Julia Franck – Bauchlandung – Geschichten zum Anfassen (Lesung)

Erotik im Affekt: sinnlicher Strom der Partikel

Die Story-Sammlung „Bauchlandung“ erschien im Herbst 2000, nachdem die Autorin mit ihrer daraus entnommenen Erzählung „Mir nicht, dir nichts“, einer kleinen ironischen Dreiecksgeschichte, zu den Gewinnern des Ingeborg-Bachmann-Preises zählte. Das Hörbuch wird von der Autorin selbst gelesen.

Hinweis

Diese Besprechung beruht auf dem Hörbuch, das seinerzeit noch auf Music-Cassette geliefert wurde. Dieses Format hat unerfreuliche Folgen – von seiner heutigen Nichtverfügbarkeit mal ganz abgesehen.

Die Autorin

Julia Franck wurde 1970 in Ost-Berlin geboren, 1978 reiste die Familie aus. Schon mit elf Jahren schrieb Franck ihren ersten Roman. Nach „Der neue Koch“ (1997) erschien 1999 der Roman „Liebediener“, mit dem sie bei Kritik und Publikum großen Erfolg hatte: die Dramaturgie einer vom rätselhaften Tod der Nachbarin Charlotte überschatteten Amour fou zwischen dem Kellerkind Beyla, die aus einfachsten Verhältnissen kommt, und Albert, dem Pianisten und Lebenskünstler.
Julia Franck lebt seit den achtziger Jahren in Berlin.

Die Erzählungen

Bäuchlings

„Ich knie auf dem Parkett vor dem Sofa und beobachte Luise, wie sie schläft. Ich streiche über den Saum ihres Chiffons, der rau ihren Hals umschliesst, rieche sie, ihren vertrauten Geruch, der mich an frischgeschnittenes Gras erinnert…“

So erzählt Luises Schwester von ihrer heimlichen Geliebten. Als sie Luises Freund empfängt, hält sie ihn von Luise ab, um den Freund für sich allein zu haben.—

Die Geschichte ist geprägt von den sinnlichen, begehrenden und sogar hinterlistigen Gedanken der Erzählerin. Man könnte ihr stundenlang zuhören. Ein starker Auftakt für das Hörbuch.

Zugfahrt

Die Erzähler begegnet im Zugabteil einem merkwürdigen Mann, der sie dauert anbaggert und sie sogar mit einem absolut ekelerregenden Leberwurstbrot zu ködern versucht – vergeblich natürlich. Als ein Vater und sein kleiner Sohn ins Abteil kommen, scheint die Lage gerettet. Die Gelegenheit bietet sich, mit dem Vater anzubandeln.

Eine Fülle von minutiösen Beobachtungen lässt diese lange Szene im Abteil geradezu plastisch vor dem geistigen Auge des Zuhörers erstehen.

In „Streuselschnecke“ phantasiert sich eine Bademeisterin in eine Affäre mit dem Typen auf dem roten Handtuch.

In „Hausfreund“ geht es darum, dass ein junges Mädchen in aller Unschuld beobachtet, wie ihre Mutter mit einem jungen Mann Ausflüge unternimmt und schon mal bei ihm übernachtet. Da der Vater krank im Bett liegt und eine gedrückte Stimmung herrscht, ist die Kleine stets begeistert, wenn sie mit Mami und Hausfreund mitdarf. Allerdings ist ihre Beobachtungsgabe bereits so scharf, dass ihr gewisse Widersprüce zwischen den Aussagen bzw. Entschuldigungen ihrer Mutter und den tatsächlichen Begebenheiten auffallen…

Ich habe mich aber über die Kürze von „Hausfreund“ geärgert, weil es zwar die dritte Seite bestreitet, aber mit 22 Minuten nur die Hälfte der Cassette belegt – der Rest ist Stille. Wofür gibt man denn sein Geld und seine Zeit her?

Schmeckt es euch nicht?

Der Großvater hat beschlossen, bevor er in die Grube fährt, den Leichenschmaus zu seinen Ehren vor das Sterben zu verlegen, damit er auch noch etwas davon hat und die ganze Chose nicht so traurig ist. Kein Wunder, dass er dann, als es ans Essen geht, so richtig gut reinhaut. Da wird einem schon vom Hinhören schlecht! Ein Wunder, dass er nicht gleich darauf den Geist aufgibt.

