Dawkins, Richard – entzauberte Regenbogen, Der. Wissenschaft, Aberglaube und die Kraft der Phantasie

Isaac Newton ist an allem Schuld. Seit er vor Jahrhunderten schon seine Mitmenschen darüber aufklärte, wie ein Regenbogen zustande kommt, wird er als Repräsentant einer elitären, allzu neugierigen, gottlosen Bande von Zeitgenossen geschmäht, die es sich zum Ziel gesetzt hat, eine Welt der Wunder und Rätsel in einen seelenlosen Monumental-Mechanismus zu verwandeln. Dichter, Kirchenleute, denkfaule Dummköpfe und natürlich Volkes Stimme schimpf(t)en laut ob solcher Blasphemie und nutzten gleichzeitig die Gelegenheit, den Forschern – weltfremde, gutes Geld verschwendende, d. h. „echte“ Arbeit scheuende Elfenbeinturmbewohner – die Eierköpfe zu waschen.

Im derzeitigen Klima einer wirtschaftlichen Rezession in der westlichen Welt sind solche Vorurteile lebendiger denn je. Wieso es keinen Grund gibt sich den Ignoranten, den Sparschweinen und den Sauertöpfen zu beugen, versucht schon seit Jahren der Evolutionsforscher Richard Dawkins deutlich zu machen. Er vertritt die Meinung, dass die wahre Faszination der Natur nicht in dem liegt, was der Mensch in sie projiziert, sondern in ihrer Realität: Der Regenbogen wird durch seine Erklärung nicht „entzaubert“. Statt dessen öffnet die Deutung dem Interessierten eine völlig neue Dimension: Die Natur verwandelt sich plötzlich vom Spielball manipulierender Dogmatiker, selbst ernannter Vordenker oder skrupelloser Geschäftemacher in ein für sich selbst stehendes Wunderland schier unbegrenzter Möglichkeiten.

Dies nachzuvollziehen ist keine einfache Aufgabe. Schon im Vorwort macht der Verfasser seinen Lesern keine Illusionen: Hier werden keine leicht verdaulichen Informationshäppchen geliefert. Der Leser muss das Hirn schon anwerfen und benutzen, sonst klappt es nicht mit der Datenübertragung. Das darf man jedoch nicht zu streng nehmen: Dawkins bemüht sich um eine allgemein verständliche Sprache, die selbst hoch komplexe Prozesse erfassbar macht, ohne dass dafür die naturwissenschaftliche Realität mit Füßen getreten wird. Die angenehme Überraschung: Es funktioniert.

Mit „Die betäubende Wirkung des Vertrauten“ bereitet Dawkins das Terrain für das Folgende vor. Er schildert in lebhaften Worten die Einzigartigkeit der realen Schöpfung, die wundergläubige oder zaghafte Gesellen gegen selbst erdachte Spinnereien einzutauschen bereit sind. Bereits hier wird Dawkins‘ Argumentation klar: Die Klarheit ist dem Verharren im Bekannten, scheinbar Bewährten allemal vorzuziehen, ohne dass darunter die Eindruckskraft der Schöpfung leidet.

Statt dessen nimmt sie zu, und dies zu vermitteln sollte nicht nur Aufgabe, sondern auch Anliegen derer sein, die nicht mit der Wissenschaft, sondern eher mit der Feder umzugehen wissen. „Im Salon der Herzöge“ erzählt von der nach Auffassung des Verfassers unnötigen, ja schädlichen Unverträglichkeit von Forschern und Dichtern. Dawkins lässt einen „natürlichen“ Konflikt nicht gelten, sondern verweist erneut auf die Herausforderung, die Realität in Worte zu fassen.

Auf diese Weise vorbereitet beschreiten wir nun an Dawkins Seite diverse Wunderwelten. „Strichcodes in den Sternen“ überschreibt der Verfasser jenes Kapitel, das uns das Wesen des Universums näher bringt. Von Newtons Beobachtung, dass ein gläsernes Prisma das Licht in eine genau zu definierende Palette von Farben bricht, bis zur Entdeckung, dass sich so Aussagen auch über die Struktur unendlich weit entfernter Sterne treffen lassen, spannt sich das Spektrum – Dawkins‘ erster überzeugender Beweis dafür, dass der Realist der Welt mindestens so viel Poesie abgewinnen kann wie der Träumer.

„Strichcodes in der Luft“ führt in eine weitere Wunderwelt ein – die des Schalls, der sich ähnlich entwirren und zur Lösung mannigfacher Probleme und Fragen einsetzen lässt. Für den Leser, der dennoch hartnäckig nach dem „Nutzen“ von Forschung fragt, verfasste Dawkins den Beitrag „Strichcodes vor Gericht“, was sicherlich die Fans der diversen „CSI“-Fernsehkrimis sogleich aufhorchen lässt.

