Caleb Carr – Das Blut der Schande

Das geschieht:

Irgendwann in den späten Tages des 19. Jahrhunderts – ein exaktes Datum verschweigt uns der Verfasser, aber den Hund der Baskervilles deckt bereits der kühle Rasen – tritt Mycroft, der ältere Bruder des berühmten Privatermittlers Sherlock Holmes, mit einem Spezialauftrag an diesen heran: In Holyroodhouse, dem Sommerlandsitz der britischen Königin Victoria, sind zwei Männer auf grausige Weise zu Tode gekommen: Man fand ihre Leichen von unzähligen Klingenstichen durchbohrt; jeder Knochen im Leib war zerbrochen.

Mycroft, welcher der Regierung als ‚Berater‘ nahe steht, wähnt schottische Anarchisten oder sogar deutsche Spione am Werk. Diskret soll die peinliche Affäre aufgeklärt werden. Sherlock freut sich, denn zur Sorge seines treuen Gefährten Dr. Watson hegt der sonst so rational denkende Detektiv seit einiger Zeit merkwürdige Theorien, die um die Existenz jenseitiger Welten kreisen. Holyroodhouse war vor drei Jahrhundert Schauplatz eines düsteren Ereignisses: Vor den Augen einer entsetzten Königin Maria Stuart ermordeten schottische Adlige ihren italienischen Sekretär und Vertrauten. Seither soll der Geist dieses David Rizzio im Westturm von Holyrood umgehen und rachedurstig die Unvorsichtigen packen, die ihm zu nahe kommen.

Schon die Reise nach Schottland wird für Holmes und Watson zum Abenteuer. Auf offener Bahnstrecke wird ihnen eine Bombe ins Abteil geworfen. Dem Anschlag glücklich entronnen, finden sie Holyrood als Haus der Angst und des Misstrauens vor. Holmes geht auf Gespensterjagd, doch Dr. Watson hätte wissen müssen, dass sein Freund einerseits einen Hang zum Theatralischen besitzt und andererseits sehr schnell herausgefunden hat, wie Landesverräter, Dunkelmänner und ein Gespenst aus dem 16. Jahrhundert Hand in Hand arbeiten können, wobei sogar noch Platz für einen mörderischen Psychopathen bleibt …

Beste Voraussetzungen & schmähliches Scheitern

Ein neues Abenteuer von Sherlock Holmes & Doktor Watson, verfasst von einem Meister des Historien-Thrillers: Caleb Carr, Schöpfer des ‚psychologischen‘ Ermittlers Dr. Lazlo Kreisler, der im New York der 1890er Jahre seine Fälle löst. Das ist eine vielversprechende Ausgangssituation. Carr hat sich in der Tat viel Mühe gegeben, ist vor Ort, d. h. in Holyroodhouse, gewesen und hat sich mit diesem Kapitel der britischen Geschichte ebenso vertraut gemacht wie mit der literarischen Welt des Mr. Holmes. Die Kulisse stimmt, die Story wurde sorgfältig in ihr geschichtliches Umfeld eingebettet.

Der Plot weist diejenigen Elemente auf, die uns die Holmes-&-Watson-Geschichten so lieben lassen: Es ist kalt und neblig, der Ort des Geschehens ist ein verwunschener Palast im pittoresken Schottland, jenem Teil der britischen Insel, in dem sich Geister und andere Spukbolde bekanntlich pudelwohl fühlen. Mysteriöse Morde geschehen, die sich auf natürliche Weise nicht erklären lassen. Überall sieht Dr. Watson Verdächtige, während sich sein Meister in Schweigen hüllt bzw. sich schwer deutbaren Andeutungen ergeht.

Was kann unter solchen Voraussetzungen schief gehen? Caleb Carr führt es uns auf spektakuläre Weise vor. „Das Blut der Schande“ ist nicht nur ein schlechtes Sherlock-Holmes-Pastiché. Auch als Kriminalroman taugt dieses Buch wenig. Erste Irritationen machen sich breit, als unsere beiden Helden allzu lange keine Anstalten machen, die Bakerstreet Nr. 221b zu verlassen. Stattdessen müssen wir Holmes und Watson bei mehr oder weniger tiefsinnigen Gesprächen über das Übersinnliche belauschen. Nachträglich können wir erkennen, dass Carr hier falsche Fährten legen möchte, was er allerdings erschreckend plump angeht.

Viel reden, wenig handeln

Es folgt eine schier endlose Bahnreise nach Schottland. Abermals wird diskutiert. Dieses Mal liefern sich Sherlock und Mycroft Holmes Wortgefechte, die womöglich das Verhältnis dieser so ungleichen Brüder illustrieren, mit der eigentlichen Handlung jedoch schon wieder nichts zu tun haben und diese in den Leerlauf zwingen. Arthur Conan Doyle neigte vor allem in den Holmes-Romanen selbst zu diesem Fehler; ihn aus Gründen der Werktreue zu wiederholen, ist keine gute Idee.