Ansonsten berichtet uns wieder eine junge Erzählerin von den Interaktionen zwischen den jungen und älteren Familienmitgliedern, die da alle zusammengekommen sind. Auch sinnliche Hintergedanken spielen eine Rolle. Dies ist eher ein buntes Familienporträt als eine erotische Lovestory.

Mir nichts, dir nichts

Zwei Freundinnen lieben den gleichen Mann, Paul. Nur dass die eine Freundin, eine Tänzerin, nicht weiß, dass die andere den gleichen Mann liebt. Und deshalb zu ihr kommt, um sich auszuweinen, weil Paul sie zurückgewiesen hat. Und dass die andere gerade eine Liebesnacht mit Paul verbracht hat und noch schnell alle Spuren verwischen muss. Und sich gezwungen sieht, um die Fassade der Freundschaft aufrechtzuerhalten, die Tänzerin zu trösten und mit ihr etwas zu unternehmen. Als sie Paul anruft, um ein weiteres Rendezvous auszumachen, tut sie daher so, als würde sie ihre Schwester anrufen. Neben ihr steht die untröstliche Tänzerin und bekommt nichts mit. Tarnung ist eben alles.

„Mir nichts, dir nichts“ ist ein virtuoses, vergnügliches Spiel mit zwei Ebenen der Wahrnehmung von Wirklichkeit: der tatsächlichen Realität und der (für die Tänzerin) inszenierten Realität. Diese Erzählung sollte man mehrmals anhören, nicht nur für ein besseres Verständnis, sondern auch wegen des besonderen Vergnügens, das sie bereitet. Ein starker Abschluss dieses Hörbuchs und wohl die überzeugendste Geschichte darauf.

Themen

In diesen „Geschichten zum Anfassen“ – ein sehr doppeldeutiger Titel! – widmet sich Julia Franck den Andeutungen und kleinen Details der menschlichen Beziehungen, nicht nur in der Gesellschaft oder im Familienkreis, sondern insbesondere zwischen Liebenden und Begehrenden. Sie erzählt von offener Begierde und verborgenen Gelüsten.

Immer wieder verblüfft, wie scharfsichtig ihre Beobachtungsgabe ist, wie feinfühlig die Auflösung der einzelnen Elemente im Erleben der Figuren: ein Geschmack, ein Geruch, eine Berührung, ein Blick auf die Haut ruft die verschiedensten Mischungen aus Abwehr und Anziehung, Lust und Empathie hervor.

Franck hat erkannt, dass dies die Ebene unter den höheren Gefühlen ist, die Ebene der Affekte, die unwillkürlich ausgelöst werden und doch unsere Einstellung zum Anderen, unsere Handlungen bestimmen. Die Affekte aber werden vom Partikelstrom der Eindrücke ausgelöst, denen wir ausgeliefert sind und die uns zufällig treffen können. Und so kann es durchaus passieren, dass ein ungefilterter, unkontrollierter Affekt unsere Handlungs- und Fühlweise bestimmt, uns eine Begegnung im Zug umwirft und schier unglaubliche Dinge tun lässt.

Die Süddeutsche Zeitung fasst dies so zusammen:

„Kompromisslos orientiert am Kardiogramm der Sinne zwischen Wimpernschlag und Wimpernschlag setzt sich Julia Franck der vermutlich einzigen Wahrheit auf die Spur, über die sich verlässlich Auskunft geben lässt: der Wahrheit des Augenblicks.“


Unterm Strich

Sehr einfühlsam und nuanciert von der Autorin selbst gelesen, tragen die Erzählungen den Zuhörer in jenes Reich des sinnlich Erfassbaren, wo sich der Zauber des Augenblicks entfaltet – hier ist alles möglich: nicht nur Dreiecksgeschichten, die in eine Farce ausarten, sondern auch Baggerversuche mit Leberwurstbroten *würg*. Die Erzählerin macht so jede Szene zu mehreren Ebenen konkreter Erfahrung, nicht nur in der Gegenwart – viele Geschichten sind im Präsens geschrieben -, sondern auch in die Vergangenheit zurückreichend. Es sind Berichte aus der deutschen Wirklichkeit, nah am banalen Alltag, und doch faszinierend durch ihre Tiefe.

MC: 138 Minuten,
Der Hör-Verlag 2001.
Von der Autorin selbst gelesen.
ISBN-13: 978-3895848896

ISBN 3895848891https://www.penguin.de/Verlag/der-Hoerverlag/70000.rhd

Der Autor vergibt: (4.0/5) Ihr vergebt: SchrecklichNa jaGeht soGutSuper (No Ratings Yet)