John MacLachlan Gray – Der menschliche Dämon

Inhalt

London ist 1852 ein Schmelztiegel unzähliger Menschen, die meist mehr schlecht als recht ihr Leben fristen. Unter ihnen: Edmund Whitty, Sonderberichterstatter des „Falcon“, ein überarbeiteter, unterbezahlter, verschuldeter Zeilenschinder, der Tragödien, spektakuläre Unfälle und Verbrechen publizistisch ausschlachtet. Die ständige Jagd nach der nächsten Sensation hat ihn zermürbt, den Katzenjammer betäubt er mit Alkohol und Drogen, Schuldeneintreiber jagen ihn.

Lange hat der Frauenmörder „Chokee Bill“ die finsteren Gassen der Slums unsicher gemacht. Jetzt wartet er in der Todeszelle auf den Henker. Allerdings leugnet er, ein Serienmörder zu sein. Whitty besucht Bill – eigentlich William Ryan –, hört seine Geschichte und wird nachdenklich. Zwar glaubt er dem Mann nicht unbedingt, aber er braucht dringend eine neue Story.

Ryan gelingt eine spektakuläre Flucht. Das bringt die Polizei in eine peinliche Lage. Under-Inspector Salmon von Scotland Yard, ein unerbittlicher Ermittler, hat zu Whittys Pech von dessen Interview mit „Chokee Bill“ gehört und verdächtigt nun den Journalisten, gemeinsame Sache mit dem Mörder zu machen. Doppeltes Pech für Whitty, dass in dunklen Londoner Gassen gerade jetzt wieder erdrosselte und verstümmelte Frauenleichen entdeckt werden.

Doch Whitty widersteht dem Druck und heftet sich auf Ryans Fersen. Was er dabei in Erfahrung bringt, bestätigt seinen Verdacht: Ryan wird als Sündenbock missbraucht. Die Spur zum wahren Mörder führt in höhere Kreise. Dort kennt man kein Pardon mit Spielverderbern, welche die Privilegien der „Gentlemen“, die Lustmord anscheinend einschließen, nicht gelten lassen wollen. Whitty wird vom Jäger zum Gejagten, aber er gibt nicht auf und darf nicht aufgeben, denn sonst ist er gesellschaftlich erledigt, was in London ein schlimmeres Schicksal als der Tod gilt …

Die Vergangenheit als Medium der Unterhaltung

Serienmord ist des modernen Thrillers liebstes Kind; ein bisschen zu oft ist es allerdings inzwischen an die Öffentlichkeit getreten, die bekanntlich wankelmütig und deren Aufmerksamkeitsspanne begrenzt ist. Also wird der Serienmord an Orte und in Zeiten verlegt, wo die Kulisse für zusätzliche Aufmerksamkeit sorgt. Auch hier machen viele Schriftsteller (oder Schreiberlinge) es sich schrecklich einfach und lassen Hannibal-Lecter-Klone ihr Unwesen in Vergangenheit und Zukunft treiben. Immer grässlicher werden die Morde, immer ‚raffinierter‘ die Täter, immer fanatischer die Jäger.

John MacLachlan Gray geht den anderen und schwierigeren Weg. Er lässt sich auf das Abenteuer London ein. Unter seiner Feder wird die Stadt zur eigentlichen Hauptperson. 1850 liegt nicht einmal zwei Jahrhunderte in der Vergangenheit. Überraschend viel von dem, was unseren modernen Alltag bestimmt, war damals bereits bekannt oder wurde gerade erfunden. Das Zeitalter der Industrialisierung ermöglichte architektonische, technische und naturwissenschaftliche Entwicklungen, die den Zeitgenossen wie Zauberei anmuteten.

Der Vergleich wird mit Bedacht gewählt, denn dieses stolze London, diese hochzivilisierte Großstadt, die sich als Megalopolis mit den Städten der Jetztzeit messen kann, stand andererseits mit einem Bein noch immer im Mittelalter. Dieses London ist das Paradebeispiel dafür, was geschieht, wenn wenige Privilegierte alle Ressourcen für sich beanspruchen und die Ansprüche der breiten Bevölkerung mit Füßen treten: London ist 1852 ein vom ausgebeuteten, unterdrückten, vernachlässigten Lumpenproletariern bevölkerter Höllenpfuhl. Sorgfältig schotten sich die Reichen und Mächtigen gegen das Elend ab, das sie selbst schaffen, ziehen hohe Zäune um ihre Prachtvillen, schaffen sich Gesetze, die das Unrecht legitimieren. Die Regierung unterstützt und schützt ausschließlich jene, die durch Wuchermieten und Hungerlöhne die menschenunwürdigen Verhältnisse schaffen und konservieren.

Jeder Kopf hat seinen Preis

In einer solchen traurigen Welt, so Autor Grays Standpunkt, ist nicht „Chokee Bill“ das eigentliche Übel. „The Fiend in Human“ ist stattdessen der Mensch selbst. Bill bleibt nur ein Nachtschattengewächs, das im Dunkel der Ungerechtigkeit gedeiht und dem Zynismus die Krone aufsetzt: Die armen Bürger von London sind endgültig Freiwild für ihre ‚Herren‘ geworden.