In Holyrood bemüht sich der Verfasser um ‚gotische‘ Gruselstimmung. Ihm gelingt durchaus eine zünftige englische Spukhausatmosphäre, doch genutzt wird sie nicht. Plötzlich wird aus der Verschwörungs- und Geistergeschichte das Drama um einen modernen Gilles de Rais: Ein sadistischer Menschenschinder und Serienmörder taucht auf. Wie sich das zum bisher Erzählten reimen soll, überforderte wohl den Verfasser selbst: Als Finale fällt ihm nichts als ein nächtlicher Feuerüberfall der Schurken auf Holyroodhouse ein, in dem sich Holmes und seine wenigen Getreuen wie in einem Fort verschanzen. Als sich der Rauch verzieht, ist die Geschichte vorbei. Sie erweist sich in der Rückschau als banal, und denkt man auch noch ernsthaft über sie nach, fallen ihre gewaltigen logischen Löcher auf.

Carr ist sich nicht einmal zu schade sein Publikum im folgenden Zweifel zu lassen: Es könnte sein, dass sich im finalen Getümmel der Geist des seligen Rizzio unter die Kämpfenden mischt. Das ergibt – wieder einmal – weder Sinn, noch ist es notwendig. Stattdessen nötigt es den Verfasser zu einer überflüssigen Coda, in der Holmes einen Vortrag über die Macht der (Auto-) Suggestion und ihre Rolle als Treibriemen für den Glauben an das Übernatürliche hält.

Holmes ist nicht (wie) Kreisler

Sherlock Holmes ist außer sich, obwohl ihn die typische Kaltblütigkeit keinen Moment verlässt. Alle persönlichen Eigenheiten sind da, genial ist Holmes auch, aber er ist trotzdem anders. Wir erkennen ihn nicht, und – das wiegt schwerer – wir mögen ihn nicht. Zunächst führen wir es auf seinen neu entfachten Glauben an Geister zurück. Erst das Nachwort von Jon Lellenberg, US-amerikanischer Verwalter des literarischen Nachlasses von Arthur Conan Doyle, bringt uns auf die richtige Spur: Carr versucht in „Das Blut der Schande“ eine Kreuzung zwischen Doyles Sherlock Holmes und seiner eigenen Serienfigur Laszlo Kreisler. Er hätte wissen müssen, dass das Resultat unfruchtbar wie ein Maulesel sein würde. Zu unterschiedlich sind die Figuren, die Carr hier zusammenbringen will.

Lellenberg bringt es auf den Punkt (ohne freilich das Scheitern von „Das Blut der Schande“ damit in Verbindung zu bringen): Doyle hat Holmes als strengen Rationalisten konzipiert, der mit der „modernen Torheit“ der Psychologie, die sich in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts entwickelte, rein gar nichts zu tun haben wollte. Holmes genügten sein Vergrößerungsglas, starker Tabak und sein kriminalistisch geschultes Hirn zur Lösung seiner Fälle. Verbrechen, die nicht in dieses Schema passten, sparte Doyle aus; es ist kein Zufall, so Lellenberg, dass sich Doyles Holmes niemals am Fall Jack the Ripper versuchte.

Dies ist natürlich nicht nur ihm aufgefallen. Die Literaturkritik hat es versucht zu erklären, dass Doyle sich in viktorianischer Zurückhaltung um dieses an grausigen Details reiche Geschehen drückte. Doch das ist sicher nicht der einzige Grund: Nach Lellenberg ist Jack the Ripper ein Verbrecher, der jenseits des Holmes‘schen Horizontes agiert. Den Ripper treiben nicht Rache oder Habgier, sondern die sadistische Freude am Töten und Verstümmeln. Anders ausgedrückt: Er ist geisteskrank.

Holmes wird falsch interpretiert

Auch Holmes bekam es dank Arthur Conan Doyle mit geistig derangierten Tätern zu tun. Dies waren indes klassische, d. h. vor allem theatralische „Irre“, die eine Zeitlang genial funktionierten, sich aber andererseits mit reichlich sinnlosen Untaten vergnügten und im Finale entweder gnädig umkamen oder in einer Anstalt verschwanden. Jack the Ripper war jedoch ein völlig anders gelagerter, allzu realer Charakter – und damit kein Fall für Sherlock Holmes, sondern für Dr. Laszlo Kreisler, den Psychologen, der in die Abgründe der menschlichen Seele blicken kann, weil er sie – anders als Holmes – als gegeben akzeptiert; nicht umsonst bezeichnet man ihn (und im zeitgenössischen England oder US-Amerika einen „Irrenarzt“ generell) auch als „Alienisten“, verfolgt er doch Menschen, deren Denken und Handeln den meisten Zeitgenossen fremd oder unmenschlich vorkommen.