„Märchen, Geister, Sternendeuter“ leitet den vielleicht spannendsten Abschnitt dieses Buches ein. Es geht um jene, die den Regenbogen nicht erklären, ihn aber auch nicht entzaubern, sondern ihn um des eigenen Vorteils missbrauchen – und um jene, die missbraucht werden wollen, weil sie lieber in einer Hokuspokuswelt angeblicher „Wunder“ als im Hier und Jetzt leben. Dawkins ist ein Mann, der keine Rücksicht auf den Zeitgeist nimmt, der Astrologie, Parapsychologie, New-Age-Gewaber und UFO-Esoterik schätzt oder gar der Wissenschaft vorzieht. Wieso dem so ist und warum er dies als echte Gefahr (z. B. im Zusammenhang fundamentalistischer Unterdrückungs-Religion) betrachtet, weiß er hier und im Kapitel „Berechnete Schauer“ sehr deutlich zu machen.

„Wolkige Symbole von höchster Romantik“ straft die moderne „Voodoo Science“ ab. Sie kleiden abstruse Theorien in wohl klingende Worte und missbrauchen die Realität, indem sie diese nach eigenem Gusto verbiegen. Das Nachsehen haben wieder einmal die redlichen, aber leider grauen, weil weniger wortgewandten, von den Medien missachteten, lobbylosen Labormäuse, deren auf langwierigen Nachforschungen basierende Urteile einfach nicht „attraktiv“ genug für die breite Öffentlichkeit ausfallen.

Dann wird es Ernst. Dawkins, der Evolutions-Spezialist, wählt den eigenen Fachbereich, um den Zauber der wissenschaftlich fundierten Realität im Detail zu belegen. Er wählt ein schwieriges, aber auch hochaktuelles Thema, denn es geht um Gene. „Der egoistische Kooperator“ berichtet von der aus brachialökologischer Sicht höchst unbeliebten Tatsache, dass sich das Leben auf der Erde primär per Konflikt weiterentwickelt und keineswegs eine übergeordnete „kosmische Intelligenz“ es kooperieren lässt. Harte Fakten beschreiben den Weg des Lebens, dem romantische Interpretationen höchstens nachträglich und zwanghaft übergestülpt werden können.

„Das genetische Totenbuch“ ist ein „Friedhof“ von Genen, die womöglich ursprünglich wichtige Aufgaben erfüllten, aber inzwischen ihre Bedeutung verloren haben. Ihre Deutung ermöglicht vielleicht einen Blick in die Vergangenheit. „Die Welt wird neu verwoben“ leitet in die Gegenwart über. Dawkins führt aus, dass unser Gehirn die Welt weniger registriert als übersetzt. Seine unglaubliche Leistungsfähigkeit lässt sich eben nicht oder nur bedingt durch den Vergleich mit dem technischen Wunderwerk Computer erklären. Das Gehirn hat zur Interpretation tausendfacher Umwelteinflüsse seine eigenen Methoden entwickelt; es schafft sich schon seit Äonen seine „virtuelle Realität“, die wir nur zum Teil entschlüsseln können, aber bereits bestaunen sollten.

Unter dem flappsigen Titel „Ein Ballon zum Denken“ spekuliert Dawkins darüber, wie das Gehirn seine einzigartige Kraft entwickelt haben könnte. Das lässt ihn letztlich den Kreis schließen, denn es war genau dieses Hirn, das ein Buch wie dieses ermöglichte, welches stellvertretend für die „richtige“ Art steht, sich die Welt zu erschließen. Noch einmal hält Dawkins sein Plädoyer gegen Augenwischerei und Aberglaube und für die Poesie der (naturwissenschaftlichen) Realität.

Und er hat zumindest die Realisten unter seinen Lesern überzeugt. Dawkins ist ein Romantiker. Das gibt er zu; dass für ihn die Poesie zur Naturwissenschaft gehört, macht schon der (manchmal allzu) reichliche Einsatz von Zitaten bekannter Literaten wie Shakespeare, Keats & Co. deutlich. Dies unter Beweis zu stellen, ist schließlich auch sein aktuelles Vorhaben.