Unter diesen Umständen hat das Establishment natürlich keinerlei Interesse daran, einen der ihren entlarvt zu sehen: Die Monster, das sind immer nur Angehörige der niederen Stände. Gray erzählt deshalb keine klassische Kriminalgeschichte, sondern einen Sozial-Thriller: Die Hetzjagd gilt nicht „Chokee Bill“, sondern dem Mann, der ihn auf der Spur ist, weil er dabei unangenehme Wahrheiten aufzurühren droht. Damit verkehrt der Verfasser ironisch den typischen Krimiplot in sein Gegenteil und kreiert eine vielschichtige, oft nachdenklich stimmende, an Überraschungen reiche Handlung.

Menschen im Hamsterrad

Die Abkehr von bewährten aber ermüdenden Krimiklischees setzt sich in der Figurenzeichnung fort. Selten gab es einen kümmerlicheren ‚Helden‘ als Edmund Whitty. Er strampelt wie wild, um in einer Welt ohne soziales Netz den Kopf über Wasser zu halten. Gleichzeitig nimmt sein Alkohol- und Drogenkonsum immer stärker zu, weil er den daraus resultierenden Druck nicht mehr erträgt. Ein Teufelskreis ist in Gang gekommen. Nun ergibt sich die Möglichkeit, aus dem System auszubrechen. Dafür zahlt Whitty einen hohen Preis, aber zum ersten Mal in seinem Leben ist er wirklich ein Journalist, der nach der Wahrheit sucht, statt sie als Instrument für den eigenen kläglichen Wohlstand zu missbrauchen.

„Chokee Bill“ ist das perfekte Produkt seines Umfelds. Moralisch ist er durch und durch verkommen, dabei aber ehrlich: Er weiß um seine Verbrechen und leugnet sie nicht wie seine Standesgenossen. Bill heuchelt nicht einmal Anteilnahme und Interesse an seinen Mitmenschen, er nutzt sie aus, belügt und ermordet sie. London ist für ihn der schönste Ort der Welt, und man versteht ihn. Autor Gray hat einen bemerkenswerten Bösewicht geschaffen: keinen Vorgänger des theatralischen Jack the Ripper, sondern einen Menschen, der hemmungslos böse ist, weil ihm die Gegenwart die Möglichkeit gewährt, seinen dunklen Trieben ungestraft nachzugeben.

Ansonsten handeln Grays Figuren sämtlich nach dem Grundsatz: Niemand schert sich um dich, also nimm‘ dir, was du kriegen kannst, und zertrete diejenigen, die dir in die Quere kommen. Mitleid, Hoffnung, Menschenwürde: In Grays London sind dies Fremdworte, die lächerlich wirken angesichts einer erbarmungslosen Realität. Idealisten gibt es zwar, doch sie werden für ihre Narretei doppelt vom Leben gestraft. Die unteren Schichten vegetieren und sterben wie Vieh, die oberen Schichten fesseln sich selbst in einem Gespinst absurder gesellschaftlicher Regeln und Vorschriften.

Als Leser hat man weder mit den einen noch mit den anderen Mitleid. Gray treibt es uns gründlich aus, zumal es die Betroffenen selbst gar nicht verstehen würden: Der Verfasser verfügt über das seltene Talent, den Alltag einer vergangenen Ära glaubhaft aufleben zu lassen. Die Reichen, die Armen, die Frauen, die Herrschenden und die Geknechteten: Grays London ist für sie die selbstverständliche Realität, eine Alternative können sie sich gar nicht vorstellen. Hat sich dies eigentlich geändert?

Autor

John MacLachlan Gray, geboren 1946, zählt zu den Menschen, die den Ehrentitel „Multitalent“ verdienen. Begonnen hat er noch während des Studiums als Theaterautor, wobei er die Bühne – das Tamahnous – selbst gründete. 1978 schuf Gray mit „Billy Bishop Goes to War“ einen modernen Theaterklassiker, für den er vielfach preisgekrönt und von der Kritik weltweit gefeiert wurde.

1982 überraschte Gray mit dem erfolgreichen Musical „Rock and Roll“, aus dem der mit dem „Oscar“ ausgezeichnete Begleitfilm „The King of Saturday Night“ hervorging. 1989 ging Gray zum Film und schrieb bis 1992 65 satirische Beiträge für die CBC-Serie „The Journal“, in denen er außerdem selbst auftrat. Gleichzeitig verfasste er Kolumnen für diverse Zeitungen.

Wiederum Neuland betrat Gray in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Er versuchte sich als Schriftsteller, was mit dem für ihn schon üblichen Erfolg gewürdigt wurde. Dennoch blieb Grays Werk schmal. Seit 2006 hat der Autor, der übrigens im kanadischen Vancouver lebt, keine weiteren Romane verfasst.

Paperback: 476 Seiten
Originaltitel: The Fiend in Human (London : Century/The Random House Group Ltd. 2003)
Übersetzung: Edith Walter
http://www.heyne-verlag.de

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