In „Das Blut der Schande“ versucht Carr, aus Holmes einen „Alienisten“ zu machen. Es gelingt nicht, es kann nicht gelingen, denn es widerstrebt völlig Holmes‘ Wesen. Carr scheitert auch, weil er dem psychopathischen Widerpart des Detektivs nie echte Aufmerksamkeit schenkt. Es wird nicht deutlich, wen oder besser was Holmes in Gestalt des Mörders von Holyrood jagt. Carr traut sich nicht, den letzten Schritt zu gehen und Holmes offen mit dem realen Grauen eines brutalen Serienmörders zu konfrontieren. (Dass dies gelingen kann, demonstrierten ansatzweise bereits 1967 Ellery Queen mit „A Study of Terror“, dt. „Sherlock Holmes & Jack the Ripper“, oder – wesentlich drastischer und besser – 1978 Michael Dibdin mit „The Last Sherlock Holmes Story“, dt. „Der letzte Sherlock-Holmes-Roman“.)

Der traurig missratene Rest

Watson erfährt in „Das Blut der Schande“ mehr Aufmerksamkeit, als man ihm in allzu vielen Holmes-Pastichés zubilligen möchte. Der aufmerksame Leser bemerkt, dass schon Arthur Conan Doyle in Watson mehr als einen Wasserträger und Stichwortgeber sah. Holmes & Watson bilden ein Team, in dem der Detektiv das Wissen und der Doktor jene soziale Kompetenz einbringt, die Holmes einerseits abgeht, während er andererseits ihre Existenz und Bedeutung er nicht leugnet. Caleb Carr lässt Watsons Licht sogar in kriminalistischer Hinsicht heller leuchten als sonst; er weist sehr richtig darauf hin, dass der gute Doktor in seinen vielen Jahren der Zusammenarbeit mit Holmes ein gutes Maß an Fachwissen aufgeschnappt haben müsste.

Mycroft Holmes ist Carr als Figur katastrophal misslungen. Man kann auch hier geltend machen, dass der Verfasser neue Wege zu gehen versucht. Doch Carrs Mycroft ist ganz und gar nicht die exzentrisch-geniale ältere Version des agileren Sherlock, die Doyle in ihm sah. In „Das Blut der Schande“ irrt Mycroft am laufenden Band, streitet kindisch mit seinem Bruder, lässt sich wie ein Botenjunge schicken oder seinen angeblich so logischen Geist von patriotischen Nebeln vernebeln. Eine maßgebliche Rolle findet Carr nicht für ihn; Mycroft wirkt wie ein Statist, der seinen Auftritt nur deshalb absolviert, weil ihn die Holmes-Fan gern sehen. Unter diesen Umständen wundert es, dass unter den Befreiern von Holyroodhouse nicht auch Inspektor Lestrade auftaucht.

Das Tüpfelchen auf dem traurigen I, das dieses Möchtegern-Holmes-Garn darstellt, setzt einmal mehr der deutsche Verlag: Wer hat aus welchem Grund den Originaltitel „The Italian Secretary“ – gemeint ist damit natürlich der unglückliche Rizzio – mit „Das Blut der Schande“ nicht übersetzt, sondern ins Sinnlose entstellt?

Autor

Caleb Carr wurde am 2. August 1955 in New York geboren. Er studierte Politik und Geschichte an der New York University, wurde Journalist und spezialisierte sich auf politische und militärhistorische Themen. Als Reporter ist er weiterhin tätig und veröffentlicht neben Artikeln in zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften auch Sachbücher.

Darüber hinaus ist Carr in der Unterhaltungsbranche aktiv. 1994 erschien sein erster Roman, der Historienthriller „The Alienist“ (dt. „Die Einkreisung“), der die Ermittlungen des frühen Kriminalpsychologen Dr. Laszlo Kreisler bei der Jagd auf einen Serienmörder in den Straßen von New York schildert. Dieser Roman brachte Carr auf Anhieb internationalen Erfolg und 1995 einen „Anthony Award“. 1997 folgte mit „The Angel of Darkness“ (dt. „Die Täuschung“) eine nicht minder erfolgreiche Fortsetzung.

Carr schrieb nunmehr verstärkt für Fernsehen, Film (u. a. eines der Drehbücher für das unglückliche „Exorzist: The Beginning“-Projekt von 2004) und Theater. Sein Romanwerk blieb dagegen schmal; nach der futuristischen Dystopie „Killing Time“ (2000; dt. „Die Täuschung“) erschien erst 2005 der Sherlock-Holmes-Roman „The Italian Secretary“ (dt. „Das Blut der Schande“). Beide Bücher wurden von der Kritik deutlich kühler aufgenommen als die Kreisler-Romane. Bis zu seinem nächsten Roman („The Legend of Broken“) ließ sich Carr bis 2012 Zeit.

Caleb Carr lebt und arbeitet weiterhin in New York. Eine Website besitzt er offenbar nicht.

Gebunden: 350 Seiten
Originaltitel: The Italian Secretary (New York : Carroll & Graf Publishers 2005)
Übersetzung: Robert Brack
http://www.randomhouse.de/heyne

eBook: 394 KB
ISBN-13: 978-3-641-02401-7
http://www.randomhouse.de/heyne

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