Jenen, die Augen haben zu sehen und Ohren zu hören, legt Dawkins eine Fülle überzeugender Beweise dafür vor, wieso man unter der gemütlichen „Akte X“-Decke hervor und an die frische Luft der blanken Tatsachen sollte. Diese Luft mag einem zwar zunächst kalt ins Gesicht blasen, aber sie macht den Kopf klar, statt das Hirn mit lauwarm vorgewärmten und -gekauten, aber eben erfundenen „Fakten“ zu verkleistern. Dies wird übrigens nur der unverbesserliche Weltverschwörungstheoretiker als Arroganz verstehen, denn Dawkins bemüht sich auch, den Mechanismen nachzuspüren, die Pseudowissen so attraktiv wirken lassen.

In einem ist Dawkins freilich konsequent. Überhaupt kein Verständnis bringt er für jene gefährlich dummen Zeitgenossen auf, die Wissenschaft nur unter dem Kosten-Nutzen-Aspekt gelten lassen wollen. Auf diese Weise lässt sich leicht ein neues geistiges Mittelalter erzeugen; der Verfasser kann beunruhigend gute Argumente dafür anführen.

Wichtiger noch: Dawkins ruft jene, die hinter die Kulissen der Natur schauen wollen, zur Standhaftigkeit auf. Allzu mürbe sind die Vertreter „unnützer“ Wissenschaften bereits geworden; sie neigen dazu sich dem Urteil der „Realisten“ zu beugen, das eigene Wissen zu verleugnen, es in Frage zu stellen. Dawkins steuert dagegen, legt die Ungeheuerlichkeit dieser Verkehrung aller Werte offen: Wer viel weiß, solle nicht stolz im Sinne von überheblich, sondern selbstbewusst und froh durchs Leben schreiten, so sein Rat, denn er oder sie habe allen Grund dafür. Auf Unwissenheit oder gar Ignoranz brauche man sich dagegen überhaupt nichts einbilden.

Das ist nicht nur Balsam für geplagte Eierkopf-Seelen, sondern ein schlichtes Faktum: Obwohl die Wissenschaft – die schließlich von Menschen betrieben wird – der Menscheitsgeschichte ihren Teil an Irrtümern, Tragödien und Verbrechen zugefügt hat, lässt sich ihr fundamentaler Anteil am Fortschritt nicht leugnen. Deshalb gibt es keinen Grund, sich falschen Kritikern zu beugen oder sich gar von pseudo-ökologischen Bilderstürmern und fanatisierten Weltverbesserern gängeln zu lassen. (Damit es klar ist: Dawkins setzt diese nicht mit Umweltschützern oder anderen konstruktiven Gruppen gleich.) Selbst wenn man im Detail nicht mit dem Verfasser übereinstimmen mag (der sich manchmal vom gerechten Zorn gar zu sehr hinreißen lässt), ist sein Werk doch wie ein einsamer Leuchtturn über einer See der Ignoranz und lohnt deshalb die Lektüre, auch wenn manchmal der Kopf dabei zu schmerzen beginnt; es ist ein gutes Gefühl, das Hirn wirklich in Gang zu setzen …

Richard Dawkins wurde 1941 in Nairobi geboren. Die Familie verließ Kenia 1949 und kehrte nach England zurück. Dort studierte Richard in Oxford. Seinen Abschluss als Zoologe machte er 1962, blieb aber zunächst in Oxford, um als Doktorand für und mit dem berühmten Ethnologen Nikolaus Tinbergen zu arbeiten. 1967 ging Dawkins nach Kalifornien und lehrte in Berkeley, kehrte aber 1970 als Dozent nach Oxford zurück.

Sein erstes Buch („The Selfish Gene“; dt. „Das egoistische Gen“) erschien 1976 und wurde sogleich ein internationaler Sachbuch-Bestseller. Es folgten „The Blind Watchmaker“ (dt. „Der blinde Uhrmacher“) und 1982 seine Fortsetzung „The Extended Phenotype“. Weitere Erfolge: „River Out of Eden“ (1995, dt. „Und es entsprang ein Fluss in Eden“), „Climbing Mount Improbable“ (1996, dt. „Gipfel des Unwahrscheinlichen“) und „Der entzauberte Regenbogen“.

Schon früh setzte sich Dawkins dafür ein, Wissen dort, wo es angebracht war, allgemein verständlich zu vermitteln. Folgerichtig ist er der erste Inhaber des 1995 ins Leben gerufenen „Charles Simonyi Chair of Public Understanding of Science“.

Gleichzeitig bemühte sich Dawkins um die Vermittlung zwischen Wissenschaft und Literatur, die er persönlich nicht im Widerstreit sieht. Für seine Bemühungen nahm ihn 1997 die „Royal Society of Literature“ auf.

Weitere Fakten zu Leben und Werk lässt sich folgender Website entnehmen: http://www.brainyencyclopedia.com/encyclopedia/r/ri/richard__dawkins.html