor wie A.E. van Vogt („Slan“) würde nun einfach eine Revolution der Andersartigen einleiten, um ein neues „Normal“ zu etablieren, mit dem sich die Anderen abfinden müssten. Siehe neuerdings auch „Die Tribute von Panem“ sowie „Insurgent“. Nicht so Eschbach. Sehr behutsam lässt er seine Heldin erst einmal einen Freund gewinnen, auch wenn er emotional anderweitig gebunden ist. Aber dieser Freund hat einen Vater, der die Geschichte kennt, vor allem auch die Geschichte von Sahas Zone. So wird er vor Gericht zum Fürsprecher der Andersartigen. Und auch nach ihrer Bloßstellung ist alles halb so wild: Saha steht einfach unter Hausarrest und muss mit Verbannung rechnen. Doch es kommt anders.

Fischmensch

Dass wir Sympathie für die Besonderheit Sahas empfinden, ist eben der einfühlsamen Schilderung ihrer Selbsterfahrung als Fischmensch zu verdanken. Hier lässt der Autor seine Phantasie spielen: Saha erkundet ein neues Reich unter Wasser. Dies ist der Lebensraum, für den sie eigentlich bestimmt ist. Hier begegnet sie einem Fischmenschen, der von der Rasse ihres Vaters ist – und der Sahas Fähigkeit, auch an Land zu existieren, ironischerweise ebenfalls für eine Monstrosität hält.

Arme Saha – sie ist weder ober- noch unterhalb der Wasserlinie willkommen. Jedes pubertierendes Mädchen kann mit ihr fühlen: Wo gehört sie hin? Zunächst scheint sie einen genialen Einfall gehabt zu haben, als Saha sich in Schale wirft und zur „Dorfschönheit“ avanciert. Kann das wirklich gut gehen? Natürlich nicht, denn Friede, Freude, Eierkuchen wäre der Tod der Story. Also kommt es am Tag des Gründungsfestes zu einem dramatischen Zwischenfall …

Konflikt

Diese Entwicklungsgeschichte wäre nämlich zwar gut und schön, aber leider auch sterbenslangweilig, gäbe es da nicht einen fundamentalen Konflikt, der Sahas bloß Existenz gefährden würde. Ohne diesen Konflikt würde es der Geschichte, so charmant und einfühlsam sie auch ist, an Ernsthaftigkeit und Dramatik fehlen. Letzten Endes zählt nur, ob Saha eine Eintagsfliege war – oder eine Chance für den Rest der Menschheit. Als Grenzgängerin kann sie beides sein: abnormal UND zugleich „the new normal“. Eine Entscheidung MUSS fallen.

Weil schon in der ersten Szene der Konflikt mit Carilja Thawte geschildert wird, liegt der Verdacht nahe, dass Carilja und ihr Vater, der Industrielle und ungekrönte König der Zone, eine tödliche Gefahr für Sahas Existenz darstellen. So verwunderte es mich auch nicht, als der Showdown in Thawtes luxuriöser Residenz stattfindet. Dieses Finale hat der Autor gut hinbekommen, und so manche Leserin wird sich beim Nägelkauen ertappen.

Schwächen des Textes

S. 260: „auf dem man noch nie ein[en] Hubschrauber hat landen sehen“. Die Silbe „en“ fehlt.

„Ich hätte fast einen Herzschlag erlitten.“ An einer Stelle, die ich nicht notiert habe, benutzt der Autor das Wort „Herzschlag“, obwohl er eigentlich „Herzanfall“ oder „Herzinfarkt“ meint. Einen Herzschlag hat jeder (wo er fehlt, liegt ein Zombie vor), und wohl nur im Schwäbischen kann man „Herzschlag“ sagen, um auch einen „Herzanfall“ zu meinen. Vorsicht: Wer aber „Schlägle“ sagt, meint einen HIRNschlag.

Unterm Strich

Der neue Jugendroman von Andreas Eschbach steht in einer Reihe mit seinen Jugendromanen über Grenzgänger und Andersartige, so etwa „Perfect Copy“ (ein Klon), „Seltene Gabe“ (Telepath) oder „Black*Out“ (ein Netz-Empath). Gegen ähnliche gelagerte Jugendromane wie „Die Tribute von Panem“ oder „Insurgent“, die von Hollywood okkupiert worden sind, setzt sich Sahas Geschichte durch langsames, einfühlsames Erzählen ab. Ihre Geschichte entfaltet sich wie eine Rose – und wird dabei immer schöner.

Mir selbst ging diese biografische Evolution des „hässlichen Entleins“ Saha etwas zu langsam, aber dem jugendlichen Leser kommt das Tempo wahrscheinlich entgegen. So ist genügend Zeit, nicht nur die menschliche Dimension von Sahas Andersartigkeit zu erfassen – ihre Tante ist mehr oder weniger auf sie angewiesen, und umgekehrt. Aber auch der Weltentwurf, den Eschbach sich hat einfallen lassen, sickert so langsam als „völlig normal“ in das Erleben des Lesenden. Gigantische Abbauanlagen am Rande des Kontinentalschelfs etwa – ist das nicht gefährliche Großindustrie? Und wie ökologisch ist DAS denn, könnte sich der junge Leser fragen.

Wie auch immer: Dieses Buch kann man getrost auch Zwölfjährigen in die Hand drücken, selbst wenn die Heldin schon sechzehn ist. Erotik knistert zwar hier und da, Sex ist aber tabu. Auch Gewalt wird angedeutet, aber zum Glück kommt im ganzen Buch keiner um.

Das könnte sich aber in der geplanten Fortsetzung ändern, wenn Saha ihre nunmehr erkannte Rolle als Mittlerin zwischen den Menschen und den „Submarines“ antritt. Denn als eine der wenigen in Seahaven spricht sie die Sprache der Submarines: die allgemeine Gebärdensprache, die sie auch mit Tante Mildred „spricht“. Woher aber beherrschen die Submarines diese Gebärden? Wird sie ihren Vater kennenlernen und mit ihm neue Abenteuer erleben? Es bleibt noch Vieles zu entdecken, und wir hoffen, dass wir davon erfahren werden.

Gebundene Ausgabe: 408 Seiten
ISBN-13: 978-3401600222
www.arena-verlag.de